23 July 2020

#Ehrenmann: Gesellschaftliche Vielfalt in der Lehre

Die Metamorphose von der Bonner zur neuen Berliner Republik mag ein passendes Sinnbild dafür sein, wie drastisch sich in vielerlei Hinsicht die gesellschaftlichen Realitäten im neuen Jahrtausend gewandelt haben. Viele Aspekte dieses Wandels, die Konfrontation mit und die Öffnung für Vielfalt haben gesellschaftliche Debatten und politische Aushandlungsprozesse ausgelöst, die oft mit den Mitteln des Rechts geführt und maßgeblich von der Rechtswissenschaft begleitet wurden, und die sich im Recht niedergeschlagen haben. Auch die Studierenden der Rechtswissenschaften sind spürbar vielfältiger geworden. 

Wandel des Rechts

Angesichts dieser Umstände musste sich auch die Ausbildung an den juristischen Fakultäten verändern; nicht nur, soweit sich die Gegenstände des Rechts gewandelt, die Dogmatik, die Rechtsprechung und das rechtswissenschaftliche Schrifttum sich weiterentwickelt oder weil Interdisziplinarität und Internationalität wissenschaftspolitisch an Bedeutung gewonnen haben, son­dern tiefgreifender, weil sich die mit den Mitteln des Rechts als Instrument zur Verhaltenssteuerung zu bewältigenden Konfliktlösungs- und Koordinationsaufgaben verändert haben. Das gilt für das gesamte Studium, auch wenn mein Augenmerk im Besonderen dem Verfassungs- und Verwaltungsrecht gilt.

Organe der Rechtspflege

Nicht nur, aber natürlich vor allem dort, wo in den sog. „klassischen“ juristischen Studiengängen die Universitäten an der (Aus-)Bildung von Studierenden auf dem Weg zu Volljurist*innen mitwirken, die schließlich als Richter*innen, Staats- oder Rechtsanwält*innen oder Verwaltungsjurist*innen zu „Organen der Rechtspflege“ entwickelt werden sollen, muss daher die Ausbildung den geschilderten gesellschaftlichen Wandel angemessen reflektieren. Denn wie niemand anderem in unserer Ordnung sind diesen Jurist*innen – und damit jenen, die sie ausbilden – Pflege, Entwicklung und Schutz unseres Rechtsstaates anvertraut, der das Rückgrat unserer freiheitlichen und demokratischen Ordnung bildet. In diesem Sinne sind die hier vorgestellten Überlegungen einerseits deskriptive Schilderung dessen, was ich vielfach in der Lehre beobachte, zugleich aber auch normative Forderung, was gute rechtswissenschaftliche Lehre heute meines Erachtens leisten muss.

Verständnisbrücken zwischen Mehrheiten und Minderheiten

Das Funktionieren unserer freiheitlichen, demokratischen Ordnung hängt von der Rechtstreue und damit von der freiwilligen, intrinsisch motivierten Rechtsbefolgungsbereitschaft aller Mitmenschen ab, denn wir können das Recht nur punktuell zwangsweise durchsetzen. Die wichtigste Determinante für diese Rechtsbefolgungsbereitschaft ist Akzeptanz – der politischen Ordnung und ihrer Institutionen im Allgemeinen, des Rechts im Besonderen. Akzeptanz ist hier eine subjektive Einstellung, die sich vor allem aus intersubjektiv objektivierbaren Gerechtigkeitserfahrungen mit staatlichen Institutionen speist. Empirische Studien der Sozialpsychologie zeigen: je höher das Vertrauen in Institutionen wie Justiz und Polizei, desto ausgeprägter die Normbefolgungsbereitschaft. Die Gerechtigkeitserfahrungen stehen im Spannungsverhältnis zweier Achtungsansprüche: einerseits des Anspruchs einer Mehrheit, dass demokratische Entscheidungen respektiert werden, andererseits des Anspruchs einer Minderheit, dass ihre Freiheit gewahrt bleibt. Die Gerechtigkeitserfahrung ist damit stark von der jeweiligen Perspektive (und als solche auch von einem self-serving bias) geprägt. Akzeptanz und damit Rechtstreue können daher vor allem durch ein Verständnis der unterschiedlichen Perspektiven, mithin eine Weitung des Horizonts, durch Kontextualisierung und durch ein Gespür der vom Recht zu lösenden Konfliktlagen gesteigert werden; kurzum: durch juristische Bildung. Das müssen Organe der Rechtspflege leisten, und deshalb müssen angehende Jurist*innen auf diese Aufgabe vorbereitet, muss ihnen dieses Verständnis vermittelt werden.

Das wird zwar dadurch erleichtert, dass man angesichts der zunehmenden sozialen Vielfalt und Fragmentierung nicht mehr von „einer“ Mehrheit ausgehen kann; dass heute vielmehr jede*r Minderheitserfahrungen gemacht hat, an die man auch in der Lehre anknüpfen kann. Gerade vormalige (oft: vermeintliche bzw. kommunikative) Mehrheitspositionen mögen zwar noch prominent sein, sind aber inzwischen vielfach stark unter Druck geraten (was für manche*n eine völlig neue, gewöhnungsbedürftige Erfahrung ist). Mehrheits- und Minderheitspositionen werden zunehmend situativ. Gleichzeitig darf die Auflösung einer klaren Mehrheit nicht darüber hinwegtäuschen, dass es noch immer strukturell benachteiligte Gruppen gibt, die heute auch in den Hörsälen sichtbarer werden.

Mehrheitsperspektiven: Demokratie-Fokus

Die Mehrheitsperspektiven legen ihren Fokus auf das demokratische Moment des Rechtsstaats: Was eine Mehrheit in den dafür vorgesehenen Verfahren beschlossen hat, ist Recht; daran muss man sich halten, und das muss auch durchgesetzt werden. Das fällt Menschen leichter, die keine negativen Gerechtigkeitserfahrungen mit staatlichen Institutionen gemacht haben. Bei jenen Studierenden, die etwa Diskriminierungserfahrungen seitens der Polizei gemacht haben, muss dagegen – auch bei angehenden Jurist*innen – oftmals erst um ein Grundvertrauen geworben und das Verständnis dafür gestärkt werden, dass staatliche Amtsträger*innen sich ganz überwiegend gesetzestreu verhalten und rechtmäßige Entscheidungen treffen (wollen). Es geht mithin um die Vermittlung einer Verallgemeinerung des Postulats der „rechtstreuen Verwaltung“ (auch als „Ehrenmann-Theorie“ bezeichnet  – was angesichts ähnlicher Begriffe in der Jugendsprache regelmäßig zu Heiterkeit im Hörsaal führt). Umgekehrt ist die in der Regel Empathie auslösende Einsicht wertvoll, dass es bei den Kommiliton*innen vielfältige Diskriminierungserfahrungen gibt, die oftmals als herabwürdigend und verletzend erlebt werden.

Minderheitsperspektiven — Freiheits-Fokus

Der Fokus der Minderheitsperspektiven liegt auf der rechtsstaatlichen Achtung individueller Freiheitspositionen, für deren Beschränkung die jeweilige Mehrheit einer Rechtfertigung bedarf. Um die Akzeptanz der Ordnung zu stärken, müssen die angehenden Jurist*innen befähigt werden, das innerhalb der Rechtsordnung zur Verfügung stehende Instrumentarium zur Abwehr ungerechtfertigter Eingriffe gegen Diskriminierungen oder andere fundamentale Ungerechtigkeiten wirksam in Stellung zu bringen; denn vielfach resultiert das Gefühl der Herabsetzung nicht zuletzt daraus, dass das diskriminierende Verhalten mit der strukturellen Benachteiligung dergestalt verwoben ist, dass sich die Betroffenen in der jeweiligen Situation nicht effektiv zur Wehr setzen können (Macht/Ohnmacht). Häufig sind solche Ungerechtigkeitserfahrungen für Betroffene Ursache und starke Motivation, Jura zu studieren. Als ich einmal berichtete, wie ich mich in einer für meine Begriffe diskriminierenden Polizeikontrolle gewehrt und später mittels Dienstaufsichtsbeschwerden gegen die Beamtin und ihren Kollegen vorgegangen war (was mir letztlich eine Einladung zum Polizeipräsidenten einbrachte, bei der er auf die Rücknahme der Beschwerden hinwirken, sich im Gegenzug allerdings einer Debatte mit unseren sehr vielfältigen Studierenden nicht stellen wollte) und welche Möglichkeiten sich böten, wenn sich diese als erfolglos erwiesen, entspann sich eine lebhafte und kluge Debatte unter allen Studierenden. Gerade die Ermächtigung und die Erfahrung, sich aus einer strukturell unterlegenen Position mit den Mitteln des Rechts stärken und gegen Unrecht, gegen Freiheitsbeschränkungen, wirkungsvoll durchsetzen zu können, vermag zur Steigerung der Akzeptanz unserer Ordnung beizutragen. Im Unterricht zu vermitteln, wie man etwa gegen eine nicht rechtstreu, sondern diskriminierend agierende Verwaltung vorgeht, ist daher gerade kein staatszersetzender Akt, sondern stabilisiert im Gegenteil das Fundament unserer Ordnung.

Privilegien

Jenseits aller Überlegungen um „Mehrheiten“ und „Minderheiten“ ist es angezeigt, die Sinne dafür zu schärfen, wie privilegiert wir alle, die wir uns im Hörsaal versammeln, sind – und zu welchem Kreis auch die Studierenden ganz überwiegend in ihrer späteren Berufsausübung zählen werden. Nicht, um Dünkel und Hoffart zu nähren; sondern um zu verdeutlichen, wieviel von dem, was wir „haben“, „können“ und „sind“ uns in die Wiege gelegt wurde, ohne dass wir es in irgendeiner Form „verdient“ hätten; und um zu verdeutlichen, mit welcher besonderen Verantwortung die herausgehobene Stellung als „Organ der Rechtspflege“, als Hüter*innen des Rechtsstaates, in einer vielfältigen, pluralen Gesellschaft einhergeht. Zur Illustration eignen sich Materialien aus der Antidiskriminierungspädagogik (etwa verschiedene Varianten von „Privilegien-Tests“) ebenso wie Exkurse ins Asyl- und Migrationsrecht oder Erwägungen zur Tödlichkeit von – letztlich rechtlich imaginierten – Staatsgrenzen, deren Konstruktion drastische Folgen in der physischen Wirklichkeit zu zeitigen vermag.

Vorbild

Überlegungen zum Umgang mit gesellschaftlicher Vielfalt im Hörsaal blieben unvollständig, wenn nicht erwähnt würde, welch prägende Rolle – gewollt oder nicht – den Lehrenden im Hörsaal zukommt. Ich denke, die Lehrenden sind sich ihres Einflusses bewusst und nutzen ihn auch gern; aber wir reflektieren ihn vielleicht zu selten, und wir sprechen wenig darüber. Verhalten wir uns vorbildlich? Welche der Veranschaulichung dienende Anekdote ist zugleich unterhaltsam und appelliert an das Hehre in den Studierenden? Welche fördert Statusdenken oder Überheblichkeit, bedient Stereotype? So bewusst wir uns unserer Rolle sind (und so wenig Reflexion Spontaneität und Authentizität einschränken soll), so unbedacht gehen wir vielleicht manchmal mit dieser Verantwortung um.

Vorbild kann man schließlich auch im Sinne eines role models sein – sei es im Hörsaal, in praktischen Studienzeiten, im Referendardienst oder in Prüfungen. In der sozial- und kognitionspsychologischen Literatur, auch in der sozialen Arbeit, ist die Bedeutung solcher Vorbilder etabliert. Insofern ist es jedenfalls für Jurist*innen ein Verlust, wenn – dem Vernehmen nach – 2015 der seinerzeitig in Nordrhein-Westfalen einzige Prüfer im zweiten Staatsexamen mit Migrationshintergrund seine Prüfertätigkeit aufgab – freilich um Oberbürgermeister der Bundesstadt Bonn zu werden.

Prüfungen

Das ist eine recht krude Überleitung zum letzten Aspekt, den ich in diesem Zusammenhang anschneiden will: die Rolle von Prüfungen. Es ist verschiedentlich – für juristische Examina wie für andere Prüfungen – gezeigt worden, welchen Effekt Geschlecht und Herkunft auf Prüfungsergebnisse haben können. Dabei scheint mir wichtig hervorzuheben, dass diese Effekte natürlich mitnichten (allein) dem Prüfungsverfahrens geschuldet sind; vielmehr sind sie Resultat der gesamten Bildungsbiographie der Prüflinge, beim Kindergarten angefangen – und dazu gehört natürlich auch das, was wir an den Universitäten verantworten. Gerade die Universitäten sind in besonderem Maße gefordert, Bildungsgerechtigkeit herzustellen. Das beginnt beim Umgang mit Vielfalt im Hörsaal und endet lange nicht bei den Abschlussprüfungen.

Aber es ist: Ehrensache.


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