06 November 2020

Die Ärztliche Pflicht zur Kapazitätsausweitung vor der Triage

Angesichts steigender Infektionszahlen und des zunehmenden Bedarfs an Beatmungs- und Intensivbetten für schwer erkrankte Covid-19-Patienten plant die Gesundheitsministerkonferenz derzeit die Einrichtung von zentralen Koordinierungsstellen. Diese sollen im Falle der Überlastung der Intensivstationen in einer Region oder einem Bundesland die Verlegung von Patienten in andere Regionen oder Länder organisieren. Aber auch unabhängig von diesem Worst-Case-Szenario stellt sich die Frage, welche strafbewehrten Pflichten Klinikärzte als Garanten für Leben und Gesundheit ihrer Patienten in einer Pandemiesituation haben. Um eine Strafbarkeit zu vermeiden, könnten Ärzte zur Organisation der Verlegung von Patienten oder zu anderen Maßnahmen zur Erhöhung der Behandlungskapazitäten gezwungen sein, wenn in ihrer Klinik ein Engpass an Beatmungsgeräten oder Intensivbetten besteht.

Als es während der ersten Corona-Welle im Frühjahr auch in vielen europäischen Ländern (unter anderem in England, Italien, Spanien, Frankreich und Schweden) zu einer Überforderung der Gesundheitssysteme durch schwer erkrankte Covid-19 Patienten kam, wurde in der deutschen Strafrechtswissenschaft heftig über die „Beatmungs- und Intensivbetten-Triage“ debattiert. Dabei ging es vorrangig um die Frage, nach welchen Allokationskriterien Ärzte im Falle akuter Knappheit an Beatmungs- und Intensivbetten über die Zuteilung dieser lebensrettenden Behandlungsressourcen zu entscheiden haben, um strafrechtliche Konsequenzen zu vermeiden. Denn bei einer unterlassenen Behandlungsaufnahme kommt eine Strafbarkeit wegen Totschlag durch Unterlassen (§§ 212, 13 StGB) in Betracht. Insbesondere wurde diskutiert, ob die Zuweisung der Beatmungs- und Intensivbetten nur entsprechend der Dringlichkeit der Behandlung zu erfolgen hat oder ob auch den Überlebenschancen des Patienten Bedeutung zukommt.

Heftige Kontroversen löste auch die Problematik aus, ob es strafrechtlich zulässig ist, die Behandlung eines bereits beatmeten oder intensivmedizinisch behandelten Patienten abzubrechen, um die Versorgung eines bislang noch nicht behandelten Patienten mit besseren Überlebenschancen zu ermöglichen (dazu der Beitrag von  Tatjana Hörnle hier und aus ethischer Perspektive von Weyma Lübbe hier).

Bislang vernachlässigt wurde hingegen die Fragestellung, unter welchen Voraussetzungen überhaupt eine „Triage-Situation“ gegeben ist, also eine Notfall-Situation, die aufgrund des akuten Mangels an überlebenswichtigen Behandlungsressourcen unter bestimmten Voraussetzungen zur tödlichen Patientenauswahl berechtigt oder verpflichtet. Es sollte daher geklärt werden, ob und in welchem Umfang Ärzte die (strafbewehrte) Pflicht haben, für eine ausreichende Kapazitätserweiterung zu sorgen, bevor eine Triage-Situation entsteht.

Die Kapazitätsausweitung vor der Triage

Diese Frage hat große praktische Relevanz, wie der Blick in andere Länder (zum Beispiel Frankreich) zeigt. Dort wurde – als die Infektionszahlen den Höhepunkt erreicht hatten – bestimmten Patientengruppen, vor allem Älteren, häufig der Zugang zur lebensrettenden Beatmung und Intensivbehandlung verweigert, ohne dass vorher genau ermittelt wurde, ob nicht doch noch irgendeine Klinik Behandlungskapazitäten hat.

Die deutschen klinisch-ethischen Empfehlungen für die Intensivbetten-Allokation bei akuter Knappheit, die von sieben medizinischen Fachgesellschaften herausgegeben wurden, greifen diese Thematik auf. In deren zweiter Fassung wird betont, dass in Deutschland vor jeder Rationierung der Versuch stehen muss, die lebensrettenden Behandlungsressourcen zu erhöhen. Notfalls eben indem Ressourcen anderer Abteilungen (zum Beispiel der Notaufnahme) genutzt oder Patienten in andere Kliniken verlegt werden.

Diese Klarstellung durch die klinisch-ethischen Empfehlungen ist begrüßenswert. Denn auch aus Perspektive des deutschen Strafrechts muss gelten, dass eine tödliche Patientenauswahl aufgrund akuter Ressourcenknappheit von vornherein auszuscheiden hat, wenn diese nicht wirklich „ultima ratio“ ist. „Ultima ratio“ ist die knappheitsbedingte Vorenthaltung lebensrettender Behandlungsressourcen nur dann, wenn vorher alle geeigneten und gebotenen Maßnahmen zur Kapazitätsausweitung unternommen wurden und gescheitert sind: Die Ressourcen anderer Abteilungen oder anderer Kliniken müssen vorher ausgeschöpft werden. Zusätzlich gibt es weitere Möglichkeiten zur Ressourcenerhöhung, die im Ernstfall ebenfalls genutzt werden müssen: Patienten können vorübergehend im OP-Saal beatmet werden oder ein Beatmungsgerät kann für zwei Patienten gleichzeitig eingesetzt werden.

Die ärztliche Garantenpflicht in der Pandemie

Verzichtet ein Arzt darauf, die gerade aufgezählten Möglichkeiten der Ressourcenerhöhung zu nutzen und verweigert er unter Verweis auf knappe Behandlungsressourcen die überlebensnotwendige Behandlung, so kommt eine Strafbarkeit wegen durch Unterlassen begangenen Totschlags (§§ 212, 13 StGB) in Betracht. Denn die ärztlichen Garantenpflichten für Leben und Gesundheit, die jeder Klinikarzt zugunsten aller in seiner Abteilung befindlichen Patienten innehat, sind darauf gerichtet, alles Mögliche und Zumutbare zu tun, um den tatbestandlichen Erfolg (i.e. Tod des Patienten und/oder negative Auswirkungen auf den Gesundheitszustand) zu verhindern. Klinikärzte sind daher nicht auf den Einsatz derjenigen Behandlungsressourcen beschränkt, die der eigenen Klinik zur Verfügung stehen.

Im Pandemie-Fall sind Ärzte also verpflichtet, Patienten rechtzeitig in ein erreichbares Krankenhaus mit noch vorhandenen Ressourcen zu verlegen. Welche deutschen Kliniken noch Kapazitäten haben, ist mit Hilfe des DIVI-Intensivregisters (Online-Intensivregister der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin) leicht herauszufinden. Der Kreis der für eine Verlegung in Betracht kommenden Kliniken ist groß, wie die Tatsache zeigt, dass auf dem Höhepunkt der Coronakrise französische und italienische Intensivpatienten zur Behandlung nach Deutschland geflogen wurden.

Das bedeutet: Im Falle akuter Knappheit an Behandlungsressourcen ergeben sich aus der ärztlichen Garantenpflicht für das Leben und die Gesundheit des Patienten nicht nur Behandlungspflichten, sondern auch Organisationspflichten, die auf die Organisation von Transport und Verlegung in eine Klinik mit ausreichenden Kapazitäten gerichtet sind.

Diese Pflichten können delegiert werden an Pflegekräfte und Verwaltungspersonal der Klinik, die durch die Übernahme einer solchen Aufgabe ebenfalls in eine (strafbewehrte) Garantenstellung einrücken. Allerdings muss der ärztliche Garant diese Hilfspersonen – angesichts der den Patienten drohenden Lebensgefahren – genau kontrollieren, überwachen und sorgfältig auswählen, um strafrechtliche Konsequenzen für sich zu vermeiden.


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