EU-Generalanwalt zerrupft die nationale Staatsbürgerschaft
Die heutigen Schlussanträge zur Öffnung des Notarberufs für EU-Ausländer von Generalanwalt Cruz Villalón sind in zweierlei Hinsicht bemerkenswert:
Erstens zeichnet sich ab, dass der EuGH zum ersten Mal positiv bejahen könnte, dass es tatsächlich so etwas wie eine Tätigkeit i.S.v. Art. 51 AEUV gibt, die “mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden” und daher von der Bindung an die Niederlassungsfreiheit befreit ist.
Mit anderen Worten (so könnte man meinen): Bestimmte staatsnahe Tätigkeiten können die Mitgliedsstaaten in aller Ruhe für ihre eigenen Leuten reservieren, ohne Rücksicht auf EU-ausländische Bewerber.
Zweitens zeichnet sich ab, dass das aber MITNICHTEN heißt, dass die Mitgliedsstaaten diese Tätigkeiten für ihre eigenen Leute reservieren können ohne Rücksicht auf EU-ausländische Bewerber. Weil sie nämlich, so der listenreiche Generalanwalt, an das Verbot gebunden bleiben, Unionsbürger wegen ihrer Staatsangehörigkeit zu diskriminieren, und insoweit – Art. 51 hin oder her – sich eine Verhältnismäßigkeitsprüfung gefallen lassen müssen, wenn sie EU-Ausländer bei solchen Tätigkeiten draußenhalten wollen.
Mit anderen Worten: Art. 51 AEUV kann man sich jetzt noch viel mehr an den Hut stecken als vorher. Dafür knöpft sich der Generalanwalt die nationale Staatsbürgerschaft und ihr Verhältnis zur Unionsbürgerschaft in einer Weise vor, die manchem konservativen Staatsrechtler das Blut in den Adern gefrieren lassen dürfte; dazu unten mehr.
Öffentlich oder privat
Der EuGH hat bislang noch keinen einzigen Beruf als Tätigkeit i.S.v. Art. 51 anerkannt: Anwälte, Lehrer, you name it – was dem Gerichtshof bisher vorlag, war ihm jedenfalls nicht öffentlich genug, um vom Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit ausgespart bleiben zu können.
Und Notare?
Der Generalanwalt nimmt die Gelegenheit zum Anlass, tief in die Staatslehre einzusteigen und zu erforschen, was mit “öffentlicher Gewalt” gemeint ist. Er folgt dabei einem einigermaßen anspruchsvollen Programm, wonach die Abgrenzung zwischen öffentlich und privat weder nach dem Unterschied zwischen Allgemein- und Partikularinteresse noch nach der Frage nach Befehl oder Konsens, sondern nach der Einbettung einer Handlung in die Rechtsordnung zu geschehen hat: Öffentliche Gewalt ist eine Handlung dann, wenn durch sie Recht gesetzt oder gesprochen wird.
Und das, so Cruz Villalón, ist bei Notaren der Fall: Ein Vertrag verwandelt sich durch die notarielle Beurkundung von einer privaten Verabredung in eine vollstreckbare und beweiskräftige Urkunde. Das sei öffentliche Gewalt i.S.v. Art. 51 AEUV.
Damit hätte, wenn der Gerichtshof dem Plädoyer des Generalanwalts folgt, Art. 51 AEUV nach 60 Jahren zu guter Letzt einen Anwendungsbereich.
Heißt das, dass die Mitgliedsstaaten Notare wie Beamte behandeln und die Staatsbürgerschaft zur Voraussetzung der Niederlassung machen dürfen?
Oh nein, das heißt es nicht. Denn da ist noch das allgemeine Diskriminierungsverbot nach Art. 18 AEUV, das “unbeschadet besonderer Bestimmungen der Verträge” jede Diskriminierung aufgrund von Staatsangehörigkeit verbietet.
Nun könnte man aber auf den Gedanken kommen, dass diese Norm nur subsidiär gilt und jedenfalls nichts verbieten kann, was beim besonderen Diskriminierungsverbot der Niederlassungsfreiheit erlaubt ist.
Weit gefehlt: Es brauche
kaum betont zu werden, dass eine unmittelbare Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit nicht irgendeine Maßnahme ist, deren Ergebnis sich in der bloßen Behinderung der Verkehrsfreiheiten erschöpft. (…) Eine Union des Rechts, die die Einhaltung der Grundrechte garantiert, muss daher zwangsläufig ein Auslegungsergebnis in Frage stellen, das eine Form von Diskriminierung zur Folge hat, die bereits als solche gravierend ist, jedoch darüber hinaus den elementarsten Grundsätzen des Binnenmarkts zuwiderläuft.
Eine solche Diskriminierung berühre überdies den Status der Unionsbürgerschaft: Die werde nämlich durch die Staatsbürgerschaft konstitutiert und daher dürfe diese allenfalls in ganz eng begrenzten Fällen als Diskriminierungskriterium herangezogen werden:
Wird mit der Verleihung der Staatsbürgerschaft eines Mitgliedstaats der Einzelne in diese Gemeinschaft von Werten, des Vertrauens und der Solidarität aufgenommen, so erwiese es sich als paradox, wenn ausgerechnet die Zugehörigkeit zu dieser den Unionsbürger daran hinderte, die vom Vertrag gewährleisteten Rechte und Freiheiten wahrzunehmen.
Loyalität Shmoyalität
Ergo: Verhältnismäßigkeitsprüfung. Und was ergibt die? Das Argument jedenfalls, nur Staatsbürger seien hinreichend loyal zu dem Staat, dessen öffentliche Gewalt sie ausüben, lässt der Generalanwalt nicht gelten:
Eine Prämisse, wonach ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats kein anderes Mittel fände, eine legitime Loyalitätspflicht gegenüber einem anderen Mitgliedstaat zum Ausdruck zu bringen, als die vorherige Annahme der Staatsangehörigkeit dieses letzteren Mitgliedstaats, würde in bemerkenswertem Ausmaß sowohl die Art. 17 und 18 EG als auch die sich aus den Verträgen ergebenden politischen Bürgerrechte sowie die Charta der Grundrechte der Europäischen Union in Frage stellen.
Was die Notare tun, sei schließlich in der ganzen Union rechtlich anerkannt:
Diese Verleihung einer im gesamten Bereich der Union wirksamen Autorität spiegelt eine Loyalitätspflicht wider, die komplexer ist als die lediglich zwischen dem Staatsangehörigen und seinem Staat bestehende. Der Notar fügt sich damit in einen Rahmen ein, in dem sich die Loyalität sowohl auf den Staat, der diese Autorität verleiht, als auch auf die Union, die sie übernimmt, und ebenso auf alle anderen Mitgliedstaaten erstreckt.
Und weiter:
Ist in dem europäischen Integrationsprozess ein Moment erreicht, in dem die Unionsbürger dort, wo sie wohnen, zur Teilnahme an den nationalen demokratischen Entscheidungsprozessen berechtigt sind, wie es beim kommunalen Wahlrecht der Fall ist, oder im legislativen Bereich Bürgerinitiativen auf europäischer Ebene einleiten können, kann sich der Begriff der Loyalität nicht mehr allein und zwingend auf die Staatsangehörigen des eigenen Staates beziehen. Versteht man Loyalität als eine Bindung in der Wahrnehmung von Rechten und Pflichten, die den Bürger mit dem Mitgliedtaat und mit der Union eint, halte ich es unter den Umständen des vorliegenden Falles weder für erforderlich noch für gerechtfertigt, ein Staatsangehörigkeitsband zu dem Mitgliedstaat zu verlangen, um dieser Verantwortung Ausdruck zu verleihen.
Das Großherzogtum Luxemburg hat offenbar in dem Verfahren geltend gemacht, das Staatsangehörigkeitserfordernis für den Notarberuf sei zum Schutz der “Verfassungsidentität” Luxemburgs nötig – offenkundig eine Anspielung auf das Karlsruher Lissabon-Urteil. Dem hat der Zweite Senat ja bekanntlich jüngst die Zähne gezogen. Womit sich auch die dunklen Drohungen erledigt haben dürften, die der Zweite Senat im EU-Haftbefehls-Urteil gegenüber dem Unionsbürgerschafts-Upgrade durch den EuGH (Grzelczyk etc.) ausgestoßen hat.
Irre ich mich oder höre ich in den Schlussanträgen einen neuen Ton der Selbstsicherheit?
…ich bin zufrieden :-).
Zu Luxemburg: L hat keine eigene Juristenausbildung, deshalb die Frage, ob Belgier, Franzosen etc. hier alle möglichen Ämter übernehmen könnten, wenn der Staatsangehörigkeitsvorbehalt wegfällt. So die Argumentation von Luxemburg in der mdl. Verhandlung.
Zum Thema Selbstvertrauen: Das Urteil in Sachen Winner Wetten von letzter Woche ist da ein sehr gutes Beispiel: Den vom OVG NRW in hunderten von Textbau-Entscheidungen wiederholten Satz, der Vorrang der EU-Grundfreiheiten gelte nicht, wenn dies in NRW aufgrund der dortigen Regelungslücken “inakzeptabel” sei, wird dermaßen kühl pariert, dass meines Erachtens nun die Staatshaftungsgerichte über die Münsteraner These befinden müssen. Die Rechnungen für den Aufstand des OVG Münster werden die Kommunen bezahlen müssen.
[…] Generalanwalt Pedro Cruz Villalón hatte in seinen außerordentlich verbosen und weit ausholenden Schlussanträgen den Versuch unternommen, das Verhältnis von öffentlich und privat ganz grundsätzlich zu klären. […]