Europarechtsbruch als Verfassungspflicht: Karlsruhe zündet die Identitätskontrollbombe
Update (abends): Der Text unten, das Ergebnis meiner ersten Lektüre des heutigen BVerfG-Beschlusses zum EU-Haftbefehl, ist teilweise korrekturbedürftig. Ich habe mich in einigen Punkten in die Irre führen lassen, was aber – das sei zu meiner Verteidigung vorgebracht – nicht allein in meiner Schlamperei, sondern auch in den, sagen wir mal, Eigentümlichkeiten der Gedankenführung des Zweiten Senats begründet liegt, wie mir scheint. Die Pointe ist, dass der Senat doch am Ende kurz vor der Zündung der Bombe noch halt gemacht hat, allerdings auf wiederum einigermaßen muppethafte Weise. Näheres dazu in den Kommentaren, deren Lektüre sich hier echt mal lohnt…
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Jetzt ist es passiert. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat die Bombe gezündet. Hier ist er, der Fall, wo Deutschland sagt: Wir tun nicht, was wir europarechtlich müssen, weil wir glauben, es verfassungsrechtlich nicht zu dürfen. Europarechtsbruch als Verfassungspflicht! Seit Jahrzehnten wälzen wir uns unruhig im Schlaf bei diesem Gedanken. Und ausgerechnet jetzt, in diesem unseligen Januar 2016, wo uns ohnehin schon allerorten die Fundamente Europas unter den Füßen wegbröckeln, wird er Wirklichkeit.
Nun muss man zugeben, dass der zuständige Berichterstatter Peter M. Huber es verstanden hat, seinen Senatskolleg_innen einen Fall zu präsentieren, der diesen Schritt geradezu nahelegt. Es geht um einen alten Bekannten, den Europäischen Haftbefehl: Seit 2002 muss die Justiz von EU-Mitgliedsstaaten Leute, die in einem anderen EU-Land mit Haftbefehl gesucht werden, ohne viel Spielraum für eigene Rechtmäßigkeitsüberprüfungen ausliefern. Das heißt, wenn ein anderer EU-Staat strafprozessual sich Dinge leistet, die wir selbst nicht dürfen, können wir nicht einfach sagen, da machen wir nicht mit.
Zum Streit kommt es immer wieder durch die Möglichkeit der italienischen Justiz, Angeklagte in deren Abwesenheit zu verurteilen. Wer in Italien untertaucht oder ins Ausland flieht, kann im Prinzip trotzdem zu langen Haftstrafen verurteilt werden – im Extremfall sogar, ohne von dem Prozess gegen sich überhaupt etwas mitbekommen zu haben.
Vor zwei Jahren hatte deswegen der spanische Verfassungsgerichtshof vom EuGH klären lassen, ob man in diesem Fall aus verfassungsrechtlichen Gründen von einer Auslieferung nach Italien absehen könne. Könne man nicht, so der EuGH mit apodiktischer Härte: Es könne keinen nationalen Verfassungsvorbehalt gegenüber dem Europarecht geben. Die Ausnahmen, die der Rahmenbeschluss zum EU-Haftbefehl bei Abwesenheitsverurteilungen vorsehe, spiegle den Konsens der Mitgliedsstaaten wider, wie weit die Beschuldigtenrechte hier reichen sollen. Wer da ausscheren und im Alleingang weiter gehen wolle, der stelle den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung in Frage.
Nun war in diesem spanischen Fall der Sachverhalt noch vergleichsweise milde: Herr Melloni hatte sich nach Spanien abgesetzt, nachdem er wegen betrügerischen Konkurses angeklagt worden war, und beklagte sich vor allem darüber, dass sein Anwalt, der ihn bei seiner Verurteilung zu 10 Jahren Gefängnis vertreten hatte, sein Vertrauen nicht länger genossen hatte.
Der Fall, um den es in Karlsruhe geht, ist von anderem Kaliber: Es geht um einen Amerikaner, der 1992 in Florenz als angeblicher Kokainhändler und Mafiosi zu 30 Jahren Haft verurteilt worden war und nach eigenen Angaben davon überhaupt nichts mitbekommen hatte. 22 Jahre später wurde er in Deutschland aufgrund eines EU-Haftbefehls festgenommen und sollte nach Italien ausgeliefert werden. Ob er dort die Chance bekommen würde, in einem neuen Prozess prüfen zu lassen, wie belastbar die Beweise der Strafverfolger gegen ihn sind, ist umstritten. Das BVerfG jedenfalls kam zu der Überzeugung, dass das nicht hinreichend sichergestellt ist.
Hier muss sich, so der Senat offenbar einstimmig, Verfassungsrecht gegen Europarecht durchsetzen können: Wenn man verurteilt wird, ohne selbst dem Gericht Rede und Antwort stehen zu können, dann steht das Schuldprinzip in Frage, und das Schuldprinzip könne man nicht in Frage stellen, ohne auch die Menschenwürde und das Rechtsstaatsprinzip in Frage zu stellen, und Menschenwürde und Rechtsstaatsprinzip gehören bekanntlich zu dem in Art. 79 III GG sogar gegen verfassungsändernde Mehrheiten geschützten Identitätskern der deutschen Verfassung, kurz: Dies ist ein Fall für die Identitätskontrolle. Hier ist somit tatsächlich, wie schon im Solange-II-Urteil 1986 angelegt, die Grenze dessen erreicht, wozu Deutschland als Mitglied der EU dieselbe überhaupt kompetenziell ermächtigen darf. Hier darf Deutschland von vornherein absolut überhaupt gar nicht mitmachen. Und deswegen, so die Logik des Zweiten Senats, sticht hier am Ende eben doch Verfassungsrecht Europarecht.
Ich muss schon sagen: Wenn der Senat im Bereich des Grundrechtsschutzes sich in dieser Weise ins Zeug legt, ist mir das jedenfalls 1000 mal lieber als wenn er das zum Schutz irgendeiner imaginierten Staatsidentität oder -souveränität probiert. Insofern halte ich den Schauplatz, den er für seinen diesjährigen Showdown mit dem EuGH ausgesucht hat, jedenfalls schon mal für einen Gewinn.
Wer als Sieger vom Platz gehen wird? Das ist offen. Was passiert eigentlich (hat tip an Oliver García für diese Idee), wenn das OLG Düsseldorf, solchermaßen vom BVerfG über seine verfassungsrechtlichen Pflichten belehrt, jetzt sagt: Oh, wenn das so ist, dann müssen wir jetzt doch noch mal in Luxemburg nachfragen, was wir jetzt eigentlich machen sollen…
Das BVerfG hat mit geradezu triumphalistischer Kürze befunden, dass für eine Vorlage zum EuGH überhaupt kein Anlass besteht. Schließlich habe der EuGH in Melloni in unmissverständlichen Worten klar gemacht, wie viel Spieraum das Europarecht für verfassungsrechtliche Bedenken lasse, nämlich überhaupt keinen. Bei einem Acte clair bestehe bekanntlich keine Vorlagepflicht, und wenn Melloni irgendwas war, dann clair.
Könnte man aber nicht auf den Gedanken kommen, dass durch den heutigen Beschluss des BVerfG die Claireté dieses Acte dann doch vielleicht am Ende ein klitzekleines bisschen in Frage gestellt ist? Wäre es nicht vielleicht doch ganz gut, dem EuGH anhand dieses doch etwas krasser gelagerten Falles Gelegenheit zu geben, seine Grundrechtsrechtsprechung weiter auszudifferenzieren? Ist nicht gerade dies das Erfolgsgeheimnis der vergangenen vier Jahrzehnte europäischen Verfassungsgerichtsverbunds gewesen, in Reaktion aufeinander das Grundrechtsschutzniveau in Europa zu heben und zu stabilisieren zum Nutzen aller? Ich würde es dem OLG Düsseldorf nicht übel nehmen, wenn es sich diese Fragen stellte und mit Ja beantwortete. Niemand hat etwas dagegen, es hin und wieder tüchtig krachen zu lassen, solange daraus mehr die Lust am lebendigen Diskurs als an der Zerstörung spricht.
Zudem gibt es ja auch noch die Europäische Menschenrechtskonvention – man beachte den Fall Sejdovic v. Italien 2006, welcher sich mit Artikel 6 (1) der Konvention auseinandersetzte.
Lieber Maximilian,
nein, jedenfalls wenn man dem Bundesverfassungsgericht glaubt, ist dies nicht der Fall, auf den wir alle…
Das BVerfG jedenfalls behauptet, die von ihm angemahnte Prüfung von Auslieferungen wg. Abwesenheitsurteilen sei europarechtlich nicht nur zulässig, sondern sogar geboten und der EuGH hätte dieses eindeutige und im Sinne der CILFIT-Rspr. zweifelsfreie Ergebnis bei einer Vorlage auch nur bestätigen können. Deshalb (und nicht etwa wie von Dir angenommen, weil der EuGH eindeutig a.A. sei) sei die Vorlage entbehrlich.
Folgt man der Argumentation des BVerfG ist neu nur, dass das Gericht sich hier ausnahmsweise zum vorinstanzlichen Grundrechtschutzhelfer des EuGH macht, wo es sonst auf eine eigene Prüfung(skompetenz) verzichtet.
Natürlich kann man bezweifeln, ob der EuGH vor dem Hintergrund der Melloni-Entscheidung nicht doch a.A. gewesen wäre. Aber so wie der Senat das aufgeschrieben hat, ist der (vermeintliche?) Bruch jedenfalls sehr ansehnlich überstrichen.
Herzliche Grüße
Bernhard Wegener
@B. Wegener: Stimmt. Hab ich schlampig gelesen. Aber das ist ja noch viel vogelwilder! Wenn das ein Acte Clair ist, dann ist alles einer.
Sehr geehrter Herr Wegener,
Sie haben m.E. Recht. Allerdings hat das BVerfG die (Fehl-?) Interpretation durch M.S. wohl zumindest bedingt vorsätzlich herbeigeführt, indem es
(1) sich erst einmal lang und breit zur Identitätskontrolle äußert, dann
(2) das Melloni-Urteil in grellen Farben (über-) zeichnet, und dann
(3) plötzlich feststellt, dass vorliegend ja “offenkundig” schon das Europarecht selbst den von der Verfassungsidentität gebotenen Weg weist (sprich: alles vorher geschriebene eigentlich unnötig war).
Bei aller Sympathie für die Verfahrensrechte von Beschuldigten und bei allen Zweifeln am Europäischen Haftbefehl: Eine offenkundig konstruierte Entscheidung, die ganz von dem Bedürfnis getragen scheint, dem EuGH mal richtig eins vor den Latz zu geben (und die nebenbei noch Italien einen anhaltenden Verstoß gegen die Menschenwürde attestiert; geht’s auch eine Nummer kleiner?).
Bleibt zu hoffen, dass jetzt etwas Druck aus dem Karlsruher Kessel entwichen ist – und der Beschluss nicht nur der zurechtgelegte Anlauf für OMT war.
@Steinbeis und Wegener: was will uns das Gericht Bitteschön sagen … wieso soll das BVerfG den Grundrechtsstandard sichern, den nach eigenen Annahmen bereits der EuGH sichert – weil die Menschenwürde im Spiel ist? D.h. jedesmal wenn die Menschenwürde im Spiel ist, wird das BVerfG zum “vorinstanzlichen” Grundrechtshelfer? Das kann doch nicht ernsthaft so gemeint sein – es soll ja Autoren geben, die alle Grundrechte irgendwie mit der Menschenwürde verbinden. Hat der Senat hier (wieder) nicht nachgedacht oder gibt es noch etwas anderes als ein “wir klopfen Europa mal auf die Finger”-Statement
Dabei sollte natürlich nicht verschwiegen werden, dass der Europäische Haftbefehl in der Tat problematisch ist – und dass das Melloni-Urteil bei weniger wohlwollender Interpretation als der meinen (z.B. im Lichte der Schlussanträge des unsäglichen GA Bot) nicht gerade grundrechtssensibel erscheint. Umso angebrachter im Interesse des EU-weiten Grundrechtsschutzes wäre es aber gewesen, dort nochmal nachzufragen…
Da das Unionsrecht nach Auffassung des Zweiten Senates nicht zur lückenhaften Aufklärung des Sachverhalts zwingt (sondern eher das Gegenteil verlangt), ist die lückenhafte Aufklärung des Sachverhaltes durch das OLG auch nicht unionsrechtlich determiniert. Der Anwendungsbereich von Solange ist damit gar nicht eröffnet. Man hätte die Auslieferungsentscheidung in der Kammer aufheben können, da es nur um (vermeintliche) Grundrechtsverletzungen geht, deren “Begehung” das Unionsrecht nach Auffassung des Senates gar nicht verlangt.
Diese Fallgruppe der normalen (nicht-Solange) Verfassungsbeschwerden kann man sich z.B. in Ruhe mal in der Entscheidung des Ersten Senates zur Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie anschauen. Da wird nicht mit Solange rumgequatscht, sondern es wird – wie auch im vorliegenden Fall – außerhalb unionsrechtlicher Determinierung regulär geprüft (natürlich nicht nur Art. 1 GG, sondern full-take).
@Video: Es ist sehr witzig. Aber für die jüngere Generation unter den Lesern sollte man erwähnen, dass der Zweite Senat (früher) ein angesehenes Gericht war und zu beeindruckenden Leistungen fähig – manch einer der Alten verglich ihn mit dem SCOTUS, nicht mit den Muppets!
Kann es sein, dass die Entscheidung den etablierten Solange-Vorbehalt mit seinen strengen Darlegungsanforderungen (generelle Missachtung des unabdingbaren Grundrechtsschutzes) de facto beerdigen möchte?
Zwar führt Rn. 43 des Beschlusses aus, dass die Identitätskontrolle eine gegenüber dem Solange-Vorbehalt eigenständige Figur sei.
Wenn man aber die Identitätskontrolle auf die Menschenwürde anwendet (und dies schon bei Einzelfällen, nicht erst bei genereller Missachtung), was bleibt dann noch von der alten Solange-Dogmatik? Denn was soll denn der unabdingbare Grundrechtsschutz (im Sinne von Solange) anderes sein als eben der Menschenwürdekern der Grundrechte?
@Jessica Lourdes Pearson: Ja das sieht so aus. Es wäre aber nicht verwunderlich, wenn Solange II alsbald ausgedient hat und der Rückgriff auf die Identitätskontrolle hier den (Rück-)Weg hin zu einer parallelen Grundrechtsprüfung im Mehrebenensysten einleitet – schließlich hat der EuGH mit seiner Entscheidung Åkerberg Fransson der Abgrenzung der Grundrechtskompetenzen á la Solange bereits seinerseits eine Absage erteilt.
Allerdings sind Auslieferungsentscheidungen auch ein ganz prekärer Bereich: da kommt über dem OLG nur der Himmel (wenn das BVerfG nicht ausnahmsweise – wie hier – eine minimale Kontrolle wahrnimmt). Insofern könnte der Rückgriff auf Art.1 GG auch einfach ein eleganter Schachzug sein, in diesem Bereich überhaupt noch eine gewisse “Kontrolle” der doch teils sehr “eigenwilligen” Entscheidungen der OLG-Strafsenate zu ermöglichen.
Der Zweite Senat hat mit der Identitätskontrolle gewedelt und gedroht, sie dann aber stecken lassen, weil es gar keinen Widerspruch zwischen deutschen Anforderungen und EU-Recht gebe (Rz 84, 107). Zu diesem Ergebnis kam der Senat, indem er mal wieder selbst das EU-Recht auslegte, statt den Fall dem EuGH vorzuleben. Begründung: Die Rechtslage sei “offenkundig”, ein acte clair (Rz 125). Dabei hat der EuGH in Melloni (dort Rz 64) so ziemlich das Gegenteil von dem vertreten, was Karlsruhe für offenkundig hält. Dass das BVerfG in der Sache wohl recht hat und der EuGH unrecht, ist immerhin ein Trost.
http://taz.de/Deutsches-Recht-und-Europarecht/!5269890/
Interessant ist doch der Vergleich mit Jeremy F., immerhin der ersten Vorlage des französischen Conseil Constitutionnel. Da gab es Spielräume für das nationale Verfassungsrecht, in Melloni angeblich nicht. Ist es wirklich so ägerlich, dass sich der Zweite Senat immer wieder (besonders drastisch natürlich in der OMT-Vorlage) anmaßt, Unionsrecht zu interpretieren? Vielleicht, soweit er darüber zum Ergebnis kommt, dass das Unionsrecht dasselbe fordert wie das nationale Verfassungsrecht. Offensichtlich wird eine materiell-rechtliche Lösung gesucht, um der prozessualen Vorlageverpflichtung zu entgehen. Das ist misslich, aber lässt es sich vielleicht nicht (bei allen Unsicherheiten, die sich hinter diesem Konzept verbergen) verfassungspluralistisch rechtfertigen? Solange II passt hier einfach nicht mehr. Und wer die Unionsgrundrechtskonformität des Rahmenbeschlusses in 4 Randziffern bejaht, darf sich nicht beklagen, wenn nationale Verfassungsgerichte da etwas tiefer in die Prüfung einsteigen. Interessant bleibt aber doch der Rat von Max an das OLG Düsseldorf, für den Fall, dass sie den Beschluss aus Karlsruhe nicht akzeptieren sollten, einmal beim EuGH nachzufragen, was man jetzt tun soll. Denn dieses Recht kann das BVerfG den Fachgerichten nicht nehmen. Dass der EuGH dem BVerfG dabei nicht zwischenfunkt, steht auf einem anderen Blatt, aber dem zweiten Senat würden die Grenzen dieser Rechtsprechung aufgezeigt.
@Christian Rath:
Stimmt so nicht: Bei genauer Lektüre hat der EuGH in Melloni nur über Art. 4a Abs. 1 Buchst. a und b des Europäischen Haftbefehls entschieden. Demgegenüber geht es hier um Buchst. c und d.
Aus Melloni – insoweit hat der Zweite Senat Recht – ergibt sich also nicht das “Gegenteil” des hiesigen Beschlusses. Deshalb war es aber auch von vornherein verfehlt, mit der Identitätskontrolle zu wedeln.
@Max Steinbeis: Offenbar hat es der Verfassungsblog geschafft, wenn die Kollegen der taz ihre Beiträge hier anpreisen müssen. Noch besser wäre es, wenn gewisse Kollegen von der FAZ sich hier erst einmal kundig machten, bevor sie Unfug in die Welt setzen – aber das ist wohl zu viel verlangt.
@ Jessica Lourdes Pearson:
In Rz 64 des Melloni-Urteils hat der EuGH nicht den Rahmenbeschluss 2002/584 ausgelegt, sondern Art. 53 GRCh. Das Ergebnis lautet: “Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 53 der Charta dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat nicht gestattet, die Übergabe einer in Abwesenheit verurteilten Person von der Bedingung, dass die Verurteilung im Ausstellungsmitgliedstaat einer Überprüfung unterworfen werden kann, abhängig zu machen, um zu vermeiden, dass das Recht auf ein faires Verfahren und die Verteidigungsrechte, wie sie in seiner Verfassung garantiert sind, verletzt werden.” Für einen acte clair (und darum ging es ja) spricht dies jedenfalls nicht.
P.S. Der Verfassungsblog hat es schon lange geschafft.
@Christian Rath:
Rz 64 bezieht sich aber auf die Frage des vorlegenden Gerichts, ob Art. 53 GRCh es erlaubt, dass ein Mitgliedstaat unter Verweis auf seine nationale Verfassung (generell) verlangen kann, dass im Ausstellungsstaat eine Überprüfung stattfindet.
Die Stelle sagt deshalb nichts darüber aus, ob die hier relevanten Art. 4a Abs. 1 Buchst. c und d des Rahmenbeschlusses nach Ansicht des EuGH so auszulegen sind, wie Sie es unterstellen. Dies läge im Übrigen bereits deshalb fern, weil in Buchst. c und d das Erfordernis einer erneuten Prüfung explizit aufgeführt ist. Das unterscheidet Buchst. c und d gerade von Buchst. a und b, um die es in Melloni ging.
Gerade weil der EuGH oft sehr knapp begründet, täten wir alle gut daran, genau zu lesen, wie die angewandten Rechtsakte lauten, wie die Vorlagefragen formuliert sind, und was der Gerichtshof darauf antwortet.
Der Clou des BVerfG ist doch, die Türe zur Identitätskontrolle weit aufzustoßen, ohne (diesmal) durchzugehen. Es hätte wunderbar im Einklang mit seiner bisherigen Rechtsprechung darauf verweisen können, dass die Rechtsanwendung hier europarechtlich determiniert ist, dass deswegen die Verfassungsbeschwerde subsidiär und der EuGH für die Klärung der Rechtsfragen zuständig ist. Stattdessen wird wieder einmal (wie bei der Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie, 2010) in der Zulässigkeit (Rn. 34, sonst nichts!) auf die Erkenntnisse der Begründetheitsprüfung verwiesen, die man sich mit eben diesen Erkenntnissen auch gerade hätte sparen können. Bemerkenswerterweise erfahren wir in dem Beschluss ja auch gar nicht, ob eigentlich eine mögliche Vorlage an den EugH im Ausgangsrechtsstreit einmal Thema gewesen ist.
Das Verfassungsgericht nimmt also eine umfassende Kontrolle des maßgeblichen Europarechts anhand der “integrationsfesten” Bestandteile des Grundgesetzes vor, um am Ende lapidar festzustellen, dass Europarecht deren Ergebnis nicht entgegenstehe. Ja, sorry, aber dann brauche ich doch keine Identitätskontrolle, wenn die Vorgaben des Europarechts schon eindeutig und auch im Sinne der Menschenwürde sind. Dass das OLG sie nicht beachtet hat, ist dann auch nicht Sache des Bundesverfassungsgerichts. Das Ganze ist natürlich äußerst geschickt, denn gegen eine Menschenwürdeprüfung kann ja niemand etwas einwenden – und wenn sich das BVerfG so auch noch zum Diener des EuGH macht, sieht doch erstmal alles prima aus.
Was bleibt, sind aber die geringen Zulässigkeitshürden für die Identitätskontrolle, das Aufweichen der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde im Bereich europarechtlich determinierten nationalen Rechts und die latente Drohung des Verfassungsgerichts, im Zweifel gerade auch entgegen den Vorgaben des Europarechts zu entscheiden.
@DH: Die Menschenwürdeverletzung im Fall ist die (vermeintlich) schlampige Sachverhaltsaufklärung durch das OLG. Diese Menenschenwürdeverletzung verlangt das Unionsrecht nicht (sagt das BVerfG). Der Verfassungsverstoß ist also gerade nicht unionsrechtlich determiniert. Nix Solange. Man braucht deswegen Art. 79 nicht, Art. 23 natürlich auch nicht. Ich sagte ja schon, profane Stattgabe in der Kammer wäre Dein Freund gewesen. Und @Max hätte hier auch auf die Muppets verzichten können…
@Aufmerksamer Leser
Ja, das stimmt. Dogmatisch ist man dann im den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung/Anwendung belassenen Spielraum. Dort hätte das Bundesverfassungsgericht seine Prüfung allerdings auch verorten müssen, wenn es das Vorhandensein dieses Spielraums als “acte clair” ansieht.
Das ist die maßgebliche Frage, die im Rahmen der Zulässigkeit hätte geprüft werden müssen (zur Abgrenzung von Solange). Sowohl bei der Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie (Rn. 182) als auch hier wird die Vereinbarkeit mit dem Europarecht aber erst nach der Beurteilung aus dem Blickwinkel des nationalen Rechts geprüft (beide Male unter Zugrundelegung eines nicht einschlägigen Szenarios der Unvereinbarkeit zwingenden Europarechts mit dem Grundgesetz).
Das ist schon ein Abgraben von Solange, und in Rn. 125 (Spielraum als acte clair, nachdem seitenlang Auslegung betrieben wurde) nur noch Augenwischerei.
Interessant finde ich den en passant ausgesprochenen Verweis in Rdnr. 106 auf das Asylrecht. Der europäische Haftbefehl ist ja nun rechtspolitisch nicht so bedeutend, da lässt sich gut mal 1-79-drei brüllen. Aber im Migrationsrecht, da könnte der argumentative Trick des BVerfG – Menschenwürde, Identität, aber sowieso alles acte clair, deswegen auch keine Vorlage – noch eine ziemliche Brisanz entwickeln.
@DH: Sie prüfen bei der Aufhebung verfassungswidriger innerstaatlicher Rechtsakte (hier: eine Sachverhaltsfeststellung durch ein OLG) nur dann die Solange-Einschränkung, wenn Anhaltspunkt dafür bestehen, dass Unionsrecht die Grundrechtsverletzung verlangt (determiniert). Da offensichtlich kein Unionsrechtsakt eine Pflicht für OLGs enthält, schlampig zu arbeiten, hätte man m.E. Solange komplett weglassen können. Hilfsweise hätte es gereicht, am Ende des (Kammer-) Beschlusses zu erwähnen, dass selbstverständlich keine unionsrechtliche Pflicht zur Schlamperei vorgetragen oder sonst ersichtlich ist.
@ Mat, Mi: Was soll uns dieser Verweis denn sagen? Bisher war das BVerfG ja eher nicht als Vorreiter in Sachen Grundrechtsschutz in Abschiebungs-/Überstellungssachen bekannt. Das war ja dann doch eher die für EGMR und EuGH vorgesehene Rolle.
Eine kleine Anmerkung: Melloni ist nicht erst zwei, sondern schon (beinahe) drei Jahre alt. Die Zeit vergeht…
Kann mir jemand erklären, wie der EUGH demokratische legitimiert ist. Nach welchen rechtsstaatlich und völkerrechtlich konformen Verfahren die Richter ausgewählt werden und wer das Staatsvolk ist, das dieses Gericht vertritt?
Wie kann ein Gericht neutral und im Sinne von Bürgern urteilen, wenn es Teil eines von den Bürgern mehrheitlich abgelehnten Hybridstaates werden soll?
“Seit Jahrzehnten wälzen wir uns unruhig im Schlaf bei diesem Gedanken.”
@Keefer: Das Verfahren können sie in Art. 255 AEUV nachlesen. Wollen Sie sich bewerben?
@Keefer: Wenn es Sie wirklich interessiert, dann lesen Sie auch noch
– die Präambel des Grundgesetzes;
– Art. 23 des Grundgesetzes;
– Art. 9-12 des EU-Vertrages;
– Art. 19 des EU-Vertrages.
Sodann sollten Sie sich klar machen, dass ein Gericht niemals ein “Staatsvolk” “vertritt”, sonst wäre es nämlich kein Gericht, sondern (vereinfacht gesagt) ein Parlament. Lesen Sie dazu Art. 97 des Grundgesetzes.
(Auch so sollte Ihnen klar sein, dass die Zeiten, in denen es Aufgabe der Gerichte war, dem “Volkswillen” zum Durchbruch zu verhelfen, nicht die besten in unserer Geschichte waren)
Wenn Sie damit fertig sind, dann können Sie sich gerne mit Fragen oder Einwänden zu Wort melden. Ich diskutiere gerne.
Nach einem kurzen Blick auf die Spur, die Sie quer durch die Kommentarbereiche ziehen, halte ich es freilich für nicht ganz ausgeschlossen, dass Sie eher daran interessiert sind, eine faktenresistente Meinung in die Welt zu blöken. Sollte dies wider Erwarten zutreffen, so würde ich Ihnen nahelegen, in Ihrer Zeit doch lieber zum Wachstum des BIP und damit auch zum Wohle des Ihnen so wichtigen Staatsvolks beizutragen.
> Wollen Sie sich bewerben?
Nein, aufgrund meiner von einer vortrefflichen Persönlichkeit festgestellten Faktenresistenz, bewerbe ich mich zunächst fürs Kanzleramt …
@Keefer: Hat die AfD sonst niemanden?
In der Tat eine sehr bemerkenswerte Entscheidung und eine anregenden Diskussion, die viele Fragen aufwirft. Hier nur ein paar kurze Anmerkungen (eigentlich nur, damit dieser unselige Keefer hier nicht als letztes Thema stehen bleibt):
– die eigentliche Rechtsfrage des Ausgangsverfahrens scheint mir zu sein, wie ein Gericht zu verfahren hat, wenn zwar alle formalen Voraussetzungen dafür vorliegen, nach Art. 4a Abs. 1 d) RBEUHB auszuliefern, also alle entsprechenden Information über das Bestehen eines “Berufungsverfahrens” “aus dem [hervorgehen]”, es aber hinreichend fundierte Zweifel daran gibt, dass diese formale Situation der materiellen Situation (die dann wiederum in Italien eine prozessuale ist) entspricht. Oder anders gewendet: was tun, wenn ein EuHB das prozessuale Blaue vom Himmel verspricht, sich in Wahrheit aber dunkle Wolken über dem Betroffenen zusammenbrauen? Konkret wären das als Rechtsfragen: “Wie ist der Begriff des in Art. 4a Abs. 1 auszulegen?” (mutmaßlich: schlichtes Kreuz im Formular). “In welchem Umfang kann oder muss ein mitgliedstaatliches Gericht Nachforschungen anstellen, ob die aus dem EUBH “hervorgehende” prozessuale Situation der Wahrheit entspricht?”; “Darf oder muss ein mitgliedstaatliches Gericht den Vollzug eines EUHB verweigern, weil es Grund zu der Annahme hat, dass entgegen der aus dem EUHB hervorgehenden Informationen die Voraussetzungen des Art. 4a I d) nicht erfüllt sind?”; “Wie ist der Begriff des Berufungsverfahrens in Art. 4a I d) RBEUHB auszulegen?” etc. pp…
– Das sind aber natürlich alles Mühen der europarechtlichen Ebene, für deren Beantwortung die Zulässigkeit eindeutig beim EuGH läge, den man also erst fragen müsste – was aber konsequent wäre, weil so der europarechtliche Handlungsspielraum nationaler Gerichte hinsichtlich von anderen Mitgliedstaaten ausgestellter HB ausgelotet würde (nicht hinsichtlich des RB). Diese Frage wäre auch für die VB entscheidungserheblich gewesen, weil daraus der grundrechtliche Beurteilungsmaßstab folgt – full take oder nur genereller Standard. Das wäre tatsächlich nur dann anders (und hier beginnt die innere Logik der Entscheidung), wenn die Identität des GG, der ja auch die Solange-Rspr. ursprünglich entsprungen ist, ein abweichendes Ergebnis nicht zuließe, was Karlsruhe in der OMT-Vorlage bewusst offen ließ. Diese Logik hätte man aber natürlich mühelos offenlegen können, was aber deutlich weniger kooperativ geklungen hätte, als die (wenig überzeugende) Annahme, die von mir oben skizzierten Fragen wären alle “acte clair”. Aber mit dem Europarecht nimmt man es im 2. Senat ohnehin wieder einmal nicht ganz genau:Das – wie in Rz. 76, 2. Absatz, am Anfang, unterstellt, RB am Vorrang teilhätten, das ist so jedenfalls nicht Mainstream und ergibt sich aus der Rspr. Luxemburgs (auch der zitierten) gerade nicht. Die Rahmenbeschlusskonforme Auslegung (wie auch die RL-konforme) wird ja immer da bemüht, wo es an unmittelbarer Wirkung (und damit Vorrang) fehlt… die Dritte Säule, auf der der RB ja nach wie vor beruht, wurde jedenfalls konventionell (wenngleich bestreitbar) als intergouvernemental wahrgenommen und Pupino als enge Ausnahme. Mit Art. 9 Prot. Nr. 36 und Melloni ließe sich natürlich auch anderes rechtfertigen, aber die Mühe müsste man sich dann auch erst mal machen (oder gleich wieder fragen…).
Was die angeregte Vorlage des OLG Düsseldorf an den EuGH angeht: eine schöne Idee und individualpsychologisch auch mit hoher kurativer Wirkung gegenüber dem Vorwurf der Menschenwürdeverletzung aus Karlsruhe – europarechtlich wohl auch zwingend, wie oben dargelegt. Allein, Art. 101 I 2 GG wird im Zweifel nicht helfen, weil Karlsruhe ja schon “acte clair” gerufen hat und da die Willkürkontrolle wirklich nicht mehr helfen kann…
Jetzt hoffe ich auf Reaktionen von interessierten mutmaßlichen Kollegen. Für Herrn Keefer war’s hoffentlich zu fad und technisch…
@Christoph Herrmann: Der Vorrang ergibt sich jedenfalls aus Melloni? Ich persönlich hatte die Rz. 58 ff. immer so gelesen, dass der EuGH hier (implizit) recht umstandslos von einem Vorrang ausgeht.
@Herrmann: Diesmal wieder mit Klarnamen!
@Christoph Herrmann: Ich teile Ihre Urteilsinterpretation, finde aber, dass die “innere Logik” sich ausreichen nach außen manifestiert, um vom EuGH als unfreundliches Signal wahrgenommen zu werden.
Ein bisschen überrascht bin ich allerdings, dass der Vorrang von Rahmenbeschlüssen nicht Mainstream sein soll. Woraus, wenn nicht aus der Normenhierarchie, soll sich denn die Pflicht zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung (Pupino) ergeben?
Und: Die Frage des Vorrangs hat mit der der unmittelbaren Wirkung erstmal nichts zu tun. Das sieht man nicht nur an den beiden bekannten EuGH-Entscheidungen (Van Gend en Loos, Costa/ENEL), sondern auch an Richtlinien (die zweifelsohne vorrangig, aber oft nicht unmittelbar anwendbar sind) und vor allem in all den nationalen Rechtsordnungen, in denen das Völkerrecht (!) Vorrang vor den Gesetzen genießt, aber gleichwohl oft nicht unmittelbar anwendbar ist (z.B. USA).
Die Ausführungen des BVerfG zur Identitätskontrolle und zur Verletzung der Menschenwürde sind durchaus entscheidungserheblich und vorliegend keineswegs entbehrlich. Denn sie steuern den Kontrollmaßstab im Verhältnis zur angegriffenen Entscheidung des OLG. Auch eine Verletzung der Menschenwürde im Einzelfall kann der Verfassungsbeschwerde zum Erfolg verhelfen (vgl. C I 4). Handelte es sich „nur“ um die Verletzung irgendeines Grundrechts und nicht der Menschenwürde, käme es nach den Grundsätzen von Solange II demgegenüber darauf an, ob die Grundrechte generell eingehalten werden.
@Jannasch Was soll das sein – Ausführungen die den Kontrollmaßstab steuern. Maßstäbe? Und müsste das Gericht bei seiner Annahme einer fehlerhaften SV-Aufklärung wirklich die Solangerechtsprechung heranziehen, wenn – hypothetisch – die Menschenwürde nicht tangiert wäre? Entscheidungserheblich – großes Fragezeichen.
#O. Sauer/#JLP: der Vorrang als Kollisionsregel setzt die unmittelbare Anwendbarkeit/Wirkung voraus. Die Konformauslegung hingegen nicht, weswegen sie gerade in Konstellationen besonders greift, in denen die UW scheitert (also z.B. horizontale Rechtsverhältnisse). Griffe hier der RL/RB-Vorrang, dann wäre tatsächlich die entgegenstehende nationale Norm zwingend unanwendbar (so von mir in meiner Diss vertreten). Das ist aber gerade nicht hM, vom BVerfG auch mal ausdrücklich abgelehnt, vom BGH in Quelle ebenfalls und selbst der EuGH hat es zuletzt deutlicher zurückgewiesen als früher. Die Verpflichtung zur Konformauslegung folgt sowohl für RB als auch RL aus der Umsetzungsverpflichtung (so schon nachzulesen bei W. Brechmann, 1994). Diese selbst hat am Vorrang teil, der umzusetzende RB oder die RL gerade nicht. Aus Pupino ließ sich früher für RB auch nichts anderes entnehmen. Dass Melloni in Rz. 59 von einem Vorrang des RB ausgeht ist korrekt, mit der früheren Rspr. (Pupino etc.) aber kaum in Einklang zu bringen.
@JLP: in der Tat auch so eine eher großzügige Deutung des “Kooperationsverhältnisses”..
@Jannasch: Sie hätten dann Recht, wenn das Unionsrecht gerade zwingend vorgäbe, in der Konstellation auszuliefern, was es aber nach Dafürhalten des BVerfG ja gerade nicht tut. Dann wären wir aber im Bereich eines mitgliedstaatlichen Umsetzungsspielraums mit voller GR-Kontrolle (und der Maßstab wäre irrelevant).
@Hahaha: Wieso wieder? Wieso Klarnamen? Ich blogge immer unter “Christoph Herrmann”; wer weiß, ob ich das bin. Hoffe für Sie, dass Sie auch noch bessere Ideen haben, als die für Ihren Trollnamen… oder sind Sie vielleicht ein japanischer Kollege, Prof. HAHAHA san?
@Herrmann: Wieder falsch! Dementieren Sie nicht. Ignorieren Sie! Oder haben Sie noch nie vom https://en.wikipedia.org/wiki/Streisand_effect gehört?
@Herrmann:
Natürlich kann die Kollisionsregel “Anwendungsvorrang” nur greifen, wenn die höherrangige Norm Bestandteil derselben Rechtsordnung, also “unmittelbar anwendbar/wirksam” ist
(sonst würde gar keine Kollision vorliegen).
Das bedeutet aber nicht, dass man nicht konzeptionell zwischen der Frage des (hypothetischen) Vorrangs und der Frage trennen kann, ob dieser Vorrang in concreto zum Tragen kommen kann (=unmittelbare Anwendbarkeit/Wirkung).
So haben Gericht in Staaten, in denen Völkerrecht kraft Verfassung “supreme law of the land” ist, ursprünglich die Doktrin der unmittelbaren Anwendbarkeit erfunden, um dieses Recht in bestimmten Fällen doch nicht (vorrangig) anwenden zu müssen (der EuGH macht das bekanntlich gegenüber dem Völkerrecht auch). Zum Ganzen siehe zB
https://www.kluwerlawonline.com/abstract.php?area=Journals&id=274964
Im Übrigen scheint das auch das Lissabon-Urteil so zu sehen, weshalb das BVerfG z.B. wegen der Erklärung Nr. 17 zum Vorrang des (ganzen) Unionsrechts nicht besorgt war (vgl. a.a.O. Rn. 341 und 342).
Aber das sind letztlich alles Begriffs- und Definitionsfragen…
@Christoph Herrmann
Danke, daß Sie die Diskussion wieder in Bahnen lenken. Was den ersten von Ihnen angesprochenen Punkt betrifft, glaube auch ich, daß hier der Kern des Problems liegt. Ich hatte den Punkt seinerzeit in meiner Besprechung der Schlußanträge von Generalanwalt Bot im Fall Melloni so formuliert:
http://blog.delegibus.com/2012/10/21/die-menschenwurde-des-angeklagten-und-die-nationale-identitat-des-konigreichs-spanien/
@Hahaha (wo sind eigentlich die zwei “Ha” geblieben?). Ist Ihnen das Lachen schon in Teilen vergangen? Kannte den Streisand-Effekt übrigens noch nicht (shame on me!), was aber auch egal ist, weil ich nichts zu unterdrücken habe (anders als offenkundig diejenigen, die sich an ihren richtigen Namen nicht mal mehr erinnern können). Also von daher: machen Sie ruhig weiter, verbreiten Sie ruhig, was auch immer Sie wollen, in der Welt der Trolle, Avatare und Klarnamensverächter… und wenn Sie dann irgendwann eine Meinung haben, zu der Sie stehen können, vielleicht kommen wir dann ja mal ins Gespräch. Also ernsthaft.
@ Herrmann
In Fällen, in denen mit der Verfassungsbeschwerde eine Verletzung der Menschenwürde hinreichend substantiiert (vgl. Rn. 50) geltend gemacht wird, gewährleistet das BVerfG im Wege der Identitätskontrolle den unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz uneingeschränkt und im Einzelfall (Rn. 49). Daher prüft das BVerfG im Beschluss vom 15.12.2015 minutiös die Begründung des OLG im Einzelfall und würdigt die unklaren Angaben der italienischen Seite. Eine Prüfung anhand der Kriterien von Solange II (BVerfGE 73, 339 LS 2) sähe durchaus anders aus.
Mit anderen Worten: Die strikte Prüfung führt dazu, dass die Entscheidung des OLG aufgehoben wird und dieses nunmehr neu prüfen, gegebenenfalls auch in Italien nachfragen oder Gutachten einholen muss.
@Jannasch: Eine “Solange” Prüfung sähe so aus: 1.) Feststellung einer unionsrechtlichen Verpflichtung deutscher Hoheitsträger. 2.) Feststellung einer Verletzung deutscher Grundrechte durch Umsetzung der unionsrechtlichen Pflicht durch deutsche Hoheitsträger. 3.) Prüfung, ob das Grundrechtsniveau in Europa dennoch dem deutschen Standard vergleichbar ist.
4) Falls ja: Vb unzulässig. Falls nein: Aufhebung des deutschen Hoheitsaktes, der Unionsrecht vollzieht.
Der vorliegende Fall hat mit alledem nichts zu tun. Das Unionsrecht verpflichtet nicht zu Schlamperei, deswegen darf Karlsruhe natürlich Schlamperei des OLG rügen.
Noch einmal die Frage: Wie sieht es mit einer Vorlage des OLG Düsseldorf an den EuGH aus? Die fühlen sich doch verarscht und der Vorwurf einer Menschenwürde-Verletzung hat es ja auch in sich. Niemand ist bisher auf die Idee gekommen, dass der Zweite Senat so umfassend die Auslegungskompetenz für Unionsrecht in Anspruch nimmt (und damit den EuGH eigentlich überflüssig macht). Sollte ein Fachgericht also nicht einverstanden sein mit einer solchen Brüskierung, dann hat es die Möglichkeit, die Sache dem EuGH vorzulegen (siehe EuGH in der Rechtssache A). Der Österreichische Verfassungsgerichtshof ist jedenfalls mit dem Versuch, den Grundrechtsschutz beim nationalen Verfassungsgericht zu remonopolisieren, gescheitert. Ich persönlich würde dem OLG raten, für den Fall, dass sie mit dem Beschluss des BVerfG nicht einverstanden sind, dem EuGH vorzulegen. Der EuGH kann auf Vorlagen der Verfassungsgerichte gut verzichten, nicht aber auf Vorlagen der Fachgerichte. Das ist ja der Witz des Vorlageverfahrens. In einer Kommentierung spreche ich von einer rechtsordnungsübergreifenden Verabsolutierung des Art. 1 Abs. 1 GG. Das geht so nicht. Da liegt dann doch gewaltige Sprengkraft und wir sind aufgerufen, diesen Weg Huber auszureden.
@Claudio: Der Beschluss ist nicht wegen einer Verletzung von Unionsrecht aufgehoben worden. Sondern wegen einer Verletzung von Art. 1 Abs. 1 GG. Das OLG übersetzt jetzt ein bisschen italienisches Prozessrecht, dann ist der Sachverhalt prima – und dann wird der Kollege schön nach Italien überstellt. Welche Frage sollte man jetzt dem EuGH noch unterbreiten?