Europarecht, Prärogative und Devolution: Der UK Supreme Court entscheidet über den Brexit
Dieses Ergebnis war zu erwarten: Die britische Regierung, so der Oberste Gerichtshof des Vereinigten Königreichs heute, darf den Austritt aus der EU nur erklären, wenn das Parlament sie zuvor in einem Gesetz dazu ermächtigt hat. Auch das Stimmenverhältnis von 8:3 kann nicht gänzlich überraschen. Zwar konnte man spekulieren, ob nicht angesichts der regelrecht hetzerischen Kampagnen, die manche Medien nach der erstinstanzlichen Entscheidung des High Court gefahren waren, die Richter des Supreme Courts ein Zeichen der judikativen Geschlossenheit zeigen würden, aber schließlich hatte es sich doch abgezeichnet, dass es Abweichler geben würde. Dass nun drei abweichende Meinungen geschrieben wurden, ist jedenfalls insofern zu begrüßen, als es zeigt, dass sich der Supreme Court bewusst gewesen sein muss, wie problematisch und kontrovers dieser Fall ist und dass eine Entscheidung deshalb nicht so einfach und eindeutig zu fällen sein kann, wie es der High Court suggeriert hatte.
Was kann dem Urteil nun entnommen werden? Auch ohne die fast 100 Seiten komplett zu lesen, lassen sich zumindest die Antworten auf die beiden Kernfragen, ob der EU-Austritt von der Regierung ohne parlamentarische Autorisierung erklärt werden darf und ob die Regionalparlamente vor Erklärung des Austritts gehört werden müssen, beleuchten. Die weitere Bedeutung der Entscheidung für das britische Verfassungsrecht wird sich erst nach eingehender Analyse und gänzlich wohl erst im Laufe der Zeit zeigen.
Kein Austritt ohne Parlamentsgesetz
Der britischen Regierung stehen gewissermaßen als Überbleibsel des alten monarchischen Systems einige Exekutivkompetenzen zu, die sie ohne parlamentarische Autorisierung ausüben kann. Teil dieser königlichen Prärogative (royal prerogative) sind grundsätzlich auch die Außenbeziehungen des Vereinigten Königreichs. Das beinhaltet die Kompetenz, internationale Verträge ohne gesetzliche Ermächtigung abzuschließen und zu kündigen. Wichtig ist, dass durch die Ausübung der Prärogative das britische Recht nicht geändert werden darf. Das ist aber bei internationalen Verträgen an sich nicht der Fall, da diese nur auf internationaler, nicht auf nationaler Ebene wirken. Für letzteres bedarf es vielmehr erst eines innerstaatlichen Anwendungsbefehls. Was die Regierung in Ausübung ihrer Prärogative auf der internationalen Ebene anstellt, ist davon an sich unabhängig.
Diese Aussage gilt nun im Fall des EU-Rechts nicht. Das kann man wohl als die wichtigste Entscheidung der Gerichtsmehrheit ansehen. Konnte man auch das Urteil des High Court so lesen, dass es einen besonderen Status des Europarechts anerkannte, so wird der Supreme Court nun ganz explizit. Der European Communities Act von 1972 inkorporiert nicht einfach internationales Recht, das die Regierung durch Vertragsschluss ins Leben gerufen hat, sondern er führt einen dynamischen Prozess ein, wonach neues, von den EU-Institutionen gesetztes Recht ohne erneute Inkorporation durch staatliches Gesetz Teil der britischen Rechtsordnung wird. Damit hat der European Communities Act, so die Mehrheit des Gerichts, eine neue Rechtsquelle geschaffen (ohne aber die oberste Rule of Recognition zu ändern) und ist gleichzeitig das „Leitungsrohr“, durch welches das aus der EU-Rechtsquelle entstehende Recht automatisch Teil der britischen Rechtsordnung wird.
Endet die britische Mitgliedschaft in der EU, so versiegt diese Rechtsquelle. Das darf durch eine Ausübung der königlichen Prärogative nicht erreicht werden. Insofern besteht ein entscheidender Unterschied zwischen einer Änderung des EU-Rechts durch Vertragsänderung (wozu die Regierung ohne gesetzliche Ermächtigung berechtigt ist) und der Änderung, die sich aus dem EU-Austritt ergibt. Ein solch fundamentaler Schritt kann nicht von der Regierung alleine getätigt werden. Hätte der Gesetzgeber des European Communities Act das gewollt, dass also die Regierung die Kompetenz behält, aus der EU auszutreten, so hätte es im Gesetz explizit festgehalten werden müssen. Das hat der Gesetzgeber nicht getan und er hat es auch im Referendum Act von 2015 nicht getan, sondern dort die Folgen der Volksabstimmung vielmehr offen gelassen.
Lord Reed widerspricht dieser Analyse der Gerichtsmehrheit in seiner beachtlichen abweichenden Meinung. Aus seiner Sicht stellt der European Communities Act die Geltung des EU-Rechts in Großbritannien unter die Bedingung fortbestehender Mitgliedschaft. Da das Gesetz nichts zur Prärogative der Regierung sagt, bleibt ihre Kompetenz, den Austritt aus der EU zu erklären, unberührt. An dieser diametral anderen Beurteilung derselben rechtlichen Vorgänge lässt sich das grundlegende Problem des Brexit-Falls erkennen: Die Frage der Kompetenz für den Austritt hängt von grundlegenden Fragen des britischen Verfassungsrechts ab, insbesondere vom Verhältnis der britischen Rechtsordnung zum Europarecht. Dieses Verhältnis ist aber nicht geklärt. Deshalb kann man die Entscheidung des Brexit-Falls nicht daraus ableiten, sondern durch die Entscheidung des Brexit-Falls wird das Verhältnis von britischem Recht und EU-Recht erst geklärt. Dass das Gericht das nicht offenlegt, ist nachvollziehbar. Was bleibt, ist die Ironie, dass in einer Entscheidung über den Austritt aus der Union die besondere Stellung des Unionsrechts festgestellt wird.
Austritt ohne Beteiligung der Regionalparlamente
Einstimmig ist die Entscheidung ausgefallen, soweit sie die sich aus der Devolution ergebenden Fragen betrifft. Dadurch dass ohnehin ein Gesetz des britischen Parlaments erforderlich ist, haben diese Fragen teilweise ihre Relevanz verloren. Relativ ausführlich widmet sich das Gericht nur der sog. Sewel Convention, einer Verfassungskonvention, die besagt, dass das britische Parlament die Kompetenzen der Regionalparlamente normalerweise nicht ohne deren Zustimmung ändert. Der EU-Austritt wird die Kompetenzen ändern, da die Regionalparlamente, die bisher keine europarechtswidrigen Gesetze erlassen durften, von dieser Beschränkung befreit werden. Aber die Sewel Convention ist nur eine Konvention, sie ist nur politisch, nicht rechtlich von Bedeutung, woran sich auch durch die Aufnahme in den Scotland Act nichts geändert hat, da sie dadurch nur anerkannt, nicht rechtlich vorgeschrieben werden sollte. Die Gerichte sind also, so der Supreme Court, weder berechtigt, die Sewel Convention zu überprüfen noch auch nur sie zu interpretieren. Es besteht somit keine rechtliche Verpflichtung, vor dem Austritt aus der EU die Zustimmung der Regionalparlamente einzuholen.
Der Austritt kann nun kommen
Die britische Regierung muss jetzt dafür Sorge tragen, dass im Parlament ein Gesetz erlassen wird, durch das sie ermächtigt wird, den Austritt aus der EU gemäß Art. 50 EUV zu erklären. Die Erklärungen, die die beiden Häuser des Parlaments im Dezember beschlossen haben, reichen hingegen als Ermächtigung nicht aus. War in der Verhandlung vor dem Supreme Court noch darüber diskutiert worden, wie es denn sein könne, dass das Gericht dem Parlament gleichsam vorschreibe, ein Gesetz zu erlassen, so findet sich im Urteil dazu nichts mehr. Die Situation ist indes ohnehin eine ganz offensichtliche: Denn eine Änderung der Rechtsordnung kann nur durch ein rechtswirksames Gesetz, nicht durch einen bloßen Parlamentsbeschluss bewirkt werden, genauso wie die Regierung zu grundrechtsinvasiven Maßnahmen nur durch Gesetz ermächtigt werden kann.
Das Gesetz wird zweifelsohne kommen, das Parlament wird sich dem Brexit nicht grundsätzlich in den Weg stellen. Auch der Zeitplan der Regierung, wonach der Austritt bis Ende März erklärt sein soll, kann eingehalten werden. Im Grunde kann das Gesetz aus einem Satz bestehen. Freilich könnte das Parlament auch genauere Vorgaben machen, zu erwarten ist das aber nicht. Sehr zu wünschen wäre allerdings, dass nun, da der Brexit-Plan der Regierung konkretere Züge annimmt (inzwischen sind wir beim „Clean Brexit“ gelandet), das Parlament auch die Chance bekommt, über die Umsetzung des Brexits zu diskutieren.