Gleichheit vor der Triage
Rechtliche Rahmenbedingungen der Priorisierung von COVID-19-Patienten in der Intensivmedizin
Die Gesundheitssysteme in Europa bereiten sich auf den Fall vor, dass für die Behandlung von lebensbedrohlich erkrankten Patient/innen nicht mehr ausreichend Intensivbetten zur Verfügung stehen. Wer soll den Beatmungsplatz erhalten, wenn für fünf hochdringliche Beatmungspflichtige aktuell nur ein Beatmungsgerät zur Verfügung steht? Ist es erlaubt, die intensivmedizinische Behandlung eines Patienten zugunsten eines anderen mit höherer Überlebenswahrscheinlichkeit wieder abzubrechen? In beiden Szenarien stehen die behandelnden Ärzt/innen vor einem tragischen Entscheidungskonflikt. Unabhängig davon, wie diese Entscheidung ausfällt, würden Patient/innen sterben, die ohne Knappheitsbedingungen gerettet werden könnten.
Da es derzeit keine konkreten gesetzlichen Vorgaben für die Priorisierung in der Intensivmedizin im Pandemiefall gibt, versuchen medizinische Fachgesellschaften und wissenschaftliche Akademien durch Empfehlungen zur „Triage“ von COVID-19-Patient/innen in der Intensivmedizin Orientierungssicherheit zu schaffen. Für Deutschland sind dies v.a. die Empfehlungen der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) zur intensivmedizinischen Behandlung von COVID-19-Patienten, für die Schweiz die von der der Schweizerischen Akademie der Wissenschaften (SAMW) vorgelegten Richtlinien zur Triage von intensivmedizinischen Behandlungen bei Ressourcenknappheit. Über die Angemessenheit der dort aufgestellten Kriterien wird eine kontroverse Debatte zwischen Ethiker/innen (z.B. Weyma Lübbe im Verfassungsblog, Bettina Schöne-Seifert in der F.A.Z), klinischen Intensivmediziner/innen und Jurist/innen geführt.
Die inhaltlichen Dissense zwischen den (überwiegend) Outcome-orientierten Positionen der klinischen Medizinethik und den Rechte-orientierten Ansätzen der Rechtswissenschaft lassen sich jedoch nicht im Sinne eines „richtig“ oder „falsch“ beantworten. Vielmehr geht es darum, die Kompetenzverteilung zwischen Medizin, medizinischer Ethik und Recht bei der Regelung der Priorisierung von Patienten zu klären. Dass die Allokation knapper Gesundheitsressourcen nicht im rechtsfreien Raum erfolgt, ist eine Erkenntnis, die sich im Kontext der Organtransplantation nach heftigen Kontroversen zwischen Medizin und Recht inzwischen allgemein durchgesetzt hat. Obgleich die SAMW angesichts beginnender Kritik darauf hinweist, dass ihr Triage-Diskurs „nicht für medizinische Laien“ bestimmt sei, stehen die in existentieller Weise grundrechtsrelevanten Entscheidungen über die Priorisierung von COVID-19-Patient/innen doch ebenso wenig wie die Kriterien der Zuteilung von Organen zur Transplantation zur freien Disposition professioneller oder „ethischer“ Selbstregulierung der Medizin.
Rechtliche Grenzen medizinischer Ethik
Der Versuch, die Verteilung knapper lebensrettender Ressourcen durch klinisch-ethische Empfehlungen anzuleiten, ist zweifellos besser, als die Ärzte in dieser Situation alleine zu lassen. Die Möglichkeiten einer „Steuerung durch Ethik“ sind indessen schon durch die enormen theoretischen Dissense in der Moralphilosophie begrenzt. In der ethischen Diskussion wird alles vertreten. Das Spektrum reicht von einer Betonung der radikalen Gleichwertigkeit jedes menschlichen Lebens über Positionen, die die Zahl der zu gewinnenden Lebensjahremaximieren wollen und deshalb offen eine Diskriminierung Älterer fordern, bis hin zu gesundheitsutilitaristischen Positionen, die eine Maximierung der erwartbaren Lebensqualität im Patientenkollektiv oder gar die Maximierung eines breit verstandenen „sozialen Gesamtnutzens“ des Ressourceneinsatzes anstreben. Es sind die Pluralität und mangelnde Konsensfähigkeit der in der Gesellschaft vorfindlichen Moralprogramme, die es nötig machen, dass das Wichtigste durch das Recht geregelt wird. Die den medizinethischen Diskurs dominierende Leerformel „Triage“ suggeriert, dass sich aus dem Umstand, dass knappe lebensrettende Ressourcen zugeteilt werden müssen, Sondernormen nicht nur im Hinblick darauf ergeben, wie zu entscheiden ist, sondern auch darauf, wer zu entscheiden hat. Ein solches Denken in Kategorien eines Ausnahmezustands ist in beiden Hinsichten falsch. Tragische Knappheitssituationen in der medizinischen Versorgung tragen die normativen Kriterien zu ihrer Bewältigung weder in sich noch verleihen sie den behandelnden Ärzten eine besondere Legitimation. Vor allem liegt die Zuteilung knapper lebensrettender Ressourcen nicht außerhalb der Prinzipien des die Grundrechte aller Bürger achtenden Rechtsstaats; sie ist vielmehr ihr wichtigster Anwendungsfall. Die genannten Richtlinien und Empfehlungen sind jedoch mit elementaren verfassungsrechtlichen und strafrechtlichen Vorgaben unvereinbar.
Der Rechtsrahmen für die Priorisierung von hochdringlichen COVID-19 Patienten
Das Verfassungsrecht garantiert allen bedürftigen Patienten zunächst einen individuellen grundrechtlichen Anspruch auf chancengleiche Teilhabe an den intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten. Bedürftig sind alle Patienten, für die eine Intensivpflege individuell – also unabhängig von der Ressourcensituation – medizinisch indiziert ist. Chancengleichheit ist, dies ist der zweite Gedankenschritt, grundrechtsspezifisch zu gewährleisten. Der Begriff der Lebenswertindifferenz bringt zum Ausdruck, dass das hier einschlägige Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit in besonderer Weise egalitär ist: Jedes Leben ist gleich viel wert, jedes Lebensrecht ist gleich stark, unabhängig von Alter, Gesundheitszustand, Lebenserwartung oder sozialer Stellung. Wenn Lebenswertindifferenz bedeutet, dass menschliches Leben und menschliche Würde „ohne Rücksicht auf die Dauer der physischen Existenz des einzelnen gleichen verfassungsrechtlichen Schutz“ genießen, wie es das Bundesverfassungsgericht formuliert, verbleibt hier insbesondere kein Spielraum für unmittelbare oder mittelbare Altersrationierung. In Knappheitssituationen, in denen es für jeden Patienten um Leben und Tod geht, gibt es deshalb kaum noch sachliche Gründe, die es ermöglichen, bei der Auswahl von Patientinnen für den Zugang zur intensivmedizinischen Behandlung auf rechtmäßige Weise zu differenzieren. Das Grundgesetz setzt utilitaristischem Denken an dieser Stelle harte Grenzen.
Dringlichkeit vor Erfolgsaussicht – auch im Pandemiefall
Nicht nur zulässig, sondern geboten ist allein das Kriterium der Dringlichkeit, das heißt Vorzug verdienen diejenigen Patientinnen, die ohne Beatmung mit hoher Wahrscheinlichkeit sterben würden, sofern die intensivmedizinische Behandlung für sie nicht bereits individuell aussichtslos ist. Diese hochdringlichen Patienten sind nicht immer, aber häufig zugleich diejenigen mit den schlechteren Erfolgsaussichten. Der Vorrang der Dringlichkeit vor der Erfolgsaussicht gilt unabhängig davon, ob man die Erfolgsaussicht in geretteten Lebensjahren (Prognose der Gesamtüberlebenszeit eines Patienten) oder in den Erfolgsaussichten der Intensivtherapie misst: Dass bei Herrn Müller die Beatmung nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 30% erfolgreich verlaufen wird, bei Herrn Meier dagegen mit einer Wahrscheinlichkeit von 50%, ist kein legitimer Grund dafür, Herrn Müller von vornherein den Zugang zur Intensivtherapie zu verweigern. Für beide geht es gleicherweise um Alles. Erst recht darf es keine Rolle spielen, ob Herr Müller aufgrund bestimmter Vorerkrankungen oder seines Alters eine geringere Rest-Lebenserwartung hat. Jenseits einer individuell zu bestimmenden Minimalnutzenschwelle darf die relative Erfolgsaussicht daher auch dann keine Beachtung finden, wenn für die dringlichen Patienten nicht mehr ausreichend Beatmungsgeräte zur Verfügung stehen.
Medizinische Prognose als Altersdiskriminierung
Die Empfehlungen der DIVI bekennen sich ebenso wie die Schweizer Richtlinien nur vordergründig zum Prinzip der Lebenswertindifferenz. Genau für den Fall, auf den es ankommt, nämlich für die Situation, dass die intensivmedizinischen Ressourcen knapp werden, stellen die Richtlinien konsequent von Dringlichkeit auf Erfolgsaussicht um: Nunmehr sollen diejenigen Patienten systematisch vom Zugang zur Intensivmedizin ausgeschlossen werden, die entweder die schlechtere medizinische Rettungsprognose oder eine geringere mittelfristige Lebenserwartung haben. Während die Empfehlungen der deutschen intensivmedizinischen Fachgesellschaften es vermeiden, klar auszusprechen, was Orientierung an den „Erfolgsaussichten der möglichen Intensivtherapie“ in der klinischen Praxis genau bedeutet, nehmen die Schweizer Richtlinien kein Blatt vor den Mund. Ein Lebensalter über 85 Jahre gilt als selbständiges und absolutes Nicht-Aufnahmekriterium. Bereits ein Alter von über 75 Jahren wird als Nicht-Aufnahmekriterium gelistet, sofern der Patient zudem eine Vorerkrankung wie zum Beispiel eine (leichte) Herzinsuffizienz mit leichter Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit (Stadium NYHA II) aufweist. Als „Begründung“ für diese auch nach Schweizerischem Verfassungsrecht unzulässige (und auch von der SAMW offiziell abgelehnte) direkte Altersdiskriminierung verweisen die Richtlinien auf eine chinesische Studie, wonach „das Alter ein Indikator für die Prognose“ sei. Die Richtlinien verstehen diesen statistischen Befund als im Einzelfall nicht widerlegbare Vermutung für eine ungenügende Aussicht. Die „medizinische Prognose“ wird hier als bloßer rhetorischer Deckmantel für die negative Selektion alter Menschen kenntlich. Das Nichtaufnahmekriterium „mittelschwere nachgewiesene Demenz“ hat schließlich gar nichts mehr mit Lebensrettung zu tun; die Richtlinien gehen hier unmittelbar zu einer Definition rettungsunwerten Lebens über.
Medizinethische Kriterien ohne ethische Begründung
Den Empfehlungen und Richtlinien der medizinischen Fachgesellschaften ermangeln nicht nur einer angemessenen Reflexion auf den rechtlichen Rahmen, in dem sie sich bewegen. Auch die Wahl der in Anschlag gebrachten ethischen Prinzipien erfährt so gut wie keine Begründung. Den mit Hilfe des Vereins Akademie für Ethik in der Medizin formulierten DIVI-Empfehlungen fehlt bereits jede Auskunft darüber, welche normativen Prinzipien ihnen überhaupt zugrunde gelegt wurden. Die von der SAMW vorgelegten Richtlinien begnügen sich mit einem Globalverweis auf die „vier weitgehend anerkannten medizin-ethischen Prinzipien“ des Standardlehrbuchs von Beauchamp & Childress (Gutes tun, Nichtschaden, Respekt vor der Autonomie und Gerechtigkeit), aus denen sich keinerlei Kriterien für eine „Triage“ hinsichtlich Aufnahme und Verbleib von COVID-19-Patientinnen auf der Intensivstation ergeben.
Das Ziel, im Verlauf einer Pandemie „die grösstmögliche Anzahl von Leben zu retten“ (SAMW), ist intuitiv so plausibel, dass es selbst vom Deutschen Ethikrat nicht in Frage gestellt wird. Seine Verfolgung scheint dem Leben der Menschen, die von dieser Politik negativ betroffen sind, auf den ersten Blick nicht weniger Wert zuzumessen als dem der zu rettenden Personen: Hat man bei der Vergabe des Beatmungsplatzes zwischen einem 75-jährigen Patienten mit Vorerkrankungen und einem jüngeren Patienten ohne Vorerkrankungen zu wählen, und entscheidet sich für den älteren Patienten, so steigt hierdurch in der Tat das Risiko, dass beide Patienten sterben. Zudem würden auch die prognostisch längeren Beatmungszeiten älterer Patient/innen zu einer insgesamt größeren Sterblichkeit führen, so dass die Anwendung der Triage-Richtlinien tatsächlich die Anzahl der geretteten Leben maximieren könnte. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob der so verstandene Gesichtspunkt der Ressourceneffizienz auch normativ einen Unterschied begründet, der es rechtfertigt, ältere und erkrankte Menschen mit weniger guter Prognose systematisch vom Zugang zur Intensivmedizin auszuschließen. Die Antwort lautet: Nein. Herrn Müller darauf zu verweisen, er werde deshalb nicht intensivmedizinisch behandelt, weil die Behandlung von Herrn Meier eine größere Erfolgsaussicht habe und hierdurch langfristig und in Summe mehr Menschen gerettet werden könnten, verletzt Herrn Müllers individuellen grundrechtlichen Anspruch auf chancengleiche Teilhabe an den intensivmedizinischen Ressourcen „jetzt und hier“. Die Gegenauffassung verlangt von älteren Menschen und Menschen mit Vorerkrankungen ein unzumutbares Sonderopfer und führt zu einer faktischen Entleerung ihrer Grundrechtspositionen. Sie verkennt, dass sich „juristische Gerechtigkeit“ im Rechtsstaat an individuellen Rechtspositionen orientiert und nicht an einem zu erwartenden medizinischen Kollektivnutzen. Das Lebensrecht ist in der Tat nonaggregativ: Der Wert eines Lebens darf nicht gegen ein anderes abgewogen und auch nicht mit mehreren anderen möglicherweise zu rettenden Leben verrechnet werden. Nicht nur ein Triage-Kriterium der Maximierung der geretteten Lebensjahre, sondern auch das Kriterium, die Anzahl der geretteten Leben um jeden Preis zu maximieren, würde eine „krasse Abstandnahme vom eingeübten Blick auf die medizinische Bedürftigkeit„ fordern.
Nachträgliche Triage?
Die Richtlinien der SAMW und die Empfehlungen der DIVI gehen noch einen Schritt weiter, indem sie auch nach der einmal aufgenommenen intensivmedizinischen Behandlung eine regelmäßige Anwendung von prognoseorientierten Triage-Kriterien vorsehen. Den DIVI-Empfehlungen zufolge soll eine Re-Evaluation der Intensivtherapie nicht nur bei einer „klinisch relevante[n] Zustandsveränderung der Patienten“, sondern auch „bei verändertem Verhältnis von Bedarf und zur Verfügung stehenden Mitteln“ stattfinden. Auch für „Entscheidungen über Therapiezieländerung bei laufender intensivmedizinischer Behandlung“ soll als Priorisierungsregel gelten, wie gut die Erfolgsaussichten der laufenden Intensivtherapie „[i]m Vergleich zu anderen Patienten mit intensivmedizinischem Bedarf“ scheinen. Eine gesteigerte Knappheit soll demnach dazu führen können, die lebensrettende Intensivtherapie eines Patienten abzubrechen, um den Intensivplatz für einen anderen Patienten mit relativ höherer „Erfolgsaussicht der Intensivtherapie“ freizumachen.
Ob ein Beatmungsgerät wieder abgeschaltet werden darf, richtet sich indes nach den strafrechtlichen Grundsätzen der passiven Sterbehilfe. Danach ist ein Behandlungsabbruch dann – und nur dann – gerechtfertigt, wenn dieser entweder dem (zumindest mutmaßlichen) Willen des Patienten entspricht oder wenn die individuelle medizinische Indikation für die Weiterbehandlung entfallen ist. Letzteres darf indes nur dann angenommen werden, wenn die Weiterbehandlung so aussichtslos ist, dass man sie auch ohne Ressourcenknappheit nicht weiterführen würde. Wie der Umstand, dass zu zehn Patienten, die bereits beatmet werden, ein elfter Patient mit relativ günstigerer Prognose hinzukommt, einen Einfluss auf die individuelle medizinische Indikationsstellung für die bereits behandelten Patienten haben soll, erschließt sich nicht. Vielmehr zeigt sich, dass sich hinter dem vorgeblich medizinischen Kriterium der Indikation normative Wertentscheidungen verbergen, für die die Medizin weder kompetent noch zuständig ist.
Der Deutsche Ethikrat hat demgegenüber zu Recht darauf hingewiesen, dass es strafrechtlich nicht zu rechtfertigen ist, einen in Gang gesetzten rettenden Kausalverlauf aktiv abzubrechen, um hierdurch einem anderen Patienten mit besserer Prognose helfen zu können. Auf eine rechtfertigende Pflichtenkollision lässt sich der aktive Behandlungsabbruch nicht stützen, weil diese lediglich die Kollision gleichwertiger Handlungspflichten erfasst, von denen nur eine erfüllt werden kann. Kollidieren dagegen eine Handlungspflicht (Rettung des neu eingelieferten Patienten) mit einer Unterlassungspflicht (nicht in fremde Rechtsgüter eingreifen), so geht letztere der ersteren vor – es sei denn, es liegt ein Fall des rechtfertigenden Notstands nach § 34 StGB vor. Der in der Strafrechtswissenschaft weithin anerkannte „Vorrang der Unterlassungs- vor der Handlungspflicht“ im Kontext der echten Pflichtenkollision beruht entgegen Tatjana Hörnle daher nicht auf der bloß phänomenologischen Unterscheidung von Tun und Unterlassen, sondern findet seinen inhaltlichen Grund in dem systematischen Verhältnis von rechtfertigendem Notstand und rechtfertigender Pflichtenkollision. Während der übergesetzliche Rechtfertigungsgrund der Pflichtenkollision auf der Einsicht beruht, dass von Niemandem Unmögliches verlangt werden kann, basiert § 34 StGB auf dem Gedanken des (wesentlich) überwiegenden Interesses. Der Vorschlag, auch in klassischen Notstandssituationen eine rechtfertigende Pflichtenkollision anzunehmen, zielt letztlich allein darauf, die anerkannten Grenzen der Notstandsrechtfertigung zu unterlaufen. Denn eine Notstandsrechtfertigung der nachträglichen Triage kommt nicht in Betracht, weil aus dem Prinzip der Lebenswertindifferenz das Verbot einer Abwägung von Leben gegen Leben folgt. Die nur einen Schiffbrüchigen tragende Schiffsplanke steht rechtlich demjenigen zu, der sie zufällig als erster erreicht, und zwar auch dann, wenn dieser aufgrund seines Alters und seiner körperlichen Konstitution insgesamt eine schlechtere Überlebensprognose als andere hat. Dieses als „Brett des Karneades“ bekannte philosophische und strafrechtliche Schulbeispiel lehrt, dass das Strafrecht dem „Schicksal“ in Katastrophensituationen normative Bedeutung beimisst. Die Beachtung des Prioritätsprinzips („first come, first served“), welches nach den Schweizer Richtlinien angeblich „nicht zur Anwendung gelangen darf“ ist daher sowohl für die vorsorgliche als auch für die nachträgliche „Prognose-Triage“ strafrechtlich zwingend vorgegeben.
Keine Selbstverwaltung der „Triage“
Deutschland hat eine hervorragende Intensivmedizin. Gleichwohl wäre es naiv, zu glauben, man könne den Ärztinnen und Ärzten ohne Weiteres auch die Entscheidung über die Grundrechte ihrer Patientinnen anvertrauen. In Deutschland sind die Erfahrungen mit Triagekriterien, die in ärztlicher „Selbstverwaltung“ aufgestellt werden, bislang außerordentlich beunruhigend. So hat für die strukturell vergleichbare Situation der Verteilung von lebensrettenden Lebern zur Transplantation die sog. „Ständige Kommission Organtransplantation der Bundesärztekammer“ seit langem wider alle medizinischen Daten verfügt, hochdringlichen Patienten mit alkoholbedingter Leberzirrhose, die noch nicht nachweislich ein halbes Jahr abstinent sind, den Zugang auf die Warteliste zu verweigern. Diese Personengruppe wurde damit zu rettungsunwertem Leben erklärt. Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat dies 2017 als offensichtlich gesetzes- und verfassungswidrig kritisiert. Geändert hat sich seither nichts.
Die Unvermeidbarkeit tragischer Entscheidungen
Die vorstehende Kritik an den Richtlinien der medizinischen Fachgesellschaften soll nicht suggerieren, dass sich tragische Auswahlentscheidungen bei einer weiteren Zuspitzung der COVID-19 Pandemie vermeiden lassen. Von dem deutschen Virologen Christian Drosten wurde die Pandemie als „Naturkatastrophe in Zeitlupe“ beschrieben. Die Trauer über die Opfer eines Erdbebens ist unvermeidlich, es handelt sich um ein tragisches Unglück. Wenn wir aber beginnen, diejenigen, die wir lebend aus den Trümmern bergen, nach Alter und relativer medizinischer Prognose zu selektieren, opfern wir zugleich die Fundamente unseres Rechtsstaats; aus dem Unglück wird Unrecht. Dies gilt es zu vermeiden, indem wir die Ressourcenallokation konsequent am Kriterium der Dringlichkeit orientieren und zwischen gleichermaßen dringlichen Patienten, ohne Ansehen der Person, also etwa nach dem Zufallsprinzip oder nach dem Prioritätsprinzip differenzieren. Es ist eine keineswegs zynische Haltung des Rechts, wenn es den in der Tat besonders belasteten Pflegenden und Ärzten auf den Weg gibt, dass das Faktum der Ressourcenknappheit von ihnen nicht verlangt, sich selbst in Unrecht zu verstricken.
1. Ein BVerfG-Urteil von 2006 über den Abschuss eines Flugzeugs;
2. Ein realitätsfernes theoretisches Beispiel (Herr Müller 30% Überlebenschance, Herr Meier 50%);
3. Ein ebenso realitätsfernes Beispiel aus der Moralphilosophie (Brett des Karneades).
Kein einziges Wort über das reale Problem, dem sich Mediziner gegenübersehen (abgesehen davon, dass es diametral anders gelöst wird, als von den Autoren vorgeschlagen). Zum Beispiel in die Richtung, dass:
– zur Auswahl stehen kann, ob jemand mit 3% Überlebenschancen eine Behandlung bekommt oder jemanden anderes mit 80% Überlebenschance;
– dass Letzterer sehr oft auch noch in Erziehungsverantwortung steht (also Kinder unter 18 hat), Ersterer dagegen selten;
– es über die derzeitige Triagepraxis keine gesellschaftliche Empörung gibt, diese also wohl akzeptiert ist;
– das Problem in großer Häufigkeit auftritt und dessen Lösung wohl auch nachhaltig sein muss,
– etc.
Alle ‚Feinheiten‘ einfach wegzulassen und stattdessen auf Basis einiger weniger rein abstrakter Überlegungen eine Vielzahl von schwerarbeitenden Medizinern in die Nähe von Straftätern zu rücken, finde ich nicht überzeugend.
Die Frage nach der ‘optimalen’ Triage bei Covid19 ist sicherlich sehr schwer zu beantworten. Aber m.E. muss sich eine Beantwortung dieser Frage zumindest auch auf die konkreten Fakten dieser Krise stützen und nicht allein auf abstrakte Gedankenspiele.
Was mir hier fehlt, ist die Begründung, wieso die zeitliche Komponente bei der vorsorglichen “Prognose Triage” im Gegensatz zur medizinischen Erfolgsprognose ein taugliches Abwägungskriterium sein soll.
Ist das denn nicht indirekte Altersdiskriminierung von jungen Menschen?
Mal angenommen, nach Beendigung der Corona-Epidemie müssten alle 21- bis 40jährigen in einem “Triage-Register” für alle Zeiten verbindlich zu Protokoll geben, nach welchen Kriterien in einer sie selbst betreffenden zukünftigen Knappheitssituation entschieden werden solle.
Ich nehme an, dass sich 99,9% der Befragten für eine “unmittelbare oder mittelbare Altersdiskriminierung” entscheiden würden. Buchstäblich jeder würde für sich selbst wünschen, als junger Mensch sein Leben überhaupt erst einmal leben zu dürfen, und dafür bereit sein, nach einem im Wesentlichen “gelebten” Leben notfalls auf das “Restleben” zu verzichten.
Diese Überlegung erweist die vom Autor als “utilitaristisch” diffamierten Lösungen als ungemein lebensnah, die typischen Verfassungsrechtler-Antworten (einschließlich der mutmaßlichen Antwort des BVerfG) dagegen als papiern und lebensfremd. Hier versagt eine ganze Zunft an der Aufgabe, Regeln zu entwickeln, die auf Akzeptanz in der Bevölkerung rechnen dürfen.