17 March 2018

Die Rechtsstaatlichkeitskrise vor Gericht: der Anfang vom Ende gegenseitigen Vertrauens

Die Rechtsstaatlichkeitskrise in Polen rückt zunehmend in den Fokus der Gerichte. Das gilt auch für den EuGH und die Gerichte anderer, auf den ersten Blick nicht direkt betroffener EU-Mitgliedstaaten. Eine Entscheidung des irischen High Courts vom 12. März 2018 zeigt die übergreifenden Folgen der „polnischen“ Rechtsstaatlichkeitskrise in bislang ungekannter Prägnanz auf. Sie verdeutlicht, dass die Aushöhlung richterlicher Unabhängigkeit durch die politische Führung eines EU-Mitgliedstaats keineswegs in ihren Wirkungen auf diesen einen Mitgliedstaat begrenzt bleibt. In einem Verfassungsverbund, der von gegenseitiger Öffnung und Vertrauen gerade auch zwischen den Mitgliedstaaten untereinander geprägt ist, sind alle anderen Mitglieder von einer Rechtsstaatlichkeitskrise gleichsam mitbetroffen. Die Botschaft lautet: Die Negation rechtsstaatlicher Grundsätze, wie sie derzeit in Polen zu beobachten ist, rüttelt an den Grundfesten der europäischen Rechtsgemeinschaft. Sie kann als solche auch außerhalb Polens nicht ignoriert werden.

Politische v. gerichtliche Rechtsstaatlichkeitsaufsicht

Diese einleitende Feststellung scheint zunächst nicht mehr als ein Allgemeinplatz zu sein. Indes ist der europarechtliche Zugriff auf nationale Rechtsstaatlichkeitskrisen alles andere als einfach. Gewiss, es gibt das sog. Artikel-7-Verfahren mit seinen verschiedenen Eskalationsstufen. Der Rat kann mit der Mehrheit von 4/5 seiner Mitglieder (die Stimme des betroffenen Staates herausgerechnet) „die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung“ der Grundwerte aus Art. 2 EUV durch einen Mitgliedstaat feststellen. Den für eine solche Feststellung notwendigen begründeten Vorschlag hat die Europäische Kommission im Dezember 2017 unterbreitet, jüngst unterstützt durch eine Entschließung des Europäischen Parlaments. Eine Entscheidung des Rates steht noch aus. Für die Verhängung von Sanktionen, wie die Aussetzung von Stimmrechten, bedarf es jedoch eines einstimmigen Beschlusses des Europäischen Rates (die Stimme des betroffenen Staates wiederum herausgerechnet). Ein solcher Vorstoß scheitert nicht zuletzt dann, wenn sich zwei Mitgliedstaaten gegenseitig eines Vetos versichern, etwa Polen und Ungarn. Darin zeigt sich zugleich das große Dilemma des Artikel-7-Verfahrens. Es ist, wie auch Art. 269 AEUV in prozessrechtlicher Hinsicht zeigt, ein im Kern politisches Verfahren.

Hier bringt die Entscheidung des irischen High Court frischen Wind: Sie adressiert die Rechtsstaatlichkeitskrise aus einer dezidiert gerichtlichen bzw. „rights-based“ Perspektive. Das politische Artikel-7-Verfahren wird in aller Klarheit von der gerichtlichen Evaluierung von Rechtsstaatlichkeitsdefiziten abgegrenzt (Rn. 115-119). Und der europarechtliche Ball wird gezielt dorthin gespielt, wo er hingehört: in das Feld des EuGH.

Der Aufhänger: Europäischer Haftbefehl und gegenseitiges Vertrauen

Konkret entschied der High Court, das Verfahren auszusetzen und dem EuGH die Frage vorzulegen, ob Auslieferungen nach Polen angesichts der dort vorherrschenden systemischen Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit künftig unterbleiben müssen. Hintergrund ist ein auf drei Europäische Haftbefehle gestütztes Auslieferungsersuchen der polnischen Justizbehörden in Bezug auf einen in Irland inhaftierten Drogendealer mit polnischer Staatsangehörigkeit.

Die Auslieferung auf Grundlage eines Europäischen Haftbefehls ist ein Dauerbrenner des europäischen Verfassungsrechts. Zahlreiche nationale Verfassungs- und Höchstgerichte haben sich im Laufe der Zeit damit befasst, das BVerfG eingeschlossen. Auch mehrere berühmte EuGH-Entscheidungen stehen im Zusammenhang mit dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl, darunter die Entscheidungen Melloni und Aranyosi u. Căldăraru. Häufig ging es darum, unter welchen Voraussetzungen die Auslieferung in den ersuchenden EU-Mitgliedstaat infolge von Grundrechten zu unterbleiben hat. Hier zeigt sich die Grundrechtssensibilität des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.

In jüngerer Zeit rückte speziell die Frage in den Vordergrund, wann die auf dem Grundsatz gegenseitigen Vertrauens beruhende Vermutung der mitgliedstaatlichen Grundrechtstreue als widerlegt anzusehen ist. Auch das ist keine einfache Frage. Denn es geht letztlich darum, inwieweit ein Gericht des Mitgliedstaates A im Zuge einer Auslieferungsentscheidung die (künftige) Einhaltung von Unionsgrundrechten in Mitgliedstaat B prüfen soll, also eines Staates, der im Anwendungsbereich des Unionsrechts selbst an Unionsgrundrechte gebunden und zudem Vertragsstaat der EMRK ist.

In Aranyosi u. Căldăraru hat der EuGH ein (temporäres) Auslieferungsverbot jedenfalls dann angenommen, wenn ein nationales Gericht aufgrund qualifizierter Informationen ein echtes Risiko für eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.d. Art. 4 GRCh im Zielstaat feststellt. Bereits der ausliefernde Mitgliedstaat handelt also grundrechtswidrig, wenn er eine Person sehenden Auges qua Auslieferung der Verletzung einer Elementargarantie in einem anderen Mitgliedstaat aussetzt. Das gilt nach dem EuGH vor allem deshalb, weil der mit Art. 3 EMRK wortgleiche Art. 4 GRCh eine absolut, d.h. abwägungsfest geschützte Kerngarantie verbürgt. Die Grundrechtsverantwortlichkeit wird so präventiv auf den ausliefernden Mitgliedstaat vorverlagert. Vergleichbare Überstellungsverbote hat der EuGH auch im Bereich des europäischen Asylrechts anerkannt, wobei deren genaue Voraussetzungen umstritten bleiben – nicht zuletzt angesichts der jüngeren Rechtsprechung. Das betrifft übrigens auch das Verhältnis zur Rechtsprechung des EGMR.

Gegenseitiges Vertrauen und Rechtsstaatlichkeitskrise

Wichtig ist in unserem Zusammenhang, dass der irische High Court gerade kein echtes Risiko einer Verletzung von Art. 4 GRCh durch Polen sieht. Die zentrale Sorge des Gerichts gilt vielmehr dem Umstand, dass durch die systemische Verletzung der Rechtsstaatlichkeit die Grundbedingungen für einen fairen Strafprozess in Polen generell nicht mehr gewährleistet seien. Es geht also, rechtsdogmatisch gewendet, um die Gefahr einer Verletzung des Fair-trial-Grundsatzes nach Art. 47 Abs. 2 GRCh bzw. Art. 6 EMRK. In beeindruckender Gründlichkeit arbeitet der irische High Court die auch auf diesem Blog vielfach behandelten Missstände infolge der polnischen Justizreformen der vergangenen Jahre auf. Dabei stützt sich das Gericht vor allem auf den begründeten Vorschlag der Kommission und die darin enthaltene Dokumentation des gescheiterten Rechtsstaatlichkeitsdialogs sowie die Berichte der Venice Commission (Rn. 46 ff., 122 ff.).

Der High Court lässt keinen Zweifel daran, dass er von einer „absichtlichen, kalkulierten und provokativen gesetzlichen Demontage der Unabhängigkeit der Justiz“ in Polen ausgeht (Rn. 123). Die systemische Dimension der Verletzung rechtsstaatlicher Grundsätze folgt für den High Court dabei aus der Kumulation der zahlreichen polnischen „Justizreformen“ der vergangenen Jahre – rechtswidrige Besetzung höchstrichterlicher Richterstellen, organisatorische Lahmlegung des Verfassungsgerichts, Nichtveröffentlichung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen im Amtsblatt, Ausweitung der Befugnisse des Justizministers eingedenk disziplinarischer Durchgriffsbefugnisse und der Personalunion mit dem Generalstaatsanwalt,  usf.

Grundrechtliches Auslieferungsverbot?

Kann aus alledem aber ein grundrechtliches Auslieferungsverbot im konkret-individuellen Fall abgeleitet werden? Das ist die entscheidende Frage, die der EuGH nun beantworten muss. Die Schwierigkeiten des Ansatzes des High Courts zeigen sich erst auf den zweiten Blick. Sein dezidiert im Fair-trial-Grundsatz wurzelnder und somit grundrechtlich radizierter Ansatz (vgl. Rn. 41 ff., 121) könnte sich als Achillesferse erweisen.

Es ist schon fraglich, ob die in der bisherigen EuGH-Rechtsprechung aufgestellten Voraussetzungen für ein Auslieferungsverbot – ihre Übertragbarkeit auf den vorliegenden Fall einmal vorausgesetzt – vorliegend überhaupt erfüllt sind. In Aranyosi u. Căldăraru gab der EuGH in Bezug auf Art. 4 GRCh (!) einen zweistufigen Test vor. In einem ersten Schritt müssen qualifizierte Informationen die Annahme „systemischer oder allgemeiner“ Mängel belegen. Ist eine solche Gefahr aufgrund genereller, über den Einzelfall hinausgehender Umstände belegt, muss in einem zweiten Schritt geprüft werden, ob und wie sich dieses abstrakt-generelle Risiko auch im konkreten Fall individuell realisieren kann. Genau das aber ist im Ausgangsfall keineswegs gesichert.

Deshalb regt der High Court explizit an, von Aranyosi u. Căldăraru dergestalt abzuweichen, dass dem Betroffenen nicht die Beweislast darüber aufgebürdet werden dürfe, wie sich die massiven Defizite des Justizsystems konkret auf seinen individuellen Fall auswirken (Rn. 141 f.). Das leuchtet insoweit ein, als in einem Justizsystem, in dem ein mit Disziplinarrechten gegenüber der Richterschaft ausgestatteter Justizminister zugleich die oberste Strafverfolgungsbehörde ist, letztlich kein Strafverfahren mehr vor willkürlichen Übergriffen der Politik sicher ist (vgl. Rn. 128).

Die Frage bleibt aber, ob der EuGH im Bereich eines nicht-abwägungsfesten Grundrechts (Art. 47 Abs. 2 GRCh) weniger strenge Anforderungen an ein Auslieferungsverbot stellen wird, als im Bereich eines abwägungsfesten (Art. 4 GRCh). Daran bestehen nicht nur wegen der Strukturverschiedenheit beider Normen Zweifel. Ein beim Fair-trial-Grundsatz ansetzendes Überstellungsverbot müsste nämlich auch konsequenterweise in anderen Bereichen jenseits der Rechtsstaatlichkeitskrise greifen. Dabei besteht stets die Gefahr, die Vorverlagerung des Grundrechtsschutzes auf den überstellenden bzw. ausliefernden Staaten zu überdehnen und hierdurch falsche Anreizstrukturen zu setzen. Das zeigt sich besonders deutlich im Asylrecht. Dehnte man die Vorverlagerung des Grundrechtsschutzes dort unverhältnismäßig weit aus,  hätte es der „Problemstaat“ in der Hand, die ihm zukommende grundrechtliche Primärverantwortung (z.B. für die Behandlung von Asylantragstellern) durch Absenkung der eigenen Standards auf andere Staaten abzuwälzen. Eine grundrechtliche Vorverlagerung muss daher die Ausnahme bleiben. Deshalb erscheint es auch eher unwahrscheinlich, dass der EuGH einen Weg einschlagen wird, der zu einem allgemein am Fair-trial-Grundsatz ansetzenden Auslieferungsverbot führt.

Gegen eine Übertragung der Art.-4-GRCh-Rechtsprechung auf Art. 47 Abs. 2 GRCh spricht zudem, dass selbst der EGMR ein auf Art. 6 EMRK gestütztes Auslieferungsverbot nur unter engsten Voraussetzungen anerkennt, nämlich nur im Falle einer „offenkundigen Verweigerung eines fairen Verfahrens“ (flagrant denial of justice). Darin kommt nicht zuletzt der qualitative Unterschied zwischen Art. 6 EMRK und Art. 3 EMRK zum Ausdruck. Der High Court hat das Problem gesehen, gibt aber im Zuge eines distinguishing der bisherigen Rechtsprechung zu erkennen, dass diese Schwelle seiner Auffassung nach vorliegend erreicht sei (Rn.  u. 138-140).

Es würde deshalb nicht verwundern, wenn der EuGH in seiner Antwort eine gewisse Vorsicht hinsichtlich eines auf den Fair-trial-Grundsatz bezogenes Auslieferungsverbot an den Tag legen würde.

Auslieferungsverbot wegen Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV?

Mit seiner bahnbrechenden Entscheidung in Sachen Associação Sindical dos Juízes Portugueses steht dem EuGH aber ohnehin ein passgenauerer Ansatz zur Verfügung. In dieser (erst zwei Wochen alten) Entscheidung, die der irische High Court noch nicht ausdrücklich rezipiert hat, stellte der EuGH die grundlegende Bedeutung der richterlichen Unabhängigkeit nationaler Gerichte als Gelingensbedingung der europäischen Rechtsgemeinschaft insgesamt heraus.

Normativer Anknüpfungspunkt ist Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV. Danach schaffen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Rechtsbehelfe, um einen wirksamen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen zu gewährleisten. Unter Zusammenführung zahlreicher Rechtsprechungslinien machte der EuGH nunmehr deutlich, dass der in Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV kondensierte allgemeine Rechtsgrundsatz gerade auch die Unabhängigkeit der nationalen Gerichte garantiert, die u.a. die Nichtabsetzbarkeit der Richter, die operative Autonomie und den Schutz vor äußerem Druck umfasst. Zwar kam die Entscheidung vom Ergebnis her noch eher unspektakulär daher: Eine Verletzung von Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV durch das streitgegenständliche portugiesische Sparprogramm vermochte der EuGH nicht zu erkennen. Entscheidend ist aber der über Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV eröffnete Zugriff des EuGH auf die Gewährleistung der richterlichen Unabhängigkeit auf nationaler Ebene. Das wird nicht nur für die Kommission im Kontext von Vertragsverletzungen interessant, sondern, wie der vorliegende Fall zeigt, auch für Vorabentscheidungsverfahren.

Natürlich steht Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV in enger systematischer Verbindung zu Art. 47 Abs. 2 GRCh, was auch der EuGH betont. Dessen ungeachtet fokussiert der neue Ansatz des EuGH aber in spezifischer Weise auf die richterliche Unabhängigkeit als Grundbedingung für ein funktionierendes Gerichtssystem im europäischen Verfassungsverbund insgesamt. Anders gesagt, der über Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV eröffnete Kontrollmaßstab ist ungleich passgenauer auf die systemischen Probleme der Rechtsstaatlichkeitskrise in Polen und anderorts zugeschnitten als die allgemein am Fair-trial-Grundsatz ansetzende Argumentation.

Auch wenn sich der irische High Court noch nicht ausdrücklich auf die neue Rechtsprechung des EuGH bezieht, nimmt er deren Grundton doch bereits auf: Die Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze ist conditio sine qua non für gegenseitiges Vertrauen (Rn. 136). Wo dies nicht mehr gegeben ist, wird der justiziellen Kooperation innerhalb der EU ihre Grundlage entzogen. Es darf als wahrscheinlich gelten, dass der EuGH das im Ergebnis auch so sehen wird.

Fazit

Der große Verdienst der Entscheidung des irischen High Courts ist es, die Rechtsstaatlichkeitskrise aus einer dezidiert gerichtlichen, rechtsbasierten Perspektive zu adressieren und mit dem Problemfeld gegenseitigen Vertrauens zu verknüpfen. Es spricht viel dafür, dass sich die irische Vorlage als Anfang vom Ende des bis dato vorausgesetzten Vertrauens der EU-Mitgliedstaaten in die Integrität des polnischen Rechtsstaates erweisen wird. Dafür war es höchste Zeit.


6 Comments

  1. WB Sun 18 Mar 2018 at 06:27 - Reply

    Interessanter Artikel. Der EGMR-Link im Absatz zu Aranyosi u. Căldăraru führt momentan leider nur zu 400.

    • Mattias Wendel Sun 18 Mar 2018 at 12:23 - Reply

      Vielen Dank für das Feedback und den Hinweis – Link wurde aktualisiert.

  2. Stud. Ha. Mon 19 Mar 2018 at 07:55 - Reply

    Schöner Beitrag.
    Interessant wäre in diesem Zusammenhang die Frage, inwieweit eine etwaige Vertragsverletzung mit der Vertrauensfrage korrespondiert. Die Vertragsverletzung durch einen Mitgliedsstaat tangiert wie in diesem Beitrag angeklungen die Geschäftsgrundlage was zu einer clausula rebus sic stantibus führen könnte. Ist Inhalt der Vertragsverletzung die Rechtstsaatlichkeit, so könnte dies Indiz für die fehlende Grundrechtstreue sein.

  3. Dr. Monika Ende Tue 14 Aug 2018 at 12:26 - Reply

    Sehr geehrter Herr Professor Wendel,

    herzlichen Dank dafür, dass Sie ein so aktuelles und rechtlich schwieriges Thema so klar akzentuiert dargestellt haben.
    Als Juristin kann ich nicht beurteilen, in wie weit das Thema für Laien verständlich ist.
    Für mich aber ist die präzise Erörterung äußerst hilfreich.

    Sehen Sie es mir bitte mach, wenn mich studentische Fragen stets zu Antworten reizen.
    Kann ein Mitgliedstaat feststellen, dass die clausula rebus sic stantibus des Unionsvertrages für einen anderen Mitgliedstaat entfallen ist?
    Ich denke, soweit wollte der EuGH nicht gehen.
    Das muss er gegebenenfalls selbst im Wege des Vertragsverletzungsverfahrens feststellen. Das hat sehr weitreichende Konsequenzen, wenn nicht gleichzeitig Art. 7 EUV durch den Ministerrat angewandt wird, was derzeit wegen des Einstimmigkeitserfordernis nicht möglich ist.
    Damit würde die Frage nach dem institutionellen Gleichgewicht virulent.
    Der EiGH verbündet sich mit der Europäischen Kommission und dem Europäischen Parlament gegen einen handlungsunfähigen Ministerrat. Das ist in der Tat noch nie dagewesen.
    Gleichzeitig ruft er den Individualrechtsschutz des Unionsbürgers/in auf den Plan und gibt im Wege eines gemeineiropäischen ordre Public die Einzelfallprüfung an das mitgliedstaatliche Gericht zurück.
    Der gemeineiropäische ordre Public kann zur Unanwendbarkeit der Norm des anderen Mitgliedstaates führen.
    Hier ist es das Auslieferungsverfahren.
    Es zeigt sich deutlich wie tief die Krise ist, in der sich die Europäische Union derzeit befindet.

  4. Dr. Monika Ende Tue 14 Aug 2018 at 12:29 - Reply

    Korrektur Rechtschreibfehler:

    gemeineuropäischer ordre public

  5. Dr. Monika Ende Frankfurt am Main Wed 15 Aug 2018 at 10:32 - Reply

    clausula rebus sic stantibus in particularis

    Ich denke, der EuGH wird nicht gegen den Ministerrat als solchen agieren. Dies wäre in der Tat ultra vires.
    Diese Gefahr bestand niemals und ist auch jetzt nicht gegeben.

    Der EuGH versucht vielmehr, mit blumigen Worten, die bestehende Mehrheit der demokratischen Mitgliedstaaten dazu aufzufordern, das volle rechtliche Instrumentarium des Art. EUV auszuschöpfen und nicht vor dem Einstimmigkeitserfordernis des Art.7 Abs. 2 EUV und damit vor dessen missbräuchlicher Nutzung zu kapitulieren.
    Dies ist mein Eindruck beim Lesen des EuGH Urteils in der Rs. Celmer.

    Art. 7 EUV bietet weitgehende rechtliche Handlungsmöglichkeiten mit unterschiedlichen Akteuren und Mehrheiten.
    Hier ist in der Tat der Ansatz über den neu nachgedacht werden muss.
    Das Zusammenspiel der demokratischen EU Institutionen und Mitgliedstaaten zur Wahrung der die Europäische Union tragenden und rechts fortbildenden Grundsätze des Art. 2 EUV.

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