03 July 2014

EU-Kommissionspräsident: Wen und was wollten wir eigentlich wählen?

„Wie haben wir gewählt? Aber haben wir wirklich gewählt – oder hat das Volk gewürfelt?“ Niklas Luhmanns Sarkasmus in der FAZ am 22.10.1994 betraf die Bundestagswahl jenes Jahres. Schwarz/Gelb hatte gegen Rot/Grün knapp obsiegt. Luhmanns Kommentar liest sich vergnüglich – und enthält Diagnosen von erstaunlicher Passgenauigkeit für das europäische Wahlereignis des Jahres 2014: Die Differenzen zwischen den beiden großen Blöcken seien geringfügig, und die Politik operiere selbstbezüglich, hat Luhmann geltend gemacht. Ein Grund hierfür sei der Umstand, „dass es der Politik nicht mehr gelingt, politische Fronten und Optionen an Differenzen auszurichten, die das Wirtschaftssystem vorgibt“. Das ist im Krisen-Europa nicht anders. Gewiss ist hier die Parteienlandschaft größer, auch viel unangenehmer, als in der Bundesrepublik des Jahre 1994. Aber auch diese Konkurrenz kann mit aussichtsreichen Alternativen etwa zum Umgang mit den Finanzmärkten nicht aufwarten.

Um was ging es bei der Wahl? Um Europa selbst, hieß es in einem zuerst in der Zeit vom 9. März 2014 abgedruckten, dann weit verbreiteten und ungemein prominent unterstützten Manifest (http://waehlt-europa.de/; http://vote4europe.eu). Neu sei nämlich: „Dieses Mal treten verschiedene Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten an, und mit ihnen stehen unterschiedliche Modelle für Europa zur Wahl.“ Der Auftritt von Spitzenkandidaten bedeute nichts Geringeres als einen „Quantensprung“.

Miguel Maduro, Bruno de Witte und Mattias Kumm, die das Projekt einer Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament und also mittelbar durch die EP-Wahl in einem Arbeitspapier des Europäischen Hochschulinstituts, Florenz über “The Euro-Crisis and the Democratic Governance of the Euro. Legal and Political Issues of a Fiscal Crisis” entwickelt und öffentlich beworben haben, hatten dies anders nuanciert. Da war von unterschiedlichen Modellen nicht die Rede. Es komme vielmehr darauf an, die politische Legitimation der Kommission zu stärken und damit deren Chancen zur effektiven Wahrnehmung ihrer neuen Aufgaben und Befugnisse im europäischen Krisenmanagement zu stärken. Die situative Kontrolle der nationalen Wirtschafts- und Fiskalpolitik werde über den Wahlakt demokratisch abgesegnet, dadurch besser vermittel- und durchsetzbar. Demzufolge ging es also darum, eine demokratische Legitimation für denjenigen zu schaffen, der das in der Sache Notwendige vollziehen würde.

Ein solches Verständnis von den Spitzenkandidaturen hätte die Bürger Europas wohl kaum, die in der so genannten Peripherie gewiss nicht, für die EP-Wahl motivieren können. Insoweit war das Manifest nicht nur normativ ansprechender, sondern auch realistischer. Aber auch das Manifest hat die Spitzenkandidaten nicht zur Personalisierung seines Slogans nutzen können. Da gab es einmal das Programm eines „‘anderen Europas’, das den Markt demokratischen Regeln unterwirft“, für das SPE-Spitzenkandidat Martin Schulz stehen sollte. Für die politische Alternative eines „ ‘Weniger-Europas’, das vom Marktimperativ bestimmt wird“, musste das Manifest dann aber auf einen Politiker verweisen, der tatsächlich gar nicht zur Wahl stand, nämlich David Cameron. EVP-Spitzenkandidat Jean-Claude Juncker, der nun tatsächlich Kommissionspräsident wird, schien dem Manifest also beredter Weise für gar nichts zu stehen.

Diskrepanzen zwischen dem Policy-Paper der Professoren und dem Manifest der Prominenten gab es mithin. Aber der empfohlene Weg zur Veränderung war der gleiche: Man dürfe nicht warten auf die Entwicklung einer europäischen Öffentlichkeit, europäischer Parteien, eine neue Wahlgesetzgebung, ein Umbau des institutionellen Gefüges von Rat, Kommission und Parlament. Eine bloße prozedurale Innovation, nämlich die intergouvernemental verabredeten Bestimmung des Kommissionspräsidenten durch die demokratische Auswahl aus parteipolitisch bestimmten Personalangeboten abzulösen, könne und solle tiefgreifende politische Veränderungen auf den Weg bringen. Der eher matte Verlauf des Wahlkampfs, in dem weithin wieder nur unter nationalen Vorzeichen gefochten wurde, die insgesamt nicht so strahlende Wahlbeteiligung, der Wahlerfolg EU-feindlicher Parteien hat diese Einschätzung nicht berührt. Europa werde „direkt ins Herz getroffen“, wenn man die Bindungswirkung des Wahlergebnisses nicht achte, erklärte Jürgen Habermas in einem Interview in der FAZ vom 30.5.2014. Außerhalb Deutschlands wird die Spitzenkandidaten-Frage selten so gesehen und bewertet.

In Deutschland orientiert sich die Diskussion augenscheinlich allem voran an der bundesdeutschen Verfassung. Dort entscheidet bekanntlich die Bundestagswahl auch über die Kanzlerschaft. Die Kenntnis dieses verfassungsrechtlichen Faktums genügt den meisten journalistischen Kommentatoren, um sich als kritische Kommentatoren der europäischen Gemengelage in die Brust zu werfen. „Soll denn Hannelore Kraft den nächsten Bundeskanzler aussuchen?“, ist ein typisches Beispiel für die geläufigen Pointierungen. Einher ging das meist mit einem Gestus demokratischer Empörung, zu dem sicherlich auch der Umstand ermutigen konnte, dass sich viele wissenschaftliche Beobachter als Zeugen einer institutionellen Auseinandersetzung nach dem Vorbild des preußischen Verfassungskonfliktes wähnen: demokratisches Parlament gegen nicht-demokratische Exekutive. Da ist es klar, auf welcher Seite man zu stehen hat.

Es wäre aber hilfreich, sich für einen Moment von diesem demokratischen Sendungs(selbst)bewusstsein frei zu machen, dann bekäme man die Dinge etwas besser in den Blick. Es hieß dieser Tage oft, die Bürger hätten Jean-Claude Juncker zum Kommissionspräsidenten gewählt, und dieser Wille der Bürger dürfe nicht missachtet werden. Aber recht besehen stimmt das so gar nicht, und dafür muss man gerade nicht einmal den Umstand bemühen, dass die Spitzenkandidaten in vielen Ländern unsichtbar blieben. Die europäischen Parteien haben entschieden, für die Parlamentswahlen einen europäischen Spitzenkandidaten zu benennen. An dieser Entscheidung, die die Spannung zwischen Parlament und Europäischem Rat erst erzeugt hat, waren die Bürger Europas nicht beteiligt. Was hätte denn ein Bürger wählen sollen, der mit seiner Stimme zwar die Zusammensetzung des Parlaments, nicht aber den Kommissionspräsidenten bestimmen wollte? Diese Frage kann aber gar nicht erst erwogen werden, wenn die bundesstaatliche Verfassung der Bundesrepublik unreflektiert als Blaupause fungiert. Denn dort ist der Parlamentswahlkampf mit Spitzenkandidaturen natürlich bewährt und normativ richtig.

Die rhetorische Überhöhung des politischen Geländegewinns der europäischen Parteien und des Parlamentes im Verhältnis zum Europäischen Rat wäre sicherlich zu verschmerzen, wenn denn die eingeschlagene Richtung im Übrigen über jeden Zweifel erhaben wäre. Aber dies ist unseres Erachtens nicht der Fall. Das bekommt man allerdings erst in den Blick, wenn man den Vergleich mit der Verfassung der Bundesrepublik nicht nur so weit treibt, wie er in den eigenen Kram passt. Gegen den Vorschlag des eingangs zitierten Policy-Papers einer direkten Wahl des Kommissionspräsidenten haben wir seinerzeit generelle demokratische Bedenken gegen die Konzentration auf die Personalauswahl der Exekutivspitze deutlich gemacht, wenn die Instrumente der parlamentarischen Steuerung der Exekutive derart unterentwickelt bleiben wie sie es in Europa sind. Unser Einwand bleibt gültig: Die Auswahl des Kommissionspräsidenten durch ein Parlament, das anschließend das Handeln der Kommission nicht durch Gesetzgebungsinitiative und die Macht des Vertrauensentzugs steuern kann, ist eine drastisch kupierte Version demokratischer Verfassungsstaatlichkeit.

Darüber hinaus sind gerade aus der Perspektive des bundesstaatlichen Vergleichs die institutionelle Macht des Rates im Gesetzgebungsverfahren und dessen Entscheidungsmodus der qualifizierten Mehrheit von besonderem Gewicht. Am Wahlabend wähnten sich einige deutsche Parteivertreter augenscheinlich in einem zur bundesdeutschen Verfassung analogen Rahmen und äußerten die Erwartung, nun werde so etwas wie Koalitionsgespräche aufgenommen, um ein Regierungsprogramm auszuhandeln. Das hatte sich dann bald erledigt, weil eine Große Wahlkoalition unausweichlich war und bemerkenswerter Weise in dieser wohl nur noch zu verabreden war, welche Position Martin Schulz einnehmen könnte.

Aber davon unabhängig: Angenommen eine parlamentarische Koalition hätte vor der Wahl Junckers tatsächlich ein Kommissionsprogramm verabredet, und dieser wäre erstens tatsächlich willens, sich über die Zeit daran zu halten, und er wäre zweitens in der Lage, es in der Kommission durchzusetzen, obgleich er weder deren Mitglieder bestimmt noch eine Richtlinienkompetenz beanspruchen kann. Selbst dann bliebe die Politik der Juncker-Kommission doch strikt begrenzt auf die Kompromisslinien des Rates. Ohne qualifizierte Mehrheit im Rat kann die Kommission wenig ausrichten. Die maßgeblichen Vertreter im Rat indessen sind – anders als die Vertreter im Bundesrat, der zudem grundsätzlich mit einfacher Mehrheit entscheidet – Repräsentanten kompakter und untereinander konkurrierender Wohlfahrtsstaaten, die von ihren Wählern zu Recht sowohl für die gesellschaftliche Reproduktion als auch für den sozialen Ausgleich verantwortlich gemacht werden. Diese Repräsentanten sind nicht durch starke Parteien integriert, deren Machtzentrum auf der übergeordneten europäischen Ebene angesiedelt wäre. Wie der bundesdeutsche Fall zeigt, macht erst eine solche Parteiintegration den nachhaltigen Widerstand gegen die Politik der übergeordneten Ebene im Einzelfall außerordentlich anstrengend und auf Dauer gestellt schwer möglich. Demgegenüber ist auf europäischer Ebene den Ratsvertretern die Blockade der Kommissionspolitik ein Leichtes.

Die Vorwirkungen der institutionellen Stellung des Rates konnte man nun im Nachfeld der EP-Wahlen wunderbar beobachten. Wenn sich der Europäische Rat schon dem Kandidaten Juncker nicht entziehen konnte, weil vor allem in Deutschland die öffentliche Meinung und auch große Teile begleitender Wissenschaft nicht bereit sind, die Besonderheiten der Unionsverfassung und ihrer sozio-ökonomischen Grundlage zur Kenntnis zu nehmen, dann, so lautete die Kompromissformel Angela Merkels, nur gegen die Verabredung einer „strategischen Agenda“. Die Verhandlungen über ein Regierungsprogramm der Kommission fanden also im Europäischen Rat statt, nicht zwischen den Parteien, die alsbald den Kommissionpräsidenten parlamentarisch tragen wollen. Maßgebliches Gewicht hatten dabei mutmaßlich nicht diejenigen Regierungen, die mit Juncker ohnehin schon immer einverstanden waren, sondern diejenigen, die sich ihre Niederlage bezahlen lassen wollten, zuletzt vor allem Großbritannien. Aber auch unabhängig von der inhaltlichen Ausrichtung zeigt die erfolgreiche Aneignung des Vorschlagsrechts durch die europäischen Parteien vor allem diese Folge: Der Europäische Rat antwortet mit der öffentlichen Akzentuierung seiner aus der Unionsverfassung resultieren Gestaltungsprärogative – ein durchaus ironisches Resultat des versprochenen demokratischen Quantensprungs.

Vielleicht ist all das auch den Befürwortern der Spitzenkandidaturen nur zu gut bekannt. Sie widersprechen unserer Diagnose womöglich nicht, aber setzen darauf, dass sich der demokratische Anspruch des Europäischen Parlaments (hinter dem der demokratische Anspruch einer sich als europäisch verstehenden Bürgerschaft stehen möge) mittelfristig auch in der Unionsverfassung niederschlagen wird, um diese sodann nahe einen bundesstaatlichen Typus heran zu führen. Es sei zusammenfassend erinnert, was dies in etwa voraussetzt: Richtlinienkompetenz des Kommissionspräsidenten, Berufung und Entlassung der Kommissionsmitglieder durch ihn, Gesetzgebungsinitiative des Parlaments, Wahlrechtsgleichheit bei den Wahlen zum Europäischen Parlament, Entscheidung im Rat durch einfache Mehrheit. (Nota bene: Wir nehmen an dieser Stelle gerade auf die Institutionen des Grundgesetzes nur zur Veranschaulichung Bezug. Selbstverständlich würden funktionale Äquivalente, die institutionell die demokratische Steuerung der Regierung seitens der parlamentarischen Mehrheit gewährleisten, völlig genügen). Hinzu treten müsste noch eine Integration der mitgliedstaatlichen Parteien in intern steuerungsmächtige europäische Parteien. Dies ist jedoch ein Strukturerfordernis, das sich durch eine Änderung des Unionsrechts nicht herbeiführen lässt. Entgegen verbreiteter Auffassung wird die erforderliche Parteiintegration gegenwärtig nicht durch eine unpassende Unionsverfassung behindert, sondern in erster Linie durch die realen Konfliktlinien zwischen den mitgliedstaatlichen Volkswirtschaften. Die können die Parteien nicht voluntaristisch überschreiten, und sie haben sich in der Eurokrise zudem verfestigt und vertieft. (In diesem Licht erscheint Martin Schulz’ Slogan im Schlussspurt des Wahlkampfs „… damit ein Deutscher Präsident der EU-Kommission werden kann“ eigentlich ganz konsequent). Vor diesem Hintergrund wagen wir fortgesetzt zu fragen: Wie wird es um die Demokratie in Europa und um das Projekt europäischer Integration bestellt sein, wenn sich all diese Voraussetzungen nicht einstellen?

Für uns auffällig an diesem Punkt ist die Parallele zur Diskussion um die Verfassung der Währungsunion. Deren Funktionsimperative setzen bekanntlich die demokratische und soziale Verfassung in denjenigen Mitgliedstaaten unter Druck, die Haushaltsnotlagen und Wachstumsschwäche aufweisen. Es ist ebenfalls bekannt: Diesen Druck zu beseitigen erforderte entweder eine weitgehende Integration der Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialpolitik, sowie eine Zentralisierung der Haushalte – oder aber eine gemeinschaftliche Aufhebung des Euro. Natürlich ist die Aufhebung des Euro keine politische Option („Scheitert der Euro, scheitert Europa“) – es erschiene als Rückschritt in der Integration und käme außerdem ziemlich teuer. Also muss es zu einem tiefgreifenden Integrationsschritt kommen. Aber, so fragen wir entsprechend: Wie wird es um die soziale und demokratische Substanz der mitgliedstaatlichen Verfassungen bestellt sein, wenn dieser Schritt dennoch ausbleibt? Die Parallele in beiden Diskussionssträngen ist freilich kein Zufall. Die Spitzenkandidaturen waren gerade auch als Antwort auf die Legitimationsprobleme der Krisenpolitik gedacht. Aber die Antwort behandelt ein Strukturproblem der Währungsunion (Stichwort: interne Wechselkursverzerrungen durch volkswirtschaftliche Ungleichgewichte) als formales Demokratieproblem. Und weil die unterliegende Diagnose falsch ist, ist es kein Wunder, dass die eigentlich problematische Struktur auch die Antwort, die Wahl des Kommissionspräsidenten, ins Leere laufen lässt.

Im Falle der Spitzenkandidaturen steht im Vergleich zur Währungsunion freilich weniger auf dem Spiel. Es geht bei den Spitzenkandidaturen wohl „nur“ um die Kapazität von Parlament und Kommission, den beschwerlichen Weg inkrementeller Kompromissbildung fortzusetzen, die durch die kupierte Politisierung der Bestimmung des Kommissionspräsidenten Schaden nehmen könnte. Darüber hinaus geht es ebenfalls „nur“ um eine weitere Enttäuschung über ein vollmundiges, aber am Ende leeres Versprechen zu den demokratischen und sozialen Potentialen der Union. Gleichwohl kann die Leere des Versprechens am Ende doch gefährlich werden, wenn und weil der neue Kommissionspräsident, wie immer man die Stärkung seiner Legitimation beurteilen mag, nicht ausrichten kann, was den Bürgern Europas angekündigt wurde. Sein Dilemma ist: Ein „anderes Europa“, in dem der Markt demokratisch erarbeiteten Regeln unterworfen würde, bleibt für ihn außer Reichweite. Eine effektivere Durchsetzung echter oder vermeintlicher Sachzwänge, wenn sie denn gelänge, wäre seiner Legitimität und der des europäischen Projekts abträglich. Ohnehin steht zu befürchten, dass Europas Neue Soziale Frage von den Gegnern des europäischen Projekts strategisch instrumentalisiert werden wird: Die dramatischen Asymmetrien zwischen Nord und Süd, die sich zuspitzenden Ungleichheiten im Innern der europäischen Gesellschaften, die damit verbundenen Ängste bieten hierfür den rechten Nährboden. Diesen Konfliktkonstellationen ist weder durch fassadendemokratische Inszenierung personeller Alternativen, noch durch Oktroi struktureller Reformen beizukommen. Vorstellbar ist deren Bewältigung ist nur auf dem Weg über meist kleinteilige politische Auseinandersetzungen und kollektive Lernprozesse, die dann auch in institutionellen Erneuerungen umgesetzt werden können. Schlichte Formeln von „Mehr Europa“, selbst wenn unterlegt mit einem Grundvertrauen in die Vernunft der Geschichte, sind kein tauglicher Ersatz für solche Prozesse.


5 Comments

  1. Aufmerksamer Leser Thu 3 Jul 2014 at 12:07 - Reply

    Schöner Text.
    Nur eines @”Eine effektivere Durchsetzung echter oder vermeintlicher Sachzwänge, wenn sie denn gelänge, wäre seiner Legitimität und der des europäischen Projekts abträglich.”: Das Wahre und Gute an Sachzwängen ist doch, dass diese sich ohnehin selbst durchsetzen!

  2. Marc B. Fri 4 Jul 2014 at 12:30 - Reply

    Der Text berücksichtigt. wie schon die vorherige Debatte, nicht, dass das Parlament schon immer seine Position durch die normative Kraft des Faktischen – oder in anderen Worten durch Erpressung – ausgeweitet hat.

    Der Wortlaut der Verträge bestimmt die Wirklichkeit eben nur begrenzt, seit das Parlament mit dem Budgetrecht ein Erpressungspotential in der Hand hat und auch nutzt. Von der Benennung des Kommissionspräsidenten bis zum de facto Initiativrecht hat das EP diese Möglichkeit in den letzten Jahren genutzt.

    Das ist auch nicht spezifisch für das EP, vielmehr zieht sich Vergleichbares durch die Verfassungsgeschichte vieler Staaten in der Frühzeit ihrer demokratischen Ordnung.

  3. Aufmerksamer Leser Fri 4 Jul 2014 at 13:47 - Reply

    @Marc: Sie haben eine gute Beobachtung gemacht! Wegen Ihrer Anregung habe ich den Text gerade noch einmal durchgesehen. Mir ist aufgefallen, dass auch die Fußballweltmeisterschaft gar nicht berücksichtigt ist!!!

  4. Peter Blickensdörfer Sat 5 Jul 2014 at 09:54 - Reply

    Der Artikel verdient gelesen und kommentiert zu werden. Mit ihm wird der Zustand des unter-schiedlichen Verstehens von Europa ausführlich und verständlich beschrieben. Beschreibungen, mit denen der Zustand vorgestellt wird, sich vorstellen lässt, erkannt werden kann.

    Erkennbar ist auch: die Frage wen oder was wollten wir eigentlich wählen, betrifft nicht nur den EU-Kommissionspräsidenten.

    Diese Frage ist allerdings keine neue. Vielleicht gerade deshalb können nun auch die damaligen Fragen Niklas Luhmanns noch besser als sarkastisch verstanden werden. Denn auch heute noch wollen wir wählen, mit beliebigen Verstehen von dem, wovon wir auswählen sollen.

    Eine Kritik zu dieser Auffassung liest sich so:
    Wir hätten doch aus dem alternativen Angebot auswählen können (sollen), entweder Mehr-Europa oder Weniger-Europa, entweder Mitglieder aus der einen oder der anderen nationalen Parteien und entweder Jean-Claude Juncker oder Martin Schulz.

    Es wären doch konkrete Auswahlmöglichkeiten gewesen. Nicht nur Junker und Schulz seine vorstellbar, sondern mit ihrer Person auch, was mit Mehr-Europa oder Weniger-Europa vorstellbar sei.

    Der Frage, wen oder was wollten wir eigentlich wählen, kann also die fehlende Antwort zugrunde liegen auf die Fragen: Warum und wofür wollen (sollen) wir wovon auswählen? Wieder Auswählen, obwohl bisher damit die Ursachen der Sachzwänge (der Krise) nicht verstanden und deren Auswirkungen trotz Auswählen bisher nicht beherrscht worden sind, die realen Konfliktlinien zwischen den mitgliedstaatlichen Volkswirtschaften sich verfestigt und vertieft haben?

    Joerges und Rödl erkennen folgerichtig (es ist kein logischer Schluss) aus dem von ihnen Beschriebenen, vermuten zu können, dass die Bewältigung der Konfliktkonstellationen vorstellbar sei, das sie vorstellbar beschrieben werden kann. Und dass die schlichte Formel von „Mehr Europa“ nicht einmal dafür tauglich ist.

    „Mehr Europa“ (aber auch Konfliktlinien) ist beliebig vorstellbar, weil beliebig zu verstehen. Denn „Mehr Europa“ ist nur scheinbar ein Begriff, so griffig „Mehr Europa“ auch verwendet wird.

    “Die Entstehung Normativer Ordnungen” hängt also auch ab von einer nicht nur vorstellbaren, sondern von einer nicht beliebig zu verstehenden Beantwortung: Warum und wofür?

  5. Christoph Smets Sun 6 Jul 2014 at 15:49 - Reply

    Herzlichen Dank! Ein sehr verständiger Beitrag, der mir nochmals einige neue Aspekte näher gebracht hat!

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03 July 2014

EU Commission President: Who and what did we actually vote for?

I.

“How did we vote? Did we actually vote – or did the Volk simply roll the dice?” Niklas Luhmann‘s sarcasm in the FAZ on October 22nd 1994 referred to the Bundestag elections of that same year. Back then, the black/yellow coalition narrowly won out over its red/green counterpart. Luhmann’s commentary is not only a pleasurable read but also contains an analysis of surprising relevance for the electoral outcome of the 2014 European elections. Luhmann argued that the differences between the two coalition blocs were minimal. One reason for this was the fact that “politicians are no longer able to support political alternatives according to their preferences, due to constraints set by our economic system”. Fundamentally, this is not much different in contemporary Europe. Certainly the party landscape is larger, more diverse and more awkward than in Germany in 1994. However, even in this contested context, no party has a promising alternative when dealing for instance with the financial markets.

What was this most recent election about? One very prominent and popular manifesto from March 9th 2014 argued the election was about nothing less than the future of Europe itself. The novelty of “different candidates running for Commission President while also representing different models of Europe”, the election of so-called Spitzenkandidaten, is seen as a quantum leap for the Union.

Miguel Maduro, Bruno de Witte and Mattias Kumm who have developed and publicly supported the idea of electing the Commission President by the European Parliament in their policy paper “The Euro-Crisis and the Democratic Governance of the Euro. Legal and Political Issues of a Fiscal Crisis“, put it somewhat differently. They did not speak of competing models. Instead, according to them the direct election of the Commission president would increase the political legitimacy of the Commission, thus strengthening the institution in its new role as European crisis manager. The control over national economic and fiscal policy would be democratically legitimated and thus more easily promoted and enforced. Accordingly, it would furnish functionalist technocrats with democratic legitimization.

This understanding of the Spitzenkandidaten would surely not have motivated the citizens of Europe, especially on the so-called European periphery, to participate in the election. In this respect the manifesto was both more attractive as well as more realistic. Nonetheless the manifesto was not able to demonstrate that the leading candidates could be the personalization of its slogans. Socialist leading candidate Martin Schulz was supposed to represent the programme of an “’alternative Europe’, one in which the market is subjected to democratic rules”. When demonizing the political alternative of “’lesser Europe’, where the market subjugates democratic rules”, the manifesto had to refer to a politician not even on the ballot: David Cameron. For the manifesto, EPP candidate Jean-Claude Juncker, now Commission President-elect did not seem to stand for anything in particular.

Despite the discrepancies between the policy paper of the professors and the “celebrity” manifesto, the recommended change was the same: we cannot wait for the natural development of a European demos or of a European party system, for electoral reform or for a fundamental reconstruction of the Union’s institutional framework. Instead a mere procedural innovation, in which the intergovernmental election of the Commission President is supplanted by a democratic election informed through party-political alternatives, would suffice to bring about profound and far-reaching change. Despite the dull, essentially national campaigns that followed, despite the disappointing voter turnout and despite the electoral success of EU sceptics, many continued to cling to this belief. In an interview with the FAZ on May 20th, 2014, Jürgen Habermas asserted that Europe would be “deeply hurt” if the heads of government wereto disregard the binding force of the electoral outcome. This analysis is seldom shared outside of Germany.

II.

Within Germany the debate is clearly influenced by Germany’s Basic Law Under that constitution the outcome of the parliamentary elections directly determines the election of the country’s executive. This fact alone is sufficient for German commentators to criticize European procedures. An example of a typically pointed question they would ask is “whether Hannelore Kraft (the President-Minister of North Rhine Westphalia) should then be allowed to choose the next German chancellor?” An air of democratic indignation usually accompanies such criticism, as many observers believe they are witnessing an institutional clash akin to the Prussian constitutional conflict: democratic parliament versus non-democratic executive. When framed in this way, it becomes quite easy to choose sides.

Let us free ourselves for a moment of this messianic zeal. Since the election it has been often repeated that the citizens of Europe have elected Jean-Claude Juncker to be Commission President and that the will of the people cannot be disregarded. However, even if we neglect the fact that the leading candidates were indiscernible in many countries, this is strictly speaking not accurate. The European parties decided to select Europe-wide leading candidates for the European parliamentary election. The citizens of Europe were not involved in this decision, which was a result of the conflict between Parliament and Council. Consider for a moment this dilemma: What should a voter, who wanted to use his vote in order to influence the composition of the EP but not the selection of the Commission Presidency, have done? Such questions cannot even be considered when the constitution of the Federal Republic of Germany, a system in which leading candidates have been proved, tested and are normatively much more appropriate, is used as a blueprint for the European Union.

The rhetorical exaggeration of the political gains made by the European Parliament vis-à-vis the European Council would be acceptable if this path were beyond reproach. However in our eyes this is simply not the case. Commentators must cease to make inappropriate comparisons with the German constitution whenever it takes their fancy. At the time of the initial proposal of the policy paper we made our concerns clear. A concentration on the procedure for selecting the personnel at the top of the Commission is problematic as long as the instruments of legislative control over the executive are as underdeveloped as they are in contemporary Europe. The selection of a Commission President by a Parliament, which then in turn cannot check or control him or her through the right of legislative initiative or the possibility of impeachment, would be a drastically superficial and stunted version of democratic constitutionality.

Furthermore, from a federal perspective the institutional power of the Council over legislative procedure, especially given Qualified Majority Voting, is considerable. On election eve, some German politicians apparently believed themselves to be in a German federal constitutional setting as they anticipated the beginning of coalition negotiations, ending in a coalition agreement. Of course this was quickly dismissed as a Grand Coalition; one where notably the only open position was that of Martin Schulz.

Regardless, suppose a parliamentary coalition had actually decided upon a Commission programme before the election of Juncker. And then suppose first, he would have been willing to comply with the programme over the entire legislative term, and second, he would have been able to enforce it despite both his inability to select the Commissioners and his inadequate policy-making powers. Even then the Juncker-Commission would have been severely restricted by the compromise culture within the European Council. Without a qualified majority in the Council, the Commission’s hands are tied. In contrast to the members of the German Bundesrat (which additionally uses not qualified majority, but simple majority voting), the leading members of the Council are representatives of independent, competing welfare states. They are responsible to their voters for the protection of a social equilibrium within a sustainable society. These representatives are not integrated by strong parties whose centers of power reside in Brussels. The German case shows that constant resistance against the politics of the higher order comes at high prices in the short run and is almost impossible in the long-term, unless said party integration has taken place. Europe is different. Council representatives can easily block Commission policies on the European level.

Following the EP elections the prominent institutional standing of the Council became all too clear. Even though the European Council was unable to revoke Jean-Claude Juncker’s claim to the Presidency, in large part because the German public and academics were unwilling to acknowledge the peculiarities of Union law and its socio-economic foundations, they were at least able to force a compromise that would allow them to determine a “strategic agenda.” As a result, the debate over the coming Commission policy programme took place not between those parties who would also later elect the Commission President, but instead in the European Council. During these negotiations, the countries with the strongest misgivings towards a Juncker Presidency presumably also had a higher influence than those who had supported him all along. Great Britain in particular used its sizable leverage to demand a ransom in exchange for their defeat. Irrespective of the substance of the negotiation outcome, the ironic result of this professed democratic quantum leap is that the European Council was able to publicly accentuate its constitutional policymaking prerogative.

None of this may be new to the supporters of the leading candidate idea. They may not even object to our analysis. Perhaps they are anticipating that the European Parliament’s democratic claim will be reflected in the medium term by the Union’s constitutional structure (supported by the democratic claim of a truly European society) in order to then lead the Union closer in the direction of a federal framework. Let us remind you of the necessary prerequisites: The Commission President must have the power to determine policy guidelines (Richtlinienkompetenz, Article 65 Basic Law); he must have the ability to appoint and dismiss individual members of the Commission; the Parliament must have the right of legislative initiative; EP elections must follow the principal of equal representation (“one man one vote”) — and the Council must use Simple Majority Voting (nota bene: we are using the German Basic Law as a blueprint only for illustrative purposes. Other functional equivalents that would allow for the democratic parliamentary control of the executive would suffice). Additionally, domestic political parties would have to be integrated into autonomous and self-governing European parties. This however is a structural prerequisite that cannot be precipitated by treaty changes. In contrast to what is commonly believed, necessary integration of party structure is not obstructed by insufficient Union law, but is rather a result of the real and existing political and economic asymmetries between member states. The parties themselves cannot voluntarily overstep these fault lines, especially as they have been intensified and solidified as a result of the Euro crisis. (In this light, it seems rather fitting that Martin Schulz’s slogan in the latter stages of the election was “so that a German can become EU Commission President”). Against this backdrop we dare ask: what will be the fate of European democracy and of the European Integration project if these prerequisites are not completely fulfilled?

At this point the parallel to the debate surrounding the constitution of the Monetary Union is striking. It is well known that the functional pressures of the EMU severely strain the democratic and social constitution of those member states suffering from fiscal deficits and feeble growth. It is equally well known that in order to alleviate these functional pressures one of two alternatives will be necessary: Either deepened economic-, social- and labour-policy integration as well as a centralization of domestic budgets, or a break-up of the Eurozone. Of course the latter option is no real political alternative (“if the Euro fails Europe fails”) as it would be extraordinarily costly and would be seen as a clear step back. Thus there must be further and profound steps of integration. However, we accordingly ask ourselves: what will the social and democratic constitutional makeup of the member states become, if these steps fail to materialize? The parallels between both streams of thought are certainly not coincidental. The leading candidates were meant as a solution to the legitimacy deficit of the Union during the Euro crisis. However, the introduction of leading candidates does not address the structural problems of the monetary union (e.g. internal currency devaluation through fiscal imbalances) but that of the structure of European democracy. The underlying diagnosis is incorrect and as a result, it is not surprising that the solution, the election of the Commission President, is ineffective amidst the continuously faulty structures of the monetary union.

In contrast to the Monetary Union, there is much less at stake in the conflict over the Spitzenkandidaten. At most, the capacity of both Parliament and Commission to continue the arduous path of incremental compromise could be harmed by the halfhearted politicization of the Presidency selection. Furthermore, a resounding yet ultimately empty promise of the democratic and social potential of the Union could once again end in disappointment. This empty promise could result in real damage however, if and when the Commission President cannot utilize his newfound legitimacy to accomplish what was promised to the European citizenry. It is his dilemma that on the one hand a “different Europe”, one in which the market is subject to democratic norms and rules, remains unattainable while an effective enforcement of genuine or alleged factual “necessities” would be detrimental to the legitimacy of the president and of the European project itself. In any case, the regrettable possibility remains that the EU’s opponents will strategically exploit Europe’s new social question: Fears accompanying both, the dramatic asymmetries between the North and the South and the increasing imbalance within European society, provide a fertile breeding ground for further Euroscepticism. This conflict potential will not be overcome by a façade of reform in which personnel decisions are substituted for real democratic and structural change. Realistically, these obstacles will only be overcome incrementally through continuous political disputes, as well as through processes of collective learning, which are then converted into institutional change. Simple formulas for “more Europe”, even when they are rooted in historical rationality and reason, will not be a sufficient substitute for such processes.

Translated by Dustin Michael Williams, Hertie School of Governance, Berlin.


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