18 December 2020

Ein zwiespältiges Urteil

Der EuGH und das flämische Schächtverbot

Am 17.12.2020 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Zulässigkeit des flämischen Schächtverbots bestätigt (C-336/19). Das entgegen dem Votum von Generalanwalt Hogan ergangene Urteil hat einen zwiespältigen Charakter: Es ist ein klares Signal zugunsten eines mitgliedstaatlichen Pluralismus im Bereich des Grundrechtsschutzes. Unvermeidliche Konsequenz ist, dass manche Grundrechte nicht das gleiche Gewicht bekommen wie in Deutschland. Kritisch ist zu vermerken, dass der EuGH den Pluralismus nur deshalb akzeptiert hat, weil der Gesetzgeber der Union ihn so vorgesehen hat.

Zwischen Religionsfreiheit und Tierschutz

Unionsrechtlicher Hintergrund ist das agrarrechtliche Verbot, Tiere unbetäubt zu schlachten (Art. 4 Abs. 1 VO 1099/2009). Für das religiös motivierte Schächten gibt es eine Ausnahme (Art. 4 Abs. 4), doch gestattet Art. 26 Abs. 2 der Verordnung den Mitgliedstaaten insoweit wiederum strengere Vorschriften. Diese Option hatte die flämische Regierung genutzt. Allerdings darf der Import geschächteten Fleisches aus anderen EU-Mitgliedstaaten nicht behindert werden (Art. 26 Abs. 4), was hier auch nicht der Fall ist.

Damit stellte sich die Frage nach der Vereinbarkeit eines solchen Verbot mit der Religionsfreiheit. Die Anwendbarkeit der Charta ist dabei trotz der den Mitgliedstaaten durch die Verordnung überlassenen Spielräume im Lichte der bisherigen Judikatur unproblematisch (Rn. 49). Konkret ordnet der EuGH dabei zu Recht – wie früher schon der EGMR und auch das BVerfG, aber anders als das BVerwG – das Schächten als Brauch oder Ritus der Religionsfreiheit des Art. 10 GRC zu (Rn. 54 f.) Damit lässt er sich nicht auf Diskussionen darüber ein, ob das Schächten wirklich von bestimmten Religionen gefordert wird oder nicht, sondern stellt auf das Selbstverständnis der Betroffen ab.

Zugleich fordert das Unionsrecht einen angemessenen Tierschutz (Art. 13 AEUV). Der insoweit notwendige Ausgleich hat auch den nach der EMRK gebotenen Schutz als Mindeststandard zu achten (Rn. 56 ff.). Die nach Art. 52 Abs. 1 GRC erforderliche gesetzliche Grundlage sieht der EuGH im Dekret (Rn. 60). Damit wird den rechtsstaatlichen Anforderungen an den Gesetzesvorbehalt – Bestimmtheit – ausreichend Rechnung getragen. Demokratische Anforderungen, wie sie aus der deutschen Diskussion um die Wesentlichkeitstheorie bekannt sind, werden nicht problematisiert. Das deckt sich mit den Anforderungen des EGMR an die Gesetzlichkeit einer Grundlage für Beschränkungen von EMRK-Garantien und vermeidet unionsrechtlich vielleicht problematische Interventionen in nationalstaatliche Verfassungsstrukturen. Die verfassungsrechtlichen Möglichkeiten exekutiver Normsetzung sind in den EU-Mitgliedstaaten ausgesprochen unterschiedlich ausgestaltet.

Unterschiedliche Verständnisse

Bei der Frage nach der Verhältnismäßigkeit warf die Eignung kein Problem auf (Rn. 66). Ausführlicher widmet sich der Gerichtshof Erforderlichkeit und Angemessenheit. Insoweit hatte der Generalanwalt Art. 4 Abs. 4 der Verordnung als Gebot der Religionsfreiheit angesehen (Rn. 57, 73 ff.). Logisch zwingende Konsequenz: strengere nationale Vorschriften dürfen diese Ausnahme nicht leerlaufen lassen (Rn. 67). Allerdings zeigen die Beispiele des Generalanwalts für die nach seiner Ansicht möglichen Maßnahmen (Rn. 69) die engen Grenzen mitgliedstaatlicher Gestaltungsspielräume auf. Ein Schlachthofzwang für das Schächten ist ja bereits europäisch vorgegeben (Art. 4 Abs. 4) und der EuGH hatte ihn in einer früheren Entscheidung – zu Recht – als vereinbar mit der Religionsfreiheit angesehen (Liga van Moskeeën, Rs. C-426/16, Rn. 59 ff.). Konsequenter wäre es vielleicht gewesen, Art. 26 Abs. 2 der Verordnung für rechtswidrig zu halten.

Für sein gegenteiliges Ergebnis sowohl bei der Frage der Erforderlichkeit als auch bei der Frage der Angemessenheit stützt sich der Gerichtshof insbesondere auf zwei Gesichtspunkte. Zum einen habe der Verordnungsgeber bewusst auf die unterschiedlichen Einstellungen in den Mitgliedstaaten zum Tierschutz Rücksicht genommen (Rn. 71, 77). Gerade im Bereich der Religionsfreiheit weise ja auch der EGMR den Staaten große Beurteilungsspielräume zu (Rn. 67). Zum anderen gelte das Verbot ja nur für den innerstaatlichen Bereich. In anderen Mitgliedstaaten könne Fleisch geschächtet und somit auch legal in Flandern importiert werden (Rn. 78). Dass allerdings einige dieser Mitgliedstaaten Ausfuhrverbote erlassen haben, übergeht der EuGH; man erfährt es nur vom Generalanwalt (Rn. 75). Daneben erwähnt der EuGH sogar, dass neuere wissenschaftliche Gutachten zeigen würden, dass moderne Formen der Betäubung dem Entbluten nicht entgegenstehen (Rn. 75). Damit wird faktisch die religiöse Grundlage des Schächtgebots in Frage gestellt.

Die unterschiedlichen Verständnisse von Gerichtshof und Generalanwalt bei der Einschätzung der Bedeutung der Maßnahme für die Religionsfreiheit zeigen sich auch daran, dass der EuGH zu Recht, wenn auch recht knapp, eine Beeinträchtigung des Wesensgehalts der Religionsfreiheit verneint, weil es nur um ein einzelnes religiöses Gebot gehe (Rn. 61). Demgegenüber sieht der Generalanwalt immerhin das Wesen der jüdischen und der muslimischen Religion berührt (Rn. 75).

Der Gerichtshof hält sich zurück

Insgesamt ist es ausgesprochen positiv zu bewerten, dass der EuGH zur Kenntnis nimmt, dass es in Fragen des Grundrechtsschutzes in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedliche Einschätzungen geben kann und deswegen auch unterschiedliche Standards zulässig sein können. Der gelegentlich geäußerten Sorge, dass eine Ausweitung des Anwendungsbereichs der europäischen Grundrechte zu einer unangemessenen Harmonisierung führen werde, hat sich also im konkreten Fall nicht bestätigt. Normative Grundlage für diese Erwägung ist allerdings das hier einschlägige Sekundärrecht (Art. 26 Abs. 2 der Verordnung). Hätte der Unionsgesetzgeber diese Öffnungsklausel nicht vorgesehen, hätte wohl auch der EuGH eine Öffnung nicht akzeptiert. Grenzen der Wirkkraft der europäischen Grundrechte, die sich aus diesen selbst ergeben und die der EGMR mit Hinweis auf den margin of appreciation der Mitgliedstaaten regelmäßig postuliert, erwähnt der EuGH zwar mit Blick auf die EMRK (Rn. 67), aber nicht mit Blick auf die GRC. Vielmehr leitet er hier zur Entscheidung des Unionsgesetzgebers zugunsten der Ausnahme über (Rn. 68). Damit weist er dem europäischen Gesetzgeber die zentrale Verantwortung für die Sicherung des (Grund-)Rechtspluralismus in der Union zu. Im vorliegenden Fall ist dieser seiner Verantwortung gerecht geworden. Ob dies durchweg ausreichend geschehen ist, ist diskutabel.

Allerdings ist es nicht zuletzt dieser mitgliedstaatliche Pluralismus, der vorliegend die Bewertung des Eingriffs als verhältnismäßig gestattet. Der EuGH betont ja ausdrücklich, dass nach derzeitigem Stand ein Schächten in der Mehrheit der Mitgliedstaaten und deswegen auch eine Versorgung der flandrischen Bevölkerung mit dem Fleisch geschächteter Tiere möglich sei (Rn. 77). Das BVerfG hatte bei seiner Entscheidung zum deutschen Recht einen solchen Verweis auf mögliche Importe aus dem Ausland nicht als ausreichend angesehen, um ein Verbot des Schächtens in Deutschland rechtfertigen zu können (BVerfGE 104, 337 Rn. 33 ff.); auch dem Generalanwalt reicht das nicht (Rn. 84). Nichtsdestoweniger ist die ähnlich auch bereits vom EGMR (Cha’are Shalom Ve Tsedek, Entscheidung 27417/95) entfaltete Argumentation des EuGH insofern plausibel, weil es dem Käufer von Fleisch letztlich gleich sein kann, wo das Fleisch her kommt: Entscheidend ist die Einhaltung der religiösen und sonstigen Standards. Die Frage, wie die Lage zu bewerten wäre, wenn mehr oder weniger alle Mitgliedstaaten strengere Vorschriften erlassen hätten, hat sich daher so nicht gestellt.

Die Unterschiede zwischen EuGH und BVerfG rühren aber sicher auch daher, dass das BVerfG über die Verfassungsbeschwerde eines betroffenen Metzgers zu entscheiden hatte, in Belgien hingegen betroffene Juden und Muslime sowie deren Organisationen als Kläger auftraten. Auch hat der EuGH naturgemäß den Binnenmarkt in ganz anderer Weise im Fokus als das BVerfG. Vor allem aber dürften die Unterschiede zwischen BVerfG und EuGH im Zugriff auch auf unterschiedlichen Selbstverständnissen beruhen: Für das BVerfG sind allein die Grundrechte der Maßstab, das einfache Recht nur Beurteilungsgegenstand. Der EuGH hingegen ist generell Hüter des gesamten Unionsrechts. Vorliegend wurde er zunächst nach der Auslegung des einfachen Unionsrechts und nur hilfsweise nach dessen Gültigkeit gefragt.

Schließlich war der Gerichtshof auch noch gefragt worden, wie denn das grundsätzliche Schächtverbot mit der Zulässigkeit des Jagens und Fischens sowie bestimmten Sportveranstaltungen vereinbar sei, bei denen Tiere getötet werden, alles vom Anwendungsbereich der Verordnung freigestellte Aktivitäten. Den angeführten Gleichheitsverstoß sah der EuGH allerdings zu Recht nicht: Die Begriffe „Jagd“ und „Freizeitfischerei“ würde man „ihres Sinns zu entleeren“, müssten „diese Tätigkeiten an zuvor betäubten Tieren ausgeübt werden“ (Rn. 91). Und Sportveranstaltungen dienen auch dann nicht der Herstellung von Lebensmitteln, wenn bei ihnen Tiere getötet werden (Rn. 90).

Selbstverständnis des EuGH

Aus der Perspektive der Religionsfreiheit ist sicher zu bedauern, dass sich diese im Verhältnis zum Tierschutz nicht durchgesetzt hat. Im konkreten Fall ist das verkraftbar, und wie der Fall beurteilt worden wäre, wenn die anderen Mitgliedstaaten überwiegend das Schächten nicht erlauben würden, ist offen. Andere Entscheidungen zeugen allerdings ebenfalls von einer nur begrenzten Wertschätzung des Gerichtshofs für die Religionsfreiheit. Zu nennen sind die Urteile zu arbeitgeberseitigen Kopftuchverboten vom 14.3.2017 (Achbita, Rs. C-157/15 und Bognaoui, Rs. C‑188/15) und zum Arbeitsrecht in kirchlichen Dienststellen aus dem Jahre 2018 (Urteile Egenberger, Rs. C-414/16, und IR, Rs. C- 68/17).

Insgesamt belegt das Urteil: Es gibt in der Europäischen Union grundrechtlichen Pluralismus. Inwieweit sich der EuGH mit Blick auf dessen Sicherung auch selbst in der Verantwortung sieht oder dies primär als Sache des Gesetzgebers ansieht, ist allerdings noch ebenso offen wie die Frage nach dem Stellenwert der Religionsfreiheit in der Unionsrechtsordnung. Der Umstand, dass ein Generalanwalt – in Sachen Religionsfreiheit nicht zum ersten Mal (vgl. das Verfahren C-188/15) – für eine stärkere Gewichtung der Religionsfreiheit plädiert hatte, ist für den EuGH aber hoffentlich in beiderlei Hinsicht Anlass für entsprechende Reflexionen.


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