23 May 2020

Eine Antwort, viele neue Fragen

Das BND-Urteil des Bundesverfassungsgerichts

Grundrechte sind Rechtfertigungspflichten. Ihre Wirkmacht entfalten sie – besonders in der sicherheitsrechtlichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – selten dadurch, dass sie staatliches Handeln schlicht verbieten, sondern vor allem dadurch, dass sie Gründe für staatliches Handeln verlangen. Vor einem Staat, der durch Grundrechte nicht gebunden ist, muss man Angst haben. Grundrechtlich gebundene Staatsgewalt ist nicht per se daran gehindert, in Grundrechte einzugreifen, aber sie muss sich dafür im Lichte der verfassungsrechtlichen Anforderungen rechtfertigen.

Vor diesem Hintergrund muss es nicht verwundern, dass man die Entwicklung der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung als eine Entwicklung hin zu einem immer lückenloseren Grundrechtsschutz lesen kann. Vom Ende des besonderen Gewaltverhältnisses über die Grundrechtsbindung auch bei staatlichem Informationshandeln und zaghaften Schritten hin zur Grundrechtsrelevanz von Gnadenakten bis hin zur Fiskalgeltung der Grundrechte scheint sich immer mehr durchzusetzen, dass Art. 1 Abs. 3 GG „die umfassende Grundrechtsbindung aller staatlichen Gewalt“ anordnet.

Der Bundesnachrichtendienst und das Fernmeldegeheimnis

Von diesem Grundsatz scheinbar ausgenommen war bislang (zumindest teilweise) staatliches Handeln außerhalb des Staatsgebietes. Die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung hierzu war vielschichtig und lässt sich schwerlich auf eine klare Aussage festlegen. Die Staatspraxis jedenfalls gestand dem Bundesnachrichtendienst hinsichtlich des Fernmeldegeheimnisses aus Art. 10 GG zu, frei von den Schranken des Grundgesetzes zu verfahren, wenn die abgefangenen Telekommunikationsverkehre ihren Anfangs- und Endpunkt außerhalb des Bundesgebietes haben und deutsche Staatsangehörige nicht involviert sind. Richtete sich die strategische Fernmeldeaufklärung in Fällen mit territorialem oder personellem Inlandsbezug nach dem G10-Gesetz, das gewisse materielle Schranken und ein besonderes Verfahren vorsieht,  so erfolgte die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung allein gestützt auf die Aufgabenzuweisung in § 1 Abs. 2 BNDG, obgleich das G10-Gesetz eine Begrenzung auf Fälle mit Inlandsbezug nie ausdrücklich enthielt.

Nach einer im Zuge der Snowden-Affäre angestoßenen Debatte wurden in §§ 6-18 BNDG Rechtsgrundlagen für die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung geschaffen. Weiterhin war der Gesetzgeber aber der Auffassung, hierbei nicht an Art. 10 GG gebunden zu sein; die Schaffung von Ermächtigungsgrundlagen wurde mit rechtspolitischen Gründen, nicht mit verfassungsrechtlichen Notwendigkeiten begründet.

Eine Antwort aus Karlsruhe

Das Urteil des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Mai markiert wohl den vorläufigen Endpunkt dieser Auseinandersetzung. Die Bindung der deutschen Staatsgewalt, so das Gericht wuchtig im ersten Leitsatz, ist nicht auf das deutsche Staatsgebiet beschränkt. Damit schließt der Senat die Türe, die er noch 1999 offengelassen hatte, als er urteilte, es könne offenbleiben, ob Art. 10 GG einen territorialen Bezug voraussetze.

Die Entscheidung ist insoweit uneingeschränkt zu begrüßen (hierzu bereits treffend Schiffbauer). Maßgeblicher Anknüpfungspunkt des Art. 1 Abs. 3 GG ist nicht das Staatsgebiet, sondern die deutsche Staatsgewalt, und zwar in all ihren Erscheinungsformen. Dass sie im Ausland nicht Monopolistin staatlicher Gewalt ist und gerade im nachrichtendienstlichen Geschäft eher klandestin auftritt, ist unerheblich. Dass die Grundrechtsbindung nicht auf klassisch-hoheitliches Handeln beschränkt ist, ist anerkannt. Ebenso wenig kann es für die Grundrechtsbindung darauf ankommen, ob der Akteur nach Ortsrecht legal oder illegal handelt – man kann dem deutschen Staat nicht ernsthaft zugestehen wollen, sich nicht an deutsches (Verfassungs-) Recht zu halten, weil er ja ohnehin schon gegen ausländisches Recht – das nachrichtendienstliche Tätigkeiten in der Regel kriminalisiert – verstößt (zu alldem bereits ausführlich hier). Dass durch extraterritoriale Grundrechtsbindungen in die Gebietshoheit fremder Staaten eingegriffen würde, kann für Abwehrrechte erst recht nicht verfangen: In die Gebietshoheit greift womöglich das Handeln des deutschen Staates jenseits seiner Grenzen ein, aber nicht seine Grundrechtsbindung, die dieses Handeln gerade begrenzt, nicht erweitert. Hinter dem juristisch begründeten Versuch, die Grundrechtsbindung bei der extraterritorialen Ausübung von Hoheitsgewalt zu verneinen, schien stets ein anderes Argument durch: Der BND könne so doch nicht arbeiten. Dieser Gedanke, der rechtliche Bindungen in ihr Gegenteil verkehrt und in letzter Konsequenz dazu führt, dass Recht nach Maßgabe des politisch-administrativ Gewollten gilt, zeigt sich deutlich in einzelnen Reaktionen auf das Urteil.

Dass die §§ 6 ff. BNDG vor diesem Hintergrund verfassungswidrig sind, folgt allein schon aus der Verletzung des Zitiergebots aus Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG: Dass Art. 10 GG in der Novelle des BND-Gesetzes nicht zitiert wurde, beruht darauf, dass der Gesetzgeber nicht der Ansicht war, in das Fernmeldegeheimnis einzugreifen. Ebenso zwingend ist, dass die Verfassungsbeschwerde schon allein deshalb begründet war: Ein Gesetzgeber, der sich nicht einmal bewusst ist, überhaupt in Grundrechte einzugreifen, kann nicht verfassungsgemäß handeln. Die Grundrechte verlangen ihm eine Abwägung ab. Wer nicht weiß, was dabei auf dem Spiel steht, kann diese Abwägung nicht treffen. 

Offene Fragen

Bemerkenswert ist das Urteil aber auch durch die Ausführlichkeit seiner Maßstäbe, in denen die Anforderungen an eine nun erforderliche Neuregelung der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung – in bemerkenswertem Kontrast zur Ambivalenz der bisherigen Rechtsprechung zur extraterritorialen Anwendung von Grundrechten – ausführlich dargelegt werden. Ob freilich alle Grundrechte, die das Grundgesetz nicht Deutschen vorenthält, auch für Ausländer*innen im Ausland gelten, lässt der Senat weiterhin offen, positiv beantwortet er dies nur für Art. 10 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG. Auch für eine Differenzierung des Schutzumfangs nach Staatsangehörigkeit zeigt er sich offen (Rn. 186), was er damit begründet, dass Deutsche – auch, soweit sie im Ausland leben – dem Zugriff deutscher Behörden unterliegen können und damit möglichen Folgemaßnahmen ausgesetzt seien. Dies dürfte freilich eine vorschnelle Pauschalisierung darstellen: Führt die Fernmeldeaufklärung etwa zu militärischen Maßnahmen oder Drohnenangriffen (vgl. Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses, S. 1145 ff.), so sind dies Folgemaßnahmen, die über alles, was deutsche Behörden gegenüber ihren Staatsangehörigen im Ausland veranlassen könnten, bei weitem hinausgehen. Eine Differenzierung des Grundrechtsschutzes nach Staatsangehörigkeit dürfte dort, wo das Grundgesetz Rechte gerade unabhängig von der Staatsangehörigkeit gewährt, nur aufgrund situativer Unterschiede und nicht aufgrund einer typisierten Unterscheidung infrage kommen.

Ebenfalls betont der Senat, dass sich bei der Anwendung von Grundrechten im Ausland Unterschiede zur Anwendung im Inland ergeben können, und zwar nicht nur hinsichtlich der Verhältnismäßigkeitsprüfung, sondern auch etwa im sachlichen und persönlichen Schutzbereich oder hinsichtlich der anzuerkennenden Grundrechtsdimensionen (Rn. 104). Darin schlummert das Potenzial, Teile des Urteils aufzuweichen. Während Unterschiede im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeitsprüfung weitgehend selbstverständlich sind – freilich nicht aufgrund des Auslandsbezuges an sich, sondern aufgrund der dynamischen und schwerer überschaubaren Sachlage –, lässt das Urteil offen, ob ausdrückliche Schranken-Schranken im Ausland womöglich außer Acht gelassen werden können, was andernorts etwa für Art. 104 Abs. 2 GG diskutiert wurde. Für Art. 10 GG finden sich besondere Schranken-Schranken in Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG. Hierzu führt der Senat aus, die Norm könne zu beachten sein, wenn die Benachrichtigung Betroffener ausgeschlossen sei, aus ihr ergäben sich indes „keine engen verfassungsrechtlichen Vorgaben“, weil ihr Anwendungsbereich auf den Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder den Bestand oder die Sicherung des Bundes oder eines Landes beschränkt sei (Rn. 271). Vor dem Hintergrund, dass die Norm eine Prüfung anhand von Art. 79 Abs. 3 GG nur knapp und nur mit der Maßgabe ihrer restriktiven Auslegung überlebte, ist das erstaunlich. Sollte der Senat so verstanden werden, dass Eingriffe ohne nachträgliche Benachrichtigung unter Außerachtlassung der Anforderungen des Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG – Kontrolle durch ein von der Volksvertretung eingesetztes Organ – zulässig sein sollen, wenn sie nicht diesen Zwecken dienen (in diese Richtung schon hier), ist dem nicht zuzustimmen. Die Norm lässt benachrichtigungsfreie Eingriffe vielmehr ausschließlich dann zu, wenn sie diesen Zwecken dienen und durch ein von der Volksvertretung eingesetztes Organ kontrolliert werden. Eingriffe in das Fernmeldegeheimnis, die ohne (nachträgliche) Benachrichtigung erfolgen und nicht diesen Zwecken dienen, sind unzulässig, auf keinen Fall aber losgelöst von den Anforderungen des Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG zulässig.


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