Falsche Hoffnungen
Die Grundrente ist keine beitragsfinanzierte Rente und begünstigt in erster Linie Nichtbedürftige
Kurz vor der Corona-Sommerpause einigten sich der Bundestag und der Bundesrat auf die umstrittene Grundrente, die am 01.01.2021 in Kraft treten soll. Die geplante Reform ist sowohl sozialpolitisch als auch verfassungsrechtlich problematisch. Zum einen handelt es sich bei der Grundrente nicht um eine Versicherungs-, sondern um eine Fürsorgeleistung, weil sie nicht auf dem Äquivalenzprinzip basiert; zum anderen führt sie zu Ungleichbehandlungen, bei denen nicht klar ist, ob sie gerechtfertigt sind.
Der Weg zur Grundrente war lang. Unter verschiedenen Schlagwörtern wie „Lebensleistungsrente“ und „Zuschlagsrente“ (CDU), „Respektrente“ und „Solidarrente“ (SPD) versuchen die Parteien der Großen Koalition seit Jahren, das Thema für sich zu besetzen. In der rhetorischen Umsetzung im Vorfeld wurde der Begriff „Respekt“ als Schlüsselwort verwendet. Wer „sein ganzes Leben“ gearbeitet, Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt habe, der verdiene Respekt.
Mit „ein ganzes Leben“ sind bei der Grundrente mindestens 33 Jahre gemeint. Mit „Respekt“, dass der „entwürdigende Schritt“ zum Sozialamt erspart bleiben soll, obwohl es sich bei der Grundrente wie auch bei der Grundsicherung formal um eine Fürsorgeleistung des Staates handelt, die nicht auf der eigenen Leistung beruht. Damit wird der Sinn und Zweck des aktuellen Rentensystems, das auf einem Umlageverfahren und dem Äquivalenzprinzip basiert, verkannt. Umgekehrt impliziert die Formulierung auch: Menschen, die zum Sozialamt gehen müssen, verdienen keinen Respekt. Insbesondere hilft die Grundrente nicht gegen Altersarmut – weil Menschen, die die zeitlichen Voraussetzungen der Grundrente erfüllen, kaum von Altersarmut betroffen sind, wie ein Gutachten im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft hervorhebt (Rn. 69). Dagegen sind diejenigen, die auf die Grundrente angewiesen wären, aufgrund fehlender Beitragsjahre von der Grundrente ausgeschlossen. Darum wird es später noch gehen.
Zunächst ist zu klären: Wie sehen die Voraussetzungen der Grundrente nun im Einzelnen aus? Und ist die Grundrente in ihrer jetzigen Form verfassungsrechtlich mit Art. 3 Abs. 1 GG zu vereinbaren?
Wer bekommt Grundrente und wie wird sie berechnet?
Anrecht auf die Grundrente haben Rentenversicherte, bei denen mindestens 33 Jahre Grundrentenzeiten erfasst worden sind. Pflichtbeitragszeiten oder Anrechnungszeiten wegen des Bezugs von Arbeitslosengeld (I und II) werden nicht berücksichtigt. Zusätzlich muss der Durchschnitt des Einkommens des Versicherten aus den Kalendermonaten der Grundrentenzeiten mindestens 30 Prozent und höchstens 80 Prozent des Durchschnittsverdienstes aller Versicherten betragen, damit er sich für den Bezug der Grundrente qualifiziert. Zwischen einer Vollzeit- oder Teilzeitbeschäftigung wird nicht differenziert, obwohl das durch einen Abgleich der Daten bei Unfallversicherungsträgern möglich wäre (S. 76). Es wird nicht notwendig sein, einen gesonderten Antrag bei der Rentenversicherung zu stellen, da ein automatisierter Datenaustausch zwischen den Finanzbehörden und der Rentenversicherung stattfinden soll.
Die Berechnung
Das in den einzelnen Kalenderjahren durch Beiträge versicherte Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen wird in Entgeltpunkte umgerechnet. Ein zentraler Bestandteil der Berechnung der Grundrente ist die Aufwertung von Entgeltpunkten.
Gem. § 64 SGB VI wird die Rentenhöhe berechnet, indem die Faktoren persönliche Entgeltpunkte (EP), Zugangsfaktor (ZF), Rentenartfaktor (RAF) und der aktuelle Rentenwert (ARt) miteinander multipliziert werden. Die Rentenformel: Monatsrente = EP x ZF x RAF x ARt
Entgeltpunkte und das Äquivalenzprinzip
Ein (1,0) voller Entgeltpunkt ergibt sich durch die Versicherung eines Arbeitsentgelts oder Arbeitseinkommens in Höhe des Durchschnittsentgelts aller Versicherten des Kalenderjahres. Das vorläufige Durchschnittsentgelt für Westdeutschland beträgt 2020 40.551 Euro, in Ostdeutschland 37.898 Euro. Wer aktuell nur knapp 20.000 Euro brutto im Jahr verdient, bekommt beispielsweise nur 0,5 Entgeltpunkte. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass Personen, die hohe Beiträge geleistet haben, auch später eine hohe Rente beziehen sollen: Es soll Äquivalenz zwischen Beiträgen und Rente herrschen. Ausnahmen vom Äquivalenzprinzip finden sich dort, wo persönliche Entgeltpunkte als Elemente eines sozialen Ausgleichs aus Faktoren folgen, die nicht aus einer solchen Äquivalenzbetrachtung resultieren. So werden für Kindererziehungszeiten (§ 70 Abs. 2 SGB VI) und für Pflegezeiten (§ 40 SGB XI) Entgeltpunkte anerkannt.
Die Grundrente: Aufwertung von Entgeltpunkten
Die Berechnung der Grundrente wird in einem neuen § 76g Abs. 4 E-SGB VI geregelt und ist komplex:
Grundvoraussetzung ist der Mindestdurchschnittswert von 0,3000 Entgeltpunkten aus allen Kalendermonaten mit Grundrentenbewertungszeiten, die aufgewertet werden. Es werden höchstens 35 Jahre, also 420 Monate, als Grundbewertungszeiten berücksichtigt.
Wenn der Durchschnittswert zwischen 0,3000 und 0,4000 Entgeltpunkten liegt, verdoppelt sich die Summe der gesamten Entgeltpunkte auf 0,6000 bzw. 0,8000 Entgeltpunkte. Übersteigt der Durchschnittswert 0,4000 Entgeltpunkte im Jahr, greift die Begrenzung durch den Höchstwert. Er beträgt bei 35 oder mehr Jahren mit Grundrentenzeiten 0,8008 Entgeltpunkte im Jahr.
Der Gesetzgeber versucht, in der Berechnung das Äquivalenzprinzip zu berücksichtigen, denn am Ende der Berechnung mindert er den ermittelnden Entgeltpunktewert pauschal um 12,5 Prozent, um das Äquivalenzprinzip zu „stärken“. Allerdings wird das Äquivalenzprinzip durch diese Minderung nicht gestärkt, es wird durch die Grundrente schlicht durchbrochen.
Denn der geplanten Aufwertung von Entgeltpunkten liegt keine entsprechende Beitragsleistung zugrunde, wie es das Äquivalenzprinzip in der Rentenversicherung fordert. Im Gegenteil: Die Aufwertung von Entgeltpunkten nimmt mit der Grundrente bei höheren Beitragsleistungen sogar ab und läuft dem Äquivalenzprinzip somit zuwider.
So soll bei einer Beitragsleistung im Durchschnitt von mehr als 0,8008 Entgeltpunkten (das entspricht aktuell einem monatlichen Rentenanspruch von 958,28 Euro) keine Aufwertung der Entgeltpunkte mehr erfolgen. Bei einer Beitragsleistung von 0,4004 Entgeltpunkten (aktuell ein monatlicher Rentenanspruch von 419,14 Euro) ist die Aufwertung in Höhe von 419,31 Euro am höchsten – sie wird verdoppelt.
Ungleichbehandlungen in Rahmen der Grundrente
Diese Durchbrechung des Äquivalenzprinzips ist nicht per se verfassungswidrig, sie kann zum Zwecke des sozialen Ausgleichs zulässig sein (Art. 14 Abs. 2 S. 2 GG). Sie muss dabei die verfassungsrechtliche Grenze des Gleichheitssatzes gem. Art. 3 Abs. 1 GG einhalten. Das lässt sich mit Blick auf die Ungleichbehandlung der Versicherten, des Vermögens und bei der Grundsicherung mindestens in Frage stellen. Folgende Rechenbeispiele sollen die Ungleichbehandlungen von Versicherten verdeutlichen:
Die Versicherte A geht mit 35 Grundrentenjahren mit einem Durchschnitt von 0,5005 Entgeltpunkten in Rente. Sie hat ihr ganzes Leben in Teilzeit gearbeitet.
Die Höhe ihrer beitragsfinanzierten Rente beträgt 598,92 Euro (0,5005 x 35 x 34,19). Außerdem qualifiziert sie sich für die Grundrente und bekommt zusätzlich 314,43 Euro (0,8008 – 05,005 = 0,3003 x 0,875 = 0,2627 x 35 x 34,19). Somit steht ihr monatlich eine Gesamtrente in Höhe von 913,35 Euro zu, und damit neben der Grundrente auch die Möglichkeit, von weiteren Freibeträgen zu profitieren.
Hätte A nur 32 Grundrentenjahre angesammelt, hätte sie nur eine Gesamtrente in Höhe von 547,58 Euro bekommen. Auf die Freibeträge hätte sie keinen Anspruch, ihre Rente würde auf die Grundsicherung komplett angerechnet werden.
Die Versicherte B geht auch mit 35 Grundrentenjahren mit einem Durchschnitt von 0,5005 Entgeltpunkten in Rente. Sie hat allerdings in Gegensatz zu A ihr gesamtes Leben in Vollzeit gearbeitet, aber zu einem geringeren Lohn, als die A. An der Höhe der Gesamtrente von B ändert sich allerdings nichts. B steht ebenfalls wie A eine Gesamtrente in Höhe von 913,35 Euro zu. Das führt zu einer Gleichbehandlung trotz unterschiedlicher Beitragsleistungen.
C hat auch immer in Vollzeit gearbeitet, allerdings mit wesentlich höheren Beiträgen als A und B (0,7007 Durchschnittsentgeltpunkte), kann aber nur 30 Jahre Grundrentenzeit vorweisen, weil sie mehrere Jahre arbeitslos war. Die Zeiten der Arbeitslosigkeit werden bei der Grundrente nicht berücksichtigt. C bekommt nur eine Gesamtrente in Höhe von 718,70 Euro.
Diese Beispiele zeigen, dass Versicherte insgesamt durch die Grundrente ungleich behandelt werden.
Die Grundrente führt aber nicht nur bei Versicherten zu Ungleichbehandlungen. Solche bestehen auch im Bereich der Grundsicherung nach SGB XII. Der neue § 82a E-SGB XII regelt den Freibetrag für Personen mit Grundrentenzeiten oder entsprechenden Zeiten aus anderweitigen Alterssicherungssystemen.
Personen, die eine betriebliche oder private Rente bzw. die Grundrente beziehen, können ohne weitere (zeitliche) Voraussetzungen einen Freibetrag nach § 82 Abs. 4 SGB XII (betriebliche oder private Rente) bzw. § 82a E-SGB XII (Grundrente) erhalten, wenn sie ergänzend auf Leistungen der Grundsicherung angewiesen sind. Pflichtversicherten steht dieser Freibetrag nicht zu. Das bedeutet, dass Pflichtversicherten, die nicht die geforderten 33 Jahre Grundrentenbeitrag vorweisen können, weder die Grundrente noch der Freibetrag zusteht. Das Gleiche gilt für die Freibetragsregelungen beim Wohngeld, dem Entschädigungsrecht und bei der Grundsicherung für Arbeitsuchende, was eine Ungleichbehandlung darstellt.
Schließlich wird bei der Ermittlung der Grundrente das Einkommen, nicht aber das Vermögen berücksichtigt. Kaum verwunderlich, dass diese Reglung den größten Streitpunkt zwischen SPD und Union darstellte. Bei der Grundrente handelt es sich um eine Fürsorgeleistung, wie auch bei der Grundsicherung. Unverständlich bleibt, warum – abgesehen vom Schonvermögen wie im SGB XII – neben dem Einkommen nicht auch das verwertbare Vermögen berücksichtigt wird. Wer zu Lasten der Steuerzahlenden Leistungen in Anspruch nimmt, der sollte sein Vermögen in Rahmen einer Bedürftigkeitsprüfung offenlegen müssen.
Rechtfertigung des Gesetzgebers: Würdigung von Kindererziehung, Pflege und Arbeit
Die Grundrente soll laut Gesetzgeber gerechtfertigt sein, weil sie insbesondere Pflegetätigkeiten und Kinderbetreuung würdigen soll. Allerdings werden Pflegetätigkeiten bereits in Form des Pflegegeldes (§ 37 Abs. 1 SGB XI) monatlich mit zwischen 316 bis 901 Euro gewürdigt. Zusätzlich wird die Pflegeperson abhängig vom Pflegegrad der zu betreuenden Person rentenversichert. Auch für die Kindererziehung werden Entgeltpunkte gutgeschrieben. Kindererziehungs- und Pflegezeiten sind somit eine schwache Rechtfertigung für die Einführung der Grundrente.
Außerdem, so heißt es, sollen Menschen darauf vertrauen können, dass sie nach einem langen Arbeitsleben, auch bei unterdurchschnittlichem Einkommen, ordentlich abgesichert sind und besser dastehen als diejenigen, die wenig oder gar nicht gearbeitet und somit wenige oder keine Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung gezahlt haben.
Diese Argumentation ist sozialethisch nachvollziehbar, allerdings verkennt sie die Logik des aktuellen Rentensystems, das auf dem Umlageverfahren und dem Äquivalenzprinzip basiert. Jemand, der sein ganzes Leben wenig verdient und dementsprechend weniger Entgeltpunkte in die Rentenversicherung eingezahlt hat, kann in der Logik des jetzigen Systems nicht erwarten, beim Bezug der Rente höhere Auszahlungen zu beziehen, als eingezahlt wurden. Diejenigen, die ihr gesamtes Erwerbsleben ein unterdurchschnittliches Einkommen hatten, können (leider) nichts anderes für ihr Rentenleben erwarten. Solche politischen Versprechungen schüren falsche Hoffnung und sind Nährboden für politische Missgunst.
Arbeit hingegen sollte sich immer lohnen, weshalb etwa sozialpolitisch an höhere Löhne appelliert werden sollte, die dann zu höheren Entgeltpunkten und schließlich zu einer höheren Rente führen. Auch eine komplette Reformierung des Rentensystems, welche nicht mehr auf dem Äquivalenzprinzip basiert bzw. die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens (im Alter) sind interessante Ansätze. Die Deutsche Rentenversicherung veröffentlichte dazu kürzlich ein Band zur Rententagung, „Die Rentenpolitik vor Zukunftsentscheidungen“, in dem Zukunftsszenarien der künftigen Rentenpolitik behandelt werden.
Das Kind beim Namen nennen: Die Grundrente ist eine Fürsorgeleistung
Die „Grundrente“ hat sich nun durchgesetzt – und wird ihren Namen nicht gerecht.
Sie erweckt den Eindruck einer pauschalen finanziellen Sicherung im Alter; dabei handelt es sich bei der Grundrente nur um einen gestaffelten Rentenzuschlag in Form einer Aufwertung von Entgeltpunkten. Die Aufwertung orientiert sich an den vorhandenen Bewertungszeiten und an der Höhe des aus diesen Zeiten ermittelten Durchschnittswertes an Entgeltpunkten. Grundrentenbeziehern werden zusätzlich Freibeträge gewährt. Das Vermögen bleibt unberücksichtigt, es findet nur eine automatische Einkommensprüfung statt. Es handelt sich also nicht um eine Rente im Sinne einer Versicherungsleistung, sondern um eine Fürsorgeleistung, die als Rente getarnt wird und zahlreiche nichtgerechtfertigte Ungleichbehandlungen mit sich bringt.
Warum nicht weiter auf das bereits etablierte System der Absicherung nach dem SGB XII – der Grundsicherung – zurückgegriffen und diese weiter reformiert wird, ist nicht verständlich. Bedürftige Menschen werden im SGB XII bereits abgesichert, und zwar abhängig von der Höhe ihrer individuellen, durch Beitragsleistungen erworbenen Rentenansprüche. Die einzigen Unterschiede zwischen der Grundrente und der Grundsicherung ergeben sich durch die notwendige Beantragung bei der Grundsicherung und die Einkommens- und Vermögensprüfung.
Wenn man berücksichtigt, dass Versicherte, die die Grundrentenzeiten erfüllen, nahezu keine Altersarmut trifft, stellt sich ernstlich die Frage, warum das Sozialsystem Nichtbedürftige durch die Grundrente begünstigen sollte.
Der Staat sollte die Grundrente oder ein vergleichbare Absicherung ab einem bestimmten Alter (aber nicht ab 62!) einfach grundsätzlich auszahlen – quasi eine Art BGE im Alter.
Die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und andere volkswirtschaftliche Gleichgewichte dürften überschaubar sein.
Die wertenden Entscheidungen, die der Gesetzgeber zu treffen müssen glaubt, hinsichtlich der Lebensumstände, die zu einem Erwerb von Grundrentenansprüchen berechtigen, sind paternalistisch, meritokratisch und leicht manipulierbar.
Die gesetzliche Rentenversicherung kann dann, unter Beibehaltung des Ä.Prinzips und der bestehenden Ansprüche, komplett auf freiwillige Mitgliedschaft umstellen – als Ergänzungsangebot für private Altersvorsorge. Der Staat sichert die Anwartschaften der freiwilligen Mitglieder ab, falls ihre Zahl in Zukunft abnehmen sollte. Die monatlich erwerbbare Anzahl von Entgeltpunkten muss, wie jetzt auch schon, beschränkt sein.
So würde man die gesetzliche Rentenversicherung stärken und nicht schwächen. Dass dies an der Finanzierung scheitern sollte, glaubt ja inzwischen hoffentlich niemand mehr.