10 May 2016

Deutsche und Französische Verwaltungs­gerichtsbarkeit im europäischen Mehrebenensystem: ein Interview mit JEAN-MARC SAUVÉ und KLAUS RENNERT

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrter Herr Vize-Präsident[1], das Aufgabenspektrum der Verwaltungsgerichtsbarkeit reicht heute weit über den nationalen Rechtsrahmen hinaus. Ihre normativen Vorgaben folgen nicht mehr allein aus dem nationalen Recht, sondern auch aus unionsrechtlichen und völkerrechtlichen Vorgaben. Zudem stehen gerade die obersten Verwaltungsgerichte in intensivem Austausch mit europäischen Höchstgerichten, aber auch mit Gerichten anderer Staaten. Für das Rechtssprechungsdreieck zwischen nationalen Verfassungsgerichten, dem EuGH und dem EGMR hat sich das Bild eines kooperativen „Verfassungsgerichtsverbundes“ etabliert. Trifft dieses Bild auch für das Verhältnis zwischen Conseil d’Etat und den europäischen Gerichten zu?

Jean-Marc Sauvé: Der Conseil d’Etat hat in der Tat die stets komplexe Aufgabe, in seinem Zuständigkeitsbereich als oberstes Verwaltungsgericht die französische Verfassung, die EMRK und das Unionsrecht miteinander in Einklang zu bringen. Wir befinden uns daher sogar im Herzen dieses Dreiecksverhältnisses. Etwas mehr als 10% unserer Entscheidungen betreffen die Anwendung der EMRK. Das Gleiche gilt für das Unionsrecht. Problematisch ist, dass wir mangels Vorgabe eines eindeutigen Hierarchieverhältnisses in der Pflicht sind, die Balance zwischen diesen verschiedenen Rechtsordnungen im Nachhinein zu suchen und zu formen.

Wie erfolgt diese Suche konkret?

Jean-Marc Sauvé: Ein anschauliches Beispiel aus unserer Praxis liefert die Entscheidung aus dem Jahr 2008 über die Umsetzung der zweiten EU-Anti-Geldwäsche-Richtlinie, in der wir eine mögliche Verletzung von Artikel 6 und 8 EMRK durch diese Richtlinie prüfen sollten und sie deshalb im Lichte der EMRK ausgelegt haben. Aber auch im Hinblick auf das Verhältnis zwischen dem Unionsrecht und der französischen Verfassung sind wir bemüht, frontale Konflikte zu vermeiden. In unserer Leitentscheidung „Arcelor“ aus dem Jahr 2007 haben wir die Grundprinzipien unserer Rechtsprechung festgelegt. Es handelte sich um die Frage, ob das Dekret zur Umsetzung der Emissionshandelsrichtlinie insbesondere den verfassungsrechtlichen Gleichheitsgrundsatz verletzt.

Wie stellen sich diese Grundprinzipien im Einzelnen dar?

Jean-Marc Sauvé: In solchen Fällen erfolgt unsere Prüfung in zwei Schritten. Zunächst klären wir, ob auf Ebene des Unionsrechts ein äquivalenter Grundsatz existiert. Wenn die Äquivalenzprüfung bejaht wird und keine ernsthaften Zweifel in Bezug auf die Unionsrechtskonformität der Richtlinie bestehen, wird der Antrag abgewiesen. Treten stattdessen – wie im damaligen Fall geschehen – Zweifel auf, erfolgt eine Vorlage an den EuGH. Dieser sah damals allerdings keine Verletzung des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes durch die Nichteinbeziehung des Kunststoff‑ und Aluminiumsektors (im Gegensatz zum Stahlsektor) in den Anwendungsbereich der Richtlinie als gegeben an. Das haben wir zur Kenntnis genommen und anschließend unsere Verfassung im Lichte der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts und der Rechtsprechung des EuGH ausgelegt. Wäre die Suche nach einem funktionalen Äquivalent erfolglos gewesen, hätten wir freilich das Dekret am Maßstab der französischen Verfassung geprüft …

… und damit möglicherweise der französischen Verfassung Vorrang gegenüber dem Unionsrecht eingeräumt?

Jean-Marc Sauvé: „Arcelor“ ist, wenn Sie wollen, unsere „Solange-Rechtsprechung“. Frankreich nimmt aktiv und freiwillig an supranationalen Organisationen teil, die mehr und mehr mit den nationalen Rechtsordnungen verschränkt sind. Aber die französische Verfassung behält, im nationalen Recht jedenfalls, ihren Vorrang vor dem supranationalen Recht. Das haben wir 1998 in der Entscheidung „Sarran“ dargelegt und erst neulich in der Entscheidung vom 27. Oktober 2015 über die Vereinbarkeit der Regionalreform mit der europäischen Charta der lokalen Selbstverwaltung nochmals bestätigt. Als Richter des Conseil d’Etat ist es nicht unsere Aufgabe, über die mögliche Verletzung eines völkerrechtlichen Vertrags durch die französische Verfassung zu entscheiden. Vielmehr sind wir zunächst einmal Diener der französischen Verfassung. Auf ihr beruht unsere Legitimität.

Sind Konflikte also unvermeidbar?

Jean-Marc Sauvé: Eine Anmerkung scheint mir wichtig, wenn wir über die Verantwortung des Richters im Hinblick auf das Verhältnis zwischen staatlichem und überstaatlichem Recht nachdenken. Um die Zusammenarbeit zwischen europäischen und nationalen Gerichten zu erleichtern, verfügen wir bereits über ausgefeilte Verfahren und Grundprinzipien wie die unionsrechtskonforme Auslegung oder die Gewährung bestimmter nationaler Ermessensspielräume. Trotzdem haben wir in solch komplexen Fällen nie eine klare Lösung parat. Vielleicht nicht jeden Tag, aber wohl jedes Quartal könnten wir theoretisch einen gravierenden Störfall verursachen. Unsere Hauptverantwortung liegt deshalb gerade darin zu vermeiden, dass durch unreflektiertes Handeln Konflikte zwischen unserer nationalen Rechtsordnung und der supranationalen bzw. internationalen Rechtsordnung auftreten. Diese Herausforderung wird mit der zunehmenden Bedeutung der EU-Grundrechtecharta, nicht zuletzt anlässlich der EuGH-Entscheidung Åkerberg Fransson, in den nächsten Jahren noch intensiver und komplexer. Sie ist umso schwerwiegend, als sie mit einer zweiten Herausforderung verbunden ist: Seit nunmehr 40 Jahren verzeichnet die Verwaltungsgerichtsbarkeit in Frankreich steigende Eingangszahlen in Höhe von 6% im Durchschnitt pro Jahr. In diesem konfliktträchtigen Kontext ist die Abwägung zwischen dem Schutz subjektiver Rechte und der Wahrung des Allgemeinwohls deutlich schwieriger geworden.

Wo liegt für Sie, Herr Prof. Rennert, gegenwärtig die größte Herausforderung für das Bundesverwaltungsgericht im Verhältnis zum EuGH?

Klaus Rennert: Es ist sicher eine andere als für Frankreich. Die größte Herausforderung bietet die Frage, inwieweit der europäische Gerichtshof mit den Instrumenten des europäischen Umweltrechts letztlich die Grundkonzeption des subjektiven Rechtsschutzsystems in Frage stellt. Wir müssen ja immer bedenken, dass wir in Deutschland beim Zugang zum Gericht mit dem Erfordernis, dass der Kläger eine Verletzung seiner eigenen subjektiven Rechte geltend machen muss, einen aus europäischer Sicht verengten Korridor haben. Dieser Korridor deckt zwar die gesamte Breite der Grundrechte ab, geht aber nicht wesentlich darüber hinaus. Er erfasst im europäischen Umweltrecht insbesondere nicht das Natur- und Artenschutzrecht.

Besteht hier nicht letztlich ein offener Konflikt mit dem Unionsrecht?

Klaus Rennert: Jedenfalls besteht zwischen beiden Ansätzen ein Spannungsfeld. Wir müssen dabei im Auge behalten, dass das subjektive Rechtsschutzsystem eine sehr hohe Prüfungsdichte ermöglicht. Wir haben in der Überprüfung der subjektiven Rechtsverletzungen ein sehr ausdifferenziertes System der Verhältnismäßigkeit und der Verfahrensgarantien. Diese Tiefe ließe sich etwa in einem komplexen Umweltplanfeststellungsverfahren systemisch nicht ohne weiteres durchhalten, wenn wir die Konzentration auf subjektive Rechte nicht beibehielten.

Würde man die europäischen Verfahrensvorgaben vollends umsetzen, hieße das nicht, dass Sie letztlich signifikant mehr zu prüfen hätten, die Komplexität des Verfahrens also zur echten Herausforderung würde?

Klaus Rennert: Diese Konsequenz liegt in der Tat nahe. Ein Beispiel dafür ist das Verfahren über die Elbvertiefung. Die Frage ist, ob wir dazu genötigt werden, unsere Prüfungsdichte zu reduzieren, um den europäischen Wünschen überhaupt folgen zu können. Wir haben im Vergleich zum Conseil d’Etat fallende Eingangszahlen, aber jedes Verfahren wird so viel komplexer, dass ein einziger Prozess einen ganzen Senat ein halbes Jahr lang auslasten kann. Das ist unser Hauptproblem. Das ist Folge der Aarhus Konvention und wird aufgrund der Interpretation, die der EuGH Mitte Oktober 2015 vorgenommen hat, noch deutlich verstärkt.

Wie bewerten Sie das Verhältnis des Bundesverwaltungsgerichts zum EuGH und zum Bundesverfassungsgericht?

Klaus Rennert: Das Verhältnis zwischen den Fachgerichten und dem Bundesverfassungsgericht hat das Bundesverfassungsgericht sehr früh geklärt. Die Fachgerichte beklagen zwar gelegentlich einen Übergriff des Bundesverfassungsgerichts in die Auslegung des sogenannten einfachen Rechts. Aber das trübt unser Vergnügen im Großen und Ganzen nicht. Das Verhältnis zum EuGH ist demgegenüber noch nicht restlos geklärt. Um nicht missverstanden zu werden: Auch zwischen Luxemburg und Leipzig besteht ein Verhältnis der Kooperation. Jean-Marc Sauvé hat daran erinnert, dass etwa 10% der Entscheidungen des Conseil d’Etat durch das Unionsrecht determiniert sei. Das stimmt für uns mindestens im gleichen Umfang. Ich würde den Prozentsatz sogar eher höher ansetzen. Bestehen Zweifel an der richtigen Auslegung des Unionsrechts, müssen wir ohnehin dem EuGH vorlegen – ein Gebot, das zwar schon sehr lange besteht, in Deutschland aber erst seit etwa 25 Jahren wirklich zur Kenntnis genommen wird. Im Augenblick zählt Deutschland zu den Mitgliedstaaten, die mit am häufigsten nach Luxemburg vorlegen. Eine beträchtliche Zahl der Gesamtheit aller Vorabentscheidungen gehen auf Vorlagen deutscher Gerichte zurück, insbesondere auch der Finanzgerichte. Damit die Kooperation aber nicht allein Feiertagsrhetorik bleibt, würde ich mich allerdings freuen, wenn der Dialog in wirklicher Gegenseitigkeit intensiviert würde und das Diskussionsverhältnis zu Luxemburg sich für beide Seiten ähnlich fruchtbar gestaltete, wie zwischen dem Bundesverwaltungsgericht und dem Conseil d’Etat.

Lassen Sie uns nun einmal über das Verhältnis nationaler oberster Verwaltungsgerichte untereinander sprechen. Warum ist diese Kooperation zwischen den beiden obersten Verwaltungsgerichten wichtig?

Klaus Rennert: Wir befinden uns in Europa im Augenblick in einer Phase, in der sich allmählich ein europäisches allgemeines Verwaltungsrecht herausbildet. Das Verwaltungsrecht der Eigenverwaltung der Europäischen Union ist dabei bislang eher bruchstückhaft und hat sich zunächst anhand der Spezialmaterien entwickelt. Erst in unseren Tagen ist es dabei, sich ein wenig zu systematisieren. Dieser Konsolidierungsprozess des europäischen Verwaltungsrechts sollte nicht als ein Oktroi seitens europäischer Stellen missverstanden werden, sondern als Aufgabe eines Dialoges zwischen den Beteiligten der verschiedenen nationalen Rechtskulturen. Hierbei messe ich der Zusammenarbeit gerade zwischen Frankreich und Deutschland eine erhebliche Bedeutung bei. Denn genuines Europarecht gibt es als solches eher selten. Europarecht ist in aller Regel das Ergebnis eines Niederschlags nationaler Rechtsgedanken. Es wird darauf ankommen, diesen Dialog nicht als Verteidigung von Souveränitätsreservoirs, sondern im Sinne eines echten dialektischen Prozesses zu begreifen und zu organisieren, als Vorgang der „Aufhebung“ des Besseren, hin zu einem guten gemeinsamen Ganzen. Das ist für mich die Philosophie hinter unseren bilateralen Unternehmungen. Deshalb unterstütze ich unsere Kooperation mit dem Conseil d’Etat, die, wie ich das bei dieser Gelegenheit bemerken darf, stets auf einem außerordentlichen hohen Niveau stattfindet.

Jean-Marc Sauvé: Wenn wir miteinander kooperieren, geschieht dies in der Tat aufgrund eines vertieften Austauschbedarfs und nicht, weil wir reiselustig sind! Im Kontext der Globalisierung können unsere nationalen Rechtstraditionen nicht unverändert bleiben. Wir beobachten im Augenblick eine Verflechtung und eine tiefgreifende Umgestaltung der nationalen Rechtsordnungen. Während zum Beispiel Frankreich traditionell mehr auf dem Standpunkt der objektiven Rechtskontrolle stand, hat sich unser Verwaltungsprozessrecht unter dem Einfluss der Rechtsprechung des EGMR und der Rechtsvergleichung allmählich subjektiviert. Die Einführung eines Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes (référé-liberté) oder die Ausweitung der richterlichen Anordnungsbefugnisse illustrieren diese Entwicklung in besonderem Maße. Innerhalb der EU üben die Mitgliedstaaten zahlreiche Kompetenzen gemeinsam aus und wenden somit dasselbe Recht an. Aber auch unabhängig von der Anwendung des Unionsrechts sind unsere Gesellschaften darüber hinaus mit ähnlichen Fragestellungen und Herausforderungen konfrontiert. In der heutigen Welt sollten wir im Grunde keine Entscheidung mehr treffen, ohne die Antworten und Lösungsansätzen unserer europäischen Amtskollegen berücksichtigt zu haben. Das ist jedenfalls meine tiefe Überzeugung.

Französisches und deutsche öffentliches Recht unterscheiden sich in einigen Punkten durchaus in erheblichem Maße. Wie kann angesichts dieser Unterschiede, nicht zuletzt auch Unterschiede beider Rechtskulturen, eine solche Zusammenarbeit dennoch fruchtbar sein?

Rennert: Es ist im Ausgangspunkt richtig, dass man Deutschland und Frankreich geradezu als Idealtypen unterschiedlicher Gestaltung von Verwaltungsrechtspflege auffassen kann. Das Ganze fügt sich in Frankreich in einen Zentralstaat, bei uns in einen Bundesstaat ein. Frankreich hat ein Präsidialsystem, während Deutschland ein parlamentarisches Regierungssystem hat. Frankreich hat ein eher objektives System der gerichtlichen Verwaltungskontrolle, während unser System vom gerichtlichen Schutz subjektiver Rechte ausgeht. Die Liste ließe sich verlängern. Aber in der Aufzählung dieser Unterschiede können wir nicht stehen bleiben. Das haben Sie ja auch in Ihrem rechtsvergleichenden Lehrbuch schön herausgearbeitet. Wir werden nicht zuletzt durch Europa, aber durchaus auch durch die Sachprobleme, die für uns ja häufig die gleichen sind, geradezu zum Dialog gezwungen. Wir stellen fest, dass das französische Verwaltungsprozessrecht sich in Teilen subjektiviert, während unser Rechtsschutzsystem sich objektiviert. Wir bewegen uns aufeinander zu. Wir werden am Ende nicht dasselbe bekommen, aber wir werden von einander lernen, schrittweise. Wir werden sehen, wie weit wir uns trotz des Maßes an Verschiedenheiten in ein gemeinsames europäisches Ganzes fügen können. Aber das muss sich erst im Dialog herausstellen. Was wir dabei brauchen, ist – so denke ich – zweierlei. Das Eine ist Aufgeschlossenheit dem Anderen gegenüber, im Bewusstsein des Eigenen. Und das Zweite ist Zeit. Zeit zur Diskussion. Sie haben vorhin nach der Rolle des Europäischen Gerichtshofs gefragt. Ich habe den Eindruck, dass der Europäische Gerichtshof sich selbst und uns diese Zeit nicht immer lässt, die Diskussion in Ruhe zu führen. Wir brauchen Bildung und Zeit.

Welche konkreten Formen nimmt die Kooperation ihrer beiden Gerichte mittlerweile an?

Jean-Marc Sauvé: Ein multilateraler Austausch zwischen den obersten Verwaltungsgerichten der EU besteht schon seit den sechziger Jahren und wurde im Jahr 2000 mit der Gründung der ACA Europe (Association of Councils of State and Supreme Administrative Jurisdictions of the European Union, Anm. d. Red.) formalisiert. In diesem Rahmen finden regelmäßige Arbeitstreffen und Austausche der Richter statt. Zudem wurden zwei Datenbanken – Dec.Nat und JuriFast – eingerichtet, die unter anderem Entscheidungen des EuGH sowie Entscheidungen nationaler Gerichte, welche die Auslegung von Unionsrecht betreffen, umfassen. Unser deutsch-französischer Dialog hat sich 2009 fest etabliert und geht fachlich sowie persönlich noch einen Schritt weiter. Neben bilateralen Zusammenkünften und einem Richteraustausch werden nunmehr auf Vorschlag von Klaus Rennert dreimal jährlich ausgewählte Entscheidungen des Conseil d’État und des Bundesverwaltungsgerichts übersetzt und mit einer ausführlichen Urteilsanmerkung jeweils in einer deutschen bzw. französischen Fachzeitschrift veröffentlicht. Damit wollen wir das gegenseitige Verständnis der Rechtsprechung unserer beider Institutionen vertiefen und einen rechtsvergleichenden Blick auf die richterliche Arbeitsweise des jeweiligen Gegenübers gewinnen. Zu den Themen von gemeinsamem Interesse zählen beispielsweise die demokratische Legitimation und die gerichtliche Kontrolle selbstständiger Agenturen, die Umweltrechtsbehelfe, die Religionsfreiheit sowie die frühzeitige Öffentlichkeitsbeteiligung bei Großprojekten im Zusammenhang mit der Aarhus-Konvention. Zugleich sollen unsere Diskussionen offen für die Juristengemeinschaft unserer beiden Länder sein. Gerade dieser Austausch mit der vergleichenden Rechtswissenschaft soll nachdrücklich unterstützt werden.

Welchen Einfluss hat die Rechtsvergleichung auf die Rechtsprechung beider Gerichte konkret?

Jean-Marc Sauvé: Die Rechtsvergleichung diktiert uns in keiner Weise die Antworten auf die Fragen, da wir unabhängig und souverän urteilen müssen. Rechtsvergleichung bietet uns vielmehr neue und nützliche Einsichten. Sollten wir uns für eine Lösung entscheiden, die von der Rechtsprechung unserer ausländischen Amtskollegen divergiert, scheint es mir zugleich wichtig, die Gründe dieser Abweichung zu reflektieren. Noch sind unsere Urteile immer knapp verfasst und lassen keine rechtsvergleichenden Hinweise zu. Unsere Urteilsgründe sollten in Zukunft expliziter und ausführlicher dargestellt werden. Das ist immerhin mein Wunsch. Rechtsvergleichende Erkenntnisse fließen aber bereits in erheblichem Umfang in die Schlussanträge der rapporteurs publics (entspricht den Generalanwälten beim EuGH, Anm. d. Red.) ein, die von unserer Neugier und unserem Interesse an der Rechtsvergleichung zeugen. Schauen Sie zum Beispiel die Schlussanträge im Fall von Vincent Lambert an, in denen auf die Rechtsprechung des EGMR sowie anderer nationaler Gerichte ausführlich hingewiesen wird.

Klaus Rennert: Auch für die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist der Einfluss der Rechtsvergleichung mittelbar. Inhaltlich gilt bei uns dasselbe wie in Frankreich. Die Inhalte der fremden Rechtsprechung werden von uns wissenschaftlich aufgearbeitet und vermittels der Ergebnisse der rechtswissenschaftlichen Forschung zur Kenntnis genommen. Von dort aus können sie unsere Rechtsprechung beeinflussen. Nur sitzt der Träger dieses Wissens nicht in unserem Haus. Die Ausgangslage des BVerwG ist anders als die des Conseil d’Etat. Weil wir ein reines Gericht sind, verfügen wir über keine Forschungsabteilung und üben auch keine Beratungsfunktion aus. Deshalb sind wir auf die Rechtswissenschaft angewiesen. Gleichwohl sind wir sehr an rechtsvergleichenden Erkenntnissen interessiert. Nun pflegt die deutsche Rechtsprechung ein besonders enges Verhältnis zur Rechtswissenschaft . Für uns Richter und für unsere wissenschaftlichen Mitarbeiter ist es völlig selbstverständlich, die Ergebnisse der Rechtswissenschaft zur Kenntnis zu nehmen. Bevor wir in eine Verhandlung gehen und ein Urteil verfassen, schreibt der Berichterstatter ein Gutachten. In diesem Gutachten, das nicht veröffentlicht wird, kommen immer häufiger die Erkenntnisse rechtsvergleichender Forschung vor, besonders in Materien, die vom Europarecht beeinflusst sind. Als ich vor zwölf Jahren an das Gericht kam, sprach ich darüber mit einem Kollegen, und dieser meinte noch: „Ich entscheide nach Kommentar und Schluss!“ Das hat sich seitdem sehr geändert, und es wird sich noch weiter ändern. Aber wird sind da – das gebe ich offen zu – noch lange nicht am Ziel unserer Wünsche. Was ich zu dieser Horizonterweiterung beitragen kann, will ich gerne tun.

Sehr geehrter Herr Vize-Präsident, sehr geehrter Herr Präsident, wir danken für dieses Gespräch.

Das Interview haben Aurore Gaillet, Nikolaus Marsch, Yoan Vilain und Mattias Wendel anlässlich der Vorstellung des Lehrbuchs “Französisches und Deutsches Verfassungsrecht: Ein Rechtsvergleich” geführt.

[1] Offiziell ist der Premierminister Präsident des Conseil d’Etat. Den Vorsitz im Conseil d’État führt aber sein Vize-Präsident.


One Comment

  1. Peter Thu 12 May 2016 at 12:18 - Reply

    Danke für dieses äußerst informative Interview.

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