GASP: Reden oder Angst haben?
Die Debatte um die neue Außen- und Sicherheitspolitik der EU hat seit dem Ausbruch der so genannten Krim-Krise oder Ukraine-Konflikt unglaublich an Aktualität und Schärfe gewonnen. Selbst bei einer oberflächlichen Betrachtung der Medien bekommt man den Eindruck, der neue Kalte Krieg steht vor der Tür, und die Europäische Union müsse sich demnächst gegen einen Einmarsch Russlands zur Wehr setzen, das endlich sein wahres Gesicht zeigen wird. Mehr Sicherheits- oder mehr Außenpolitik? Das scheint hier die Frage zu sein. Bei einer solchen weitreichenden Festlegung sollte man aber primär die äußeren Umstände grundlegend analysieren und erst dann versuchen, passende taktische und strategische Instrumente auszusuchen und in die eigene Politik zu implementieren.
Was in erster Linie bei einer kritischen Untersuchung der Situation auffällt, wie sehr in sämtlichen moralischen und rechtlichen Fragen die Europäische Union die Definitionshoheit erobert hat: Sie positioniert sich als Wertegemeinschaft und transferiert und implementiert ihre (exklusiven und richtigen) Werte auch in die Welt, denn diese sind übertragungsfähig und befolgungswürdig, sie machen das Leben der Völker weltweit besser und die Missionare dieser Werte zu besseren Menschen. Eine solche Sichtweise erinnert an Zivilisationstheorien, wie sie den öffentlichen Diskurs in den USA in den 1960er Jahren prägten, als US-Präsident Lyndon B. Johnson verkündete, die Herzen und Verstand der Menschen in anderen Ländern (diesmal war das Vietnam) gewinnen zu wollen.
Im Verhältnis zwischen der Ukraine und der EU sollen die gleichen Instrumente eingesetzt werden, wie der wunderbare Beitrag von Caroline von Gall erkennen lässt. Die Eroberung der Herzen findet mit guten Mitteln der Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten und good governance statt. Dabei bleibt leider die Frage offen, ob diese Werte wirkungsvoll in der empirischen Realität einer höchst heterogenen Gesellschaft implementiert werden können. Man soll sich nicht von der Illusion leiten lassen, die Werte seien so gut und einzig richtig, dass sie in jedem Land genauso wie in Deutschland funktionieren werden. Plakativ formuliert: good governance ist keine Mercedes S-Klasse, die überall auf der Welt gleich aussieht.
Die Transformation einer Gesellschaft insbesondere nach einer Revolution ist ein langwieriger Prozess, in dem die Weichen für die politische Zukunft eines Landes gestellt werden, was insbesondere davon abhängt, ob die Bevölkerung das Gefühl hat, mitbestimmen zu können und mit ihren Wünschen Gehör zu finden. Mit anderen Worten kann eine Transformation nur dann gelingen, wenn diese als etwas aus der Gesellschaft Kommendes, von dieser Entwickeltes und daher Genuines empfunden wird. Nichts kann eine dauerhafte Präsenz von bestimmten Werten oder Moralvorstellung in einer Gesellschaft besser gewährleisten als die eigene Entscheidung, sich gerade zu diesen Werten zu bekennen, ein Narrativ über die schwierige Geschichte und die gemeinsame Suche nach passenden Ideen. Dementsprechend wird sich jede von außen kommende und mit fremden Mitteln finanzierte Idee, auch wenn sie von den besten Vorsätzen getragen ist, nicht auf die Dauer in einer Gesellschaft festsetzen.
Die aktive Einmischung in die Suche nach einer passenden Transformationsidentität in der Ukraine kommt von beiden „Blöcken“. Nicht nur bieten sie verschiedene Identitäten an, man versucht vielmehr auch diese dauerhaft zu verankern und damit Einfluss auf die zukünftige geopolitische Ausrichtung des Landes zu nehmen. Crane Brinton verglich in seinem Buch „Anatomy of Revolution“ revolutionäre Situationen mit einer gesamtgellschaftlichen Krankheit, einem Ausnahmezustand, der zeitlich beschränkt wird, auf den eine Normalisierung folgt. In der Zwischenzeit, wie bei einem Virus, findet eine Polarisierung der Gesellschaft statt, radikale Kräfte erhalten dabei eine Plattform und können – im Falle des Machterhalts – gegen eigene Gegner solange repressiv agieren, bis sich die Mehrheitsgesellschaft sich konsolidiert und ihnen die Macht entreißt. Die Enthauptung Robespierres am 28. Juli 1794 ist das grausame Geschichtsbeispiel für diese These. Wenn andere Staaten gestaltend auf die Prozesse in einem Transformationsstaat einwirken und dabei – um in Sprache Brintons zu bleiben – versuchen als Ärzte aufzutreten, die ein „Wundermittel“ für alle Patienten haben, werden sie damit womöglich mehr Schaden anrichten als Nutzen bewirken.
Welche Schlussfolgerungen lassen sich daraus für die europäische Außen- und Sicherheitspolitik ziehen?
Alle involvierten Parteien müssen das Recht des ukrainischen Volkes (unabhängig von der jeweiligen ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit der Bürger) beachten, über eigene Probleme selbstbestimmt in einem legitimen Verfahren ergebnisoffen zu entscheiden. Man soll sich damit abfinden, dass sich die Nation in einem desolaten Zustand befindet und gerade eine zwar verspätete, aber immer noch notwendige Transformation durchläuft. Dieser Weg ist steinig und schwer, aber niemand kann den Ukrainerinnen und Ukrainern abnehmen, ihn zu gehen.
Die EU sollte sich den empirischen Realitäten nicht verschließen und – im Falle der „beratenden“ Einmischung – die bestehenden Tatsachen in die eigene Politik einfließen lassen, d.h. für eine starke Föderalisierung einer heterogenen und zutiefst zerstittenen Gesellschaft plädieren, sowie sich für einen Austausch seit über zehn Jahren herrschenden Eliten einsetzen, z.B. eine transparente Lustration innerhalb des nationalen Beamtentums.
Im Umgang mit der Russischen Föderation kann man sich nur den Anmerkungen von Silvia von Steinsdorff anschließen, die im Rahmen diesen Symposiums sich gegen sämtliche Entweder-Oder-Entscheidungen ausspricht. Wenn die europäische Politik im Umgang mit ihren Nachbarn in der Tat vom Friedlichkeitsgedanken geleitet ist, dann muss es beim Primat der Außenpolitik gegenüber der Sicherheitspolitik bleiben, also bei einer Politik des Kompromisses. Ein Gespräch als Kommunikationsvorgang setzt aber selbstverständlich voraus, dass man bereit ist, die Argumente des anderen zu hören und ernst zu nehmen. Solange man aber für sich eine hegemoniale Deutungshoheit in sämtlichen Streitpunkten beansprucht, kann ein ernst gemeintes Gespräch nicht zustande kommen.The recent debates over the EU’s Common Foreign and Security Policy (CFSP) have been intensified through the Crimea-Crisis. The feeling of a new Cold War is in the air, the European Community is endangered by the Russians, who are now (finally) showing their true colors. This begs the question: Should we plead for more external security and less foreign policy within the European Community? The right policy choice, i.e. the implementation of appropriate strategic and tactical tools, depends on the analysis of the factual circumstances in the wake of the current crisis.
The first striking fact is that the EU grasped hegemony over the definition of legal and moral terms: it is presenting itself as a community of shared values that is exporting its (exclusive and universally valid) values to the entire world. This export is the “thing to do” because these European values (are likely to?) improve the living conditions of people worldwide and at the same time morally perfect the missionaries of the right. Such an approach reminds one of civilization theories of the 1960s which tried to find the cure for political and economic problems of the so called Third World (endangered by communism) and the campaign of the Lyndon B. Johnson administration, struggling for the “hearts and minds” of people overseas (this time in Vietnam).
With regard to the Ukraine-EU relationship we can observe the implementation of the instruments mentioned above, which is exemplified by the wonderful essay by Caroline von Gall. Rechstaatlichkeit (this truly German concept), human rights and good governance are invoked in order to conquer the hearts and minds of the Ukrainians. Still the question remains whether it is empirically possible to realise such noble ideas within the deeply heterogenous Ukranian enviroment. It would be, to say the least, inaccurate to assume that these (right) values can be accomplished in any country the same way the Germans accepted/assimilated them after World War II. Putting it straight: good governance should not be confused with a Mercedes S-Class that runs equally smooth not matter where the rubber hits the road .
The transition of a society, especially a post-revolutionary transition, is a protracted process that sets the course for the future political development of the country. Therefore, it is crucial for the success of the switch-over that citizens acquire the means to shape this process and get a positive feeling in terms of (adaptive) responsiveness, of being heard and their voices being considered in political decision making. Therefor the transformation should be considered as a down-up authentic movement. A genuine belief in any political or moral idea can be only created by means of common decision making and the gradual and evolutionary (bottom up) development of common narratives, i.e. inclusive debates over the right political ideals and common decisions to follow a certain developmental path. Any “foreign-sponsored” concept coming and financed from anywhere “outside” would be considered as unsuitable, no matter what aims sponsors seek.
The current developments in the Ukraine bring to the fore the foreign involvement from both sides of the Ukrainian borders. Different identities are offered and every camp is trying to shape the future political landscape together with the Ukraine’s geopolitical orientation. In his perceptive study “Anatomy of Revolution” Crane Brinton depicts revolutionary societies as bodies attacked by a disease. This exceptional pathological condition is limited in time and is then followed by normalisation (healing). Though, in the meantime the whole body politic is under severe attack, it is polarised as radical forces on both sides of political spectrum obtain access to political debates and may even build a government, which in turn may be followed by repressions against political opponents. This path is then interrupted by societal normalisation. The decapitation of Robespierre, the true radical brought by the French Revolution, in 1794 is a ferocious illustration of this development. In case other forces intervene in the healing process by offering panaceas, the actual harm for the patient could be even greater than the potential benefits.
What is the homwork to be done by the European CFSP?
First, all parties involved should respect the right of Ukrainian people (regardless of ethnicity or religion) to choose their own path by a legitimate procedure unbiased as to the result. Other countries should accept the current dissatisfactory condition of the Ukrainian society that goes through the delayed albeit indispensible transformation.
Second, the EU and its Member States must respect the empirical realities to be found within the Ukrainian borders. If external “counsel” is offered the policy recommendations should be based on realities and not on wishful thinking. The EU should plead for more federalisation of heterogeneous and estranged society together with the complete exchange of its ruling elites requiring a complete lustration.
Finally, considering EU-Russia relations I can only join Silvia von Steinsdorff’s opinion, who strongly opposed any strictly binary geopolitical decisions. If the EU is truly interested in good and peaceful relationships with its neighbours, more attention should be paid to foreign policy than to external security issues. A conversation as any other act of communication requires that opponents are willing to listen to each other and take each other’s arguments seriously. For as long as one party claims the prerogative of interpretation no conversation can take place.
I am very greatful to Michael Schwarz for making this text better than it was possible for me.
In der gesamten Ukraine-Diskussion lassen sich m. E. zwei Meta-Auffassungen ausmachen: Die eine plädiert dafür, die Ukraine in Ruhe zu lassen und sie selbst entscheiden zu lassen; die andere, weit in der Mehrzahl, sieht den Konflikt zwischen Russland und “dem Westen” und positioniert sich dementsprechend. Das Problem mit der Ersteren ist: Sie ist ein frommer Wunsch. Die EU kann nicht keine Position einnehmen, weil Russland dies auch nicht tat. Stattdessen schuf Russland schnell und hart militärische und geopolitische Fakten. Ein Schweigen in dieser Situation hieße schlichtweg, denjenigen Teil der Ukrainer, die eine Hinwendung zum Westen wünscht – und die leben nicht nur im Westen – im Stich zu lassen.
[…] Sicherheitspolitik: Reden oder Angst haben? Die Debatte um die neue Außen- und Sicherheitspolitik der EU hat seit dem Ausbruch der so genannten Krim-Krise oder Ukraine-Konflikt unglaublich an Aktualität und Schärfe gewonnen. Selbst bei einer oberflächlichen Betrachtung der Medien bekommt man den Eindruck, der neue Kalte Krieg steht vor der Tür, und die Europäische Union müsse sich demnächst gegen einen Einmarsch Russlands zur Wehr setzen, das endlich sein wahres Gesicht zeigen wird. Mehr Sicherheits- oder mehr Außenpolitik? Das scheint hier die Frage zu sein. Bei einer solchen weitreichenden Festlegung sollte man aber primär die äußeren Umstände grundlegend analysieren und erst dann versuchen, passende taktische und strategische Instrumente auszusuchen und in die eigene Politik zu implementieren. Was in erster Linie bei einer kritischen Untersuchung der Situation auffällt, wie sehr in sämtlichen moralischen und rechtlichen Fragen die Europäische Union die Definitionshoheit erobert hat: Sie positioniert sich als Wertegemeinschaft und transferiert und implementiert ihre (exklusiven und richtigen) Werte auch in die Welt, denn diese sind übertragungsfähig und befolgungswürdig, sie machen das Leben der Völker weltweit besser und die Missionare dieser Werte zu besseren Menschen. Eine solche Sichtweise erinnert an Zivilisationstheorien, wie sie den öffentlichen Diskurs in den USA in den 1960er Jahren prägten, als US-Präsident Lyndon B. Johnson verkündete, die Herzen und Verstand der Menschen in anderen Ländern (diesmal war das Vietnam) gewinnen zu wollen. Quelle: Verfassungsblog […]
Lieber Herr Levin,
Vielen Dank für den Beitrag! Ein paar Fragen bleiben.
Welche russischen Argumente wurden in der Debatte den nicht gehört und ernst genommen, die es verdienen ernst genommen zu werden?
und
Ist eine unabhägige Gesellschaft, die ihre eigene Identität ausbildet in einer stark vernetzten Welt (Internet, CNN, russisches Fernsehen) nicht illusorisch?
Ihr Text war Hauptbestandteil meiner diesjährigen Politikwissenschatsprüfung im Abitur ! :)