27 April 2018

Ein Recht auf Rehabilitation für Folteropfer oder: Wenn der EuGH die Flüchtlingseigen­schaft vergisst

Schwer kranke Drittstaatsangehörige erhalten nur dann Schutz vor Abschiebung, wenn sie mangels medizinischer Behandlung im Heimatstaat eines qualvollen Todes sterben würden:  So jedenfalls war lange die Rechtsprechung des EGMR. Mittlerweile hat dieser die Voraussetzungen für Schutz aufgrund gesundheitlicher Gründe unter Art. 3 EMRK zwar etwas gelockert. Subsidiären Schutz gibt es dafür aber in der Regel immer noch nicht, denn Art. 15 Bst. b Qualifikationsrichtlinie (QRL), welcher Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung als eine von drei möglichen Tatbestandsvoraussetzung für die Zuerkennung subsidiären Schutzes aufstellt, verlangt nach der bisherigen Rechtsprechung des EuGH eine individualisierte Gefahr, so dass ein „Fehlen einer angemessenen Behandlung“ im Herkunftsland, sofern keine absichtliche Verweigerung vorliegt, allein nicht ausreicht, um subsidiären Schutz zu rechtfertigen.

Der EuGH hat nun im Vorabentscheidungsverfahren MP gegen Secretary of State for the Home Department am 24. April 2018 seine Rechtsprechung aktualisiert und für Folteropfer, die an schweren psychischen Folgeschäden leiden und in ihrem Heimatstaat keine adäquate Behandlung erhalten können, die Anforderungen an die Verfügbarkeit medizinischer Behandlung im Herkunftsstaat herabgesetzt. Das Urteil stellt somit eine Öffnung gegenüber der bisherigen Praxis dar und kann m.E. auch auf andere Gruppen von Opfern schwerer Menschenrechtsverletzungen übertragen werden. So richtig glücklich macht das Urteil dennoch nicht, denn es scheint, dass der EuGH und das vorlegende Gericht mit ihrem Fokus auf den subsidiären Schutz bei gesundheitlichen Beeinträchtigungen die weit offen stehende Tür zum Flüchtlingsschutz für diese Personen übersehen haben.

Das Urteil

Dem Vorabentscheidungsverfahren zugrunde liegt der Sachverhalt eines sri-lankischen Staatsangehörigen, MP, der 2009 im Vereinigten Königreich einen Asylantrag gestellt hatte mit der Begründung, dass er von den sri-lankischen Sicherheitskräften wegen seiner Zugehörigkeit zu den «Liberation Tigers of Tamil Eelam» (LTTE) inhaftiert und gefoltert worden war und mittels medizinischer Gutachten belegen konnte, dass er an einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung und einer schweren Depression litt und hochgradig suizidgefährdet war. Zudem schien er ernsthaft entschlossen, sich im Fall einer Rückschiebung nach Sri Lanka das Leben zu nehmen. Der Asylantrag wurde abgelehnt, da die die Behörden davon ausgingen, dass die Folterungen bereits mehrere Jahre zurücklagen und MP bei einer Rückkehr nach Sri Lanka keine erneuten Misshandlungen durch die sri-lankischen Behörden mehr zu befürchten hatte. Strittig war die Zuerkennung subsidiären Schutzes, da seine psychische Krankheit nicht auf natürliche Weise eingetreten war, sondern durch die von den sri-lankischen Behörden verübte Folter verursacht wurde. Damit stellte sich die Auslegungsfrage von Art. 15 Bst. b der Qualifikationsrichtlinie (das Urteil bezog sich noch auf die alte Richtlinie 2004/83) auf.

Da die Qualifikationsrichtlinie im Lichte von Art. 4 Grundrechtecharta – welcher Art. 3 EMRK entspricht – auszulegen ist, weist der EuGH in seinem Urteil auf die jüngere Rechtsprechung des EGMR zu Gesundheitsgefährdungen im Kontext einer Abschiebung hin, namentlich das Urteil Paposhvili v. Belgium vom 13. Dezember 2016, in welchem der EGMR seine bisherige restriktive Rechtsprechung etwas gelockert hatte. Nunmehr verstösst eine  Abschiebung nicht mehr nur dann gegen Art. 3 EMRK, wenn eine schwerkranke Person dadurch dem Risiko eines baldigen Todes ausgesetzt wäre (wie das noch unter N. v. UK verlangt war), sondern auch schon dann, wenn für eine Person im Fall der Rückschiebung die konkrete Gefahr besteht, dass sie aufgrund fehlender angemessener Behandlungsmöglichkeiten oder fehlenden Zugangs zu Behandlungen einer ernsthaften, rapiden und unumkehrbaren Verschlechterung des Gesundheitszustands ausgesetzt wäre, die intensives Leiden oder eine wesentliche Verringerung der Lebenserwartung nach sich ziehen würde.

Zwei Jahre vor dieser Praxisänderung des EGMR hatte der EuGH im Urteil M’Bodj vom 18. Dezember 2014 noch festgestellt, dass eine aus Gesundheitsgründen unzulässige Abschiebung noch nicht automatisch zur Zuerkennung des subsidiären Schutzes führt. Zwar spiegelt Art. 15 Buchst. b QRL den Wortlaut von Art. 3 EMRK und Art. 4 Grundrechtecharta. Aus der Zielsetzung des internationalen Schutzes leitete der EuGH aber die ungeschriebene Voraussetzung ab, dass dieser ernsthafte Schaden nicht bloss die Folge allgemeiner Unzulänglichkeiten des Gesundheitssystems des Herkunftslands sein darf, sondern vielmehr quasi direkt von Menschenhand verursacht sein muss. Die notwendige Behandlung muss dem Antragsteller von den heimatstaatlichen Behörden also beispielsweise absichtlich vorenthalten werden.

Zwar hält der EuGH nun auch im Urteil MP an diesem Erfordernis fest. Er berücksichtigt aber, dass hier nicht wie im Urteil M’Bodj die Gesundheitsbeeinträchtigung durch einen Angriff im Aufnahmestaat verursacht worden ist, sondern dass die gesundheitlichen Probleme von Herrn MP auf die Folterungen in seinem Heimatstaat (und damit auf ursprünglich für den internationalen Schutz relevante Handlungen) zurückzuführen sind. Hierzu zieht der EuGH Art. 14 der UN-Antifolterkonvention heran, welcher die Vertragsstaaten verpflichtet sicherzustellen, dass Opfer von Folter Wiedergutmachung erhalten und ein einklagbares Recht auf Entschädigung und Rehabilitation haben. Zwar habe die Antifolterkonvention andere Zielsetzungen als die Qualifikationsrichtlinie, weshalb nicht jeder Verstoß des Herkunftsstaates gegen die Antifolterkonvention zu einem Anspruch auf subsidiären Schutz führen könne. Aber gewisse Verstöße eben schon, und zwei davon führt der EuGH im Urteil in nicht abschließender Weise («u.a.») auf:

  • Erstens, wenn eine aufgrund der Folterungshandlungen eingetretene Suizidgefahr besteht, aber die heimatstaatlichen Behörden ungeachtet ihrer Verpflichtung aus Art. 14 Antifolterkonvention nicht bereit sind, seine Rehabilitation sicherzustellen.
  • Zweitens, wenn die Behörden den Zugang zu notwendiger medizinischer Versorgung nur in diskriminierender Weise gewähren, so dass bestimmten ethnischen Gruppen der Zugang zur angemessenen Behandlung der Folter-Folgeschäden erschwert wird.

Eine Öffnung der Praxis

Mit diesem Urteil hat der EuGH nun ausdrücklich die Paposhvili-Rechtsprechung des EGMR auch im Bereich des subsidiären Schutzes übernommen, was folgerichtig war, weil der Gerichtshof bereits Anfang 2017 im Verfahren C.K. und andere betreffend Dublin-Überstellungen dieser Rechtsprechung gefolgt ist (wie auch im Verfassungsblog diskutiert wurde).

Die Anforderung der individualisierten Gefahr und der Absichtlichkeit der Vorenthaltung medizinischer Behandlung wurden zudem durch eine menschenrechtliche Auslegung von Art. 15 Bst. c QRL für Folteropfer etwas gelockert. Soweit ersichtlich überhaupt zum ersten Mal hat der EuGH eine Bestimmung der Antifolterkonvention in die Auslegung von Sekundärrecht mit einbezogen. Mit der Nennung dieser Norm erkennt der EuGH zudem implizit das Recht auf Rehabilitation von Folteropfern an, das 2005 auch von der UN-Generalversammlung in Resolution 60/147 über «Basic Principles and Guidelines on the Right to a Remedy and Reparation for Victims of Gross Violations of International Human Rights Law and Serious Violations of International Humanitarian Law» anerkannt wurde.

Wie weit der EuGH das Absichtlichkeitserfordernis damit aber wirklich auflockert, ist schwer zu sagen, denn er verlangt lediglich, dass im Falle einer bekannten, auf die Folter zurückgehende Suizidgefahr, die heimatstaatlichen Behörden «nicht bereit» sein dürfen, die Rehabilitation des Folteropfers sicherzustellen. Auch der englische Text (die Verfahrenssprache des Urteils) «are not prepared to» verschafft keine Klarheit. Inwiefern also auch hier immer noch eine bewusste und individualisierte Verwehrung von Rehabilitationsleistungen verlangt wird, bleibt unklar. Aus den Ausführungen des EuGH lässt sich aber schließen, dass eine gruppenbezogene Zielgerichtetheit ausreichen wird, ohne dass dafür die hohen Anforderungen an eine Gruppen-/Kollektivverfolgung erfüllt sein müssen.

Man ist zudem verleitet zu bemängeln, dass der EuGH mit MP nur eine einzelne, klar abgegrenzte Gruppe, nämlich die Opfer von Folter, privilegiert hat. Es finden sich aber in menschenrechtlichen Spezialverträgen zugunsten von besonderen Gruppen von Opfern schwerer Menschenrechtsverletzungen, die aufgrund der erlittenen Behandlung gravierende gesundheitliche Folgeschäden aufweisen, durchaus ähnliche Garantien wie Art. 14 Antifolterkonvention. So etwa Art. 6 Abs. 3 des UNTOC-Zusatzprotokolls zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, welcher die Pflicht zum Treffen von Maßnahmen für die «körperliche, seelische und soziale Gesundung» von Menschenhandelsopfern enthält und in ähnlicher Weise auch Art 9 Abs. 3 des Fakultativprotokolls zur Kinderrechtskonvention betreffend den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die Kinderpornografie und Art. 20 Abs. 2 Istanbul-Konvention (allerdings sind bislang nur Europäische Staaten Mitglied der Konvention). Leiden Opfer von Menschenhandel, Gewalt gegen Frauen oder Kinderhandel also an gravierenden gesundheitlichen Folgeschäden und erhalten in ihrem Herkunftsstaat keine angemessene Rehabilitation, könnte dies nach dem Urteil MP zur Zuerkennung subsidiären Schutzes unter Art. 15 Bst. b QRL führen.

Diskriminierende Verweigerung des Zugangs begründet Flüchtlingseigenschaft

Das Absichtserfordernis bei medizinischen Fällen ist gemäß dem EuGH auch dann erfüllt, wenn die Behörden den Zugang zu notwendiger medizinischer Versorgung nur in diskriminierender Weise gewähren, so dass bestimmten ethnischen Gruppen der Zugang zur angemessenen Behandlung der Folter-Folgeschäden erschwert wird. Es scheint klar, dass der EuGH dabei auf den tamilischen und politischen Hintergrund von Herrn MP anspielt: Würde Herr MP aufgrund seiner Ethnie oder seiner früheren Zugehörigkeit zu den LTTE der Zugang zu angemessener Gesundheitsversorgung gewährt, wäre das Absichtserfordernis erfüllt und es müsste ihm subsidiärer Schutz gewährleistet werden.

Was der EuGH hier aber nicht erwähnt, ist, dass eine diskriminierende Verweigerung von Gesundheitsdienstleistungen, jedenfalls wenn sie an eines der fünf Konventionsmerkmale der Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe anknüpft, eine flüchtlingsrelevante Verfolgung darstellt und somit nach Art. 9 Abs. 3 QRL zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen müsste. Mangels einer entsprechenden Vorlagefrage war der EuGH zwar nicht gehalten, diese Problematik im vorliegenden Fall zu untersuchen, aber nichts hätte ihn daran gehindert, zumindest in einem Nebensatz die Schlussfolgerung anzusprechen, dass eine aus Konventionsmerkmalen diskriminierende Zugangsverweigerung i.d.R. zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft statt subsidiären Schutzes führen müsste.

Die «Zwingende-Gründe-Klausel» anwenden

Und wenn wir schon bei den verpassten Chancen sind: Richtig geprüft, hätte der Fall von Herrn MP eigentlich gar nicht in dieser Vorlagefrage enden dürfen, sondern hätte schon in einem früheren Prüfschritt zur Gewährung der Flüchtlingseigenschaft führen müssen. Der Asylantrag von Herrn MP wurde abgelehnt, weil die – an sich flüchtlingsrelevante Verfolgung darstellenden – Folterhandlungen schon mehrere Jahre zurücklagen, so dass die britischen Asylbehörden keine begründete Furcht vor Verfolgung mehr erkannten resp. die Flüchtlingseigenschaft aufgrund des Endes des sri-lankischen Bürgerkriegs als beendet angesehen haben (Art 11 Abs. 1 Bst. e QRL). Die Beendigung des Flüchtlingsstatus aufgrund des Wegfalls der fluchtbegründenden Umstände kennt aber eine Ausnahme, nämlich wenn sich der Flüchtling auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Inanspruchnahme des Schutzes seines Heimatlandes abzulehnen (Art. 1 C Ziff. 5 Abs. 2  Genfer Flüchtlingskonvention und Art. 11 Abs. 3 QRL). Diese Ausnahme beabsichtigt den Schutz von Personen, die derart schwerwiegende Verfolgungsformen erlitten haben, dass es ihnen nicht zugemutet werden kann, wieder in den Verfolgerstaat zurückzukehren. Herr MP, der aufgrund der vergangenen Folter an einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung und einer schweren Depression leidet, hochgradig suizidgefährdet ist und ernsthaft entschlossen scheint, sich im Fall einer Abschiebung nach Sri Lanka das Leben zu nehmen, stellt geradezu ein Paradebeispiel für solche zwingenden Gründe dar und hätte auf jeden Fall unter dieser Klausel (die in der Richtlinie 2004/83 noch nicht ausdrücklich enthalten, aber aufgrund völkerrechtskonformer Auslegung durch Art. 1 C Ziff. 5 Abs. 2  Genfer Flüchtlingskonvention berücksichtigt werden musste) geprüft werden müssen.

Auch dieses «Versehen» des EuGH ist zumindest teilweise verfahrensrechtlich bedingt, war doch die Verneinung der Flüchtlingseigenschaft von Herrn MP gar nicht angefochten worden. Würde der gleiche Fall heute, unter der Geltung der neuen neugefassten Qualifikationsrichtlinie beurteilt, könnte auch die neu eingefügte analoge «Zwingende-Gründe-Klausel» zum subsidiären Schutz zur Anwendung kommen, wonach eine Person sich auf zwingende, auf früher erlittenem ernsthaftem Schaden beruhende Gründe berufen kann, um die Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatlandes abzulehnen (Art. 16 Abs. 3 QRL).

Personen, die aus vergangener Verfolgung oder vergangenem ernsthaftem Schaden stammende gesundheitliche Folgeschäden aufweisen, die derart intensiv sind, dass sie bei einer Rückkehr ins Heimatland zu einer ernsten, rapiden und irreversiblen Verschlechterung des Gesundheitszustands oder gar zu einer erhöhten Suizidalität führen, müssten also nach aktueller Rechtslage richtigerweise – selbst wenn die Umstände schon länger zurückliegen – in Anwendung der «Zwingende-Gründe-Klausel» Flüchtlingsschutz oder subsidiären Schutz erhalten; die Frage der Verfügbarkeit von Rehabilitationsleistungen im Herkunftsland würde dadurch in den Hintergrund rücken.


One Comment

  1. Peter Camenzind Sat 28 Apr 2018 at 08:25 - Reply

    Eventuell kann hier über ein Flüchtlingsaufenthaltsrecht gerichtlich nur eingeschränkt zu entscheiden sein.

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