Grenzen
Waren Sie schon mal in Zittau? Nein? Ich auch nicht, keine Sorge. Niemand war schon mal in Zittau. Zittau, das ist das Entlegenste, das man sich vorstellen kann, die äußerste Peripherie, der hinterletzte Zipfel von Sachsen, dahinter kommt gar nichts mehr, nur noch…
Ja, was kommt eigentlich hinter Zittau?
Oder, falls Sie in Warschau sitzen: was kommt hinter Bogatynia? Oder wenn Sie in Prag sind: Was kommt hinter Hrádek nad Nisou?
Wenn ich mir die Landkarte betrachte, fallen mir zwei Dinge auf: Erstens, was heißt hier eigentlich Peripherie? Entlegen in Bezug worauf? Direkt östlich hinter Zittau fängt Polen an, direkt südlich Tschechien. Das gleiche gilt mutatis mutandis für das polnische Bogatynia und das tschechische Hrádek nad Nisou. Das ist mitten in Europa. Zentraler geht es kaum.
Zweitens: schauen Sie selbst.
Dieses Braunkohlerevier von Turów steht gerade im Mittelpunkt eines Rechtsstreits zwischen Tschechien und Polen vor dem EuGH. Die Betriebsgenehmigung war 2020 ausgelaufen und wurde von den polnischen Behörden bis 2026 verlängert, ohne eine reguläre Umweltverträglichkeitsprüfung durchzuführen. Das ist deshalb besonders pikant, weil die besagte Umwelt, für die der Tagebau verträglich ist oder nicht, ganz überwiegend – siehe Karte – nicht in Polen liegt, sondern in Deutschland und Tschechien.
Für diese Umwelt in Deutschland und in Tschechien geht es um eine Menge. Nach Berechnungen von Sachverständigen droht in der Innenstadt von Zittau, wenn der Tagebau wie geplant bis 2044 weitergeht, eine Bodenabsenkung von einem halben Meter und mehr. Auf der tschechischen Seite der Grenze droht der Grundwasserspiegel so weit zu sinken, dass der Zugang zu Trinkwasser in Gefahr gerät. Mit anderen Worten: diesseits der Grenze wird gebaggert, und jenseits der Grenze fallen die Brunnen trocken und die Häuser zusammen. Eindringlicher kann man kaum zeigen, was Staatsgrenzen für perverse Institutionen sind, wenn man sie wirklich beim Wort nimmt: als Markierung des Territoriums, wo die Verantwortung des einen Staates endet und die des anderen beginnt.
Wie gut, dass es sich um solche Grenzen hier längst nicht mehr handelt. Wie gut, dass die beteiligten Staaten allesamt dem gleichen supranationalen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts angehören. Der Europäischen Union nämlich. Die ist einst gegründet worden als Bindung der Mitgliedstaaten, sich nicht länger jeweils auf Kosten des anderen zu bereichern. Als rechtliche Bindung, überwacht von der Kommission und einklag- und durchsetzbar vor dem Europäischen Gerichtshof.
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Im Februar 2021 hat Tschechien Klage eingereicht gegen Polen. Dass ein Mitgliedstaat einen anderen verklagt, ist extrem selten und kam überhaupt erst neunmal vor in der Geschichte der europäischen Einigung und noch nie wegen eines Streits über Umweltpolitik. Tschechien beantragte eine einstweilige Anordnung und bekam sie: Die Vizepräsidentin des EuGH s Rosario Silva de Lapuerta ordnete letzten Freitag an, den Braunkohleabbau in Turów bis zum Erlass des Urteils zu stoppen.
Allein: die Bagger baggern unterdessen weiter, als wenn nichts wäre. Die polnische Regierung denkt nicht daran, die Regelungsanordnung der EuGH-Vizepräsidentin zu befolgen. Stattdessen verhandelt sie mit der tschechischen Regierung, ob die sich nicht vielleicht mit Geld überzeugen lässt, ihre Klage zurückzuziehen.
Untätigkeitsklage
Ich weiß, Sie können die Wortkombination “Polen” und “Rechtsstaatlichkeit” nicht mehr hören. Niemand kann die mehr hören. Ich kann die auch nicht mehr hören. Ich wünschte, ich könnte mal über was anderes schreiben, und Sie etwas anderes lesen. Das ist aber exakt das Problem.
An was gewöhnen wir uns da eigentlich gerade?
Der EuGH erlässt eine Anordnung, und die wird einfach missachtet. Auch das ist nicht das erste Mal. 2017 hat der EuGH angeordnet, dass Polen einstweilen den Holzeinschlag im Urwald von Bialowieza stoppen muss. Die PiS-Regierung ließ sich erst dazu herbei, diese Anordnung zu befolgen, als der EuGH für jeden Tag der Nichtbefolgung ein Zwangsgeld von 100.000 Euro verhängte. Das ist jetzt vier Jahre her. Seither hat die PiS-Regierung nicht den Hauch eines Zweifels daran gelassen, dass sie sich an EU-Recht exakt so lange und so weit zu halten gedenkt, wie sie dies nützlich findet, und zwar nicht nur, wenn es um irgendwelche unbequemen Richter_innen geht, sondern ganz generell und prinzipiell. Wozu es dann überhaupt noch EU-Recht braucht? Gute Frage.
Daran gewöhnen wir uns gerade.
Die EU schafft sich eine Rechtsgrundlage, um bestimmte Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit bei der Verteilung von Transfermitteln sanktionieren zu können. Aber der Rat beschließt dazu flugs eine Erklärung, wonach die Kommission mit dem Sanktionieren keinesfalls anfängt, bevor nicht a) der EuGH den ganzen Mechanismus gutgeheißen und b) die Kommission sich dazu Richtlinien erarbeitet hat. Beides, die aufschiebende Wirkung des EuGH-Verfahrens und die Notwendigkeit irgendwelcher Richtlinien, sind zwar europarechtlich aus der blauen Luft gepflückt, aber hey: die Herren der Verträge wollen das halt so! Und damit nicht genug, die Hüterin der Verträge bzw. deren Chefin, Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, ist ja selbst Mitglied des Europäischen Rats und hat dieser Suspension ihrer eigenen Verantwortung eigenhändig und ausdrücklich zugestimmt.((Kann das die Kommission binden? Ist die nicht ein Kollegialorgan? Interessante verfassungsrechtliche Frage, oder? Discuss!))
Daran gewöhnen wir uns gerade.
Kommission und Mitgliedstaaten haben damit freie Hand, die 672 Milliarden Euro Corona-Aufbauhilfen zu verteilen, ohne sich dabei mit diesem mühseligen Rechtsstaatlichkeitsthema herumärgern zu müssen. Polen darf sich über 23,9 Milliarden Euro nicht rückzahlbarer Zuschüsse freuen. An die Pflicht der Kommission, die Verträge gegen Polen zu verteidigen und dazu mit Polen in den Konflikt zu gehen, erinnert allein das Parlament und kündigt an, die Kommission wegen Untätigkeit nach Art. 265 AEUV vor dem EuGH zu verklagen, wenn diese bis 1. Juni nicht wenigstens mal die allererste Stufe dieses ohnehin schon furchtbar langwierigen Rechtsstaatsmechanismus aktiviert und den betreffenden Mitgliedstaaten schriftlich mitteilt, dass sie den jeweiligen Zustand der Rechtsstaatlichkeit für problematisch hält (Art. 6 Abs. 1 VO 2020/2092). Ja, sagt die Kommission, die dazu nötigen Gespräche mit den Mitgliedstaaten wolle man schon bald zu führen anfangen. Nämlich “im frühen Herbst”.
Daran gewöhnen wir uns gerade.
Dank für wertvollen Input an Walther Michl
Die Woche auf dem Verfassungsblog
Kaum ist die Tinte des Klimaschutz-Urteils des BVerfG trocken, fällt schon der nächste justizielle Hammer: das Urteil des Bezirksgerichts Den Haag in der Rechtssache Milieudefensie gegen Royal Dutch Shell. Eine Revolution, sagt ANDRÉ NOLLKAEMPER, da das erste Urteil dieser Art, in dem ein multinationaler Konzern unter anderem auf der Grundlage des internationalen Rechts für seinen Beitrag zum Klimawandel verantwortlich gemacht wird. Zum BVerfG-Urteil untersucht CHRISTIAN CALLIESS, wie sich die Karlsruher Argumentation zu seiner “Elfes”-Rechtsprechung verhält. Und KATJA GELINSKY und MARIE-CHRISTINE FUCHS analysieren, wann und welche Rechtsprechung etwa aus Lateinamerika das Bundesverfassungsgericht zitiert und was das über das Interesse des Gerichts an einem transnationalen Rechtsdialog verrät.
Das nicht minder epochale Urteil des High Court von Kenia zur “Basic Structure Doctrine” und zu den Voraussetzungen grundlegender Verfassungsänderungen stellt AMBREENA MANJI in einen historischen Kontext.
Im August wird ein neues Protokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention in Kraft treten, das die Hürde der Zulässigkeit für den EGMR noch höher legt. BLAGA THAVARD erläutert, was das noch für üble Folgen haben könnte.
Die EU reagiert in der Handelspolitik auf die zunehmende geopolitische Rivalität. In den letzten Wochen unterbreitete die Kommission einen Vorschlag für eine Verordnung zur Bekämpfung ausländischer Subventionen und startete eine öffentliche Konsultation zu einem “Anti-Coercion”-Instrument. THOMAS VERELLEN findet, dass in der EU ein neues Gleichgewicht zwischen demokratischer Rechenschaftspflicht und effizienter Entscheidungsfindung erforderlich ist.
In Brasilien hat das Unterhaus einen umstrittenen Gesetzentwurf zur Umweltlizenzierung verabschiedet, der nach Ansicht von DANIELLE HANNA RACHED und MARCO ANTÔNIO MORAES ALBERTO zu einer zunehmenden Abholzung im Amazonasgebiet führen könnte.
Als die WHO am 11. März 2020 eine Pandemie ausrief, war die Ausbreitung des Virus in China bereits unter Kontrolle. Seitdem betreibt Peking eine breit angelegte Gesundheitsdiplomatie. Für MORITZ RUDOLF handelt es sich dabei um die Selbstinszenierung Chinas als “verantwortungsvolle Großmacht”.
In Spanien berechtigt ein neues Gesetz Arbeitnehmer:innen, darüber informiert zu werden, wie Algorithmen ihre Arbeitsbedingungen beeinflussen und den Zugang zur Beschäftigung bestimmen. CARMEN VILLARROEL LUQUE hält das Gesetz zwar für ehrgeizig. Ob es allerdings ein Erfolg wird, bleibt abzuwarten.
Das Bundesverfassungsgericht hat am 20. Mai 2021 eine Verfassungsbeschwerde prominenter Musiker:innen gegen die “Bundesnotbremse” nicht zur Entscheidung angenommen. Für JAKOB HOHNERLEIN ist der Beschluss eine verpasste Chance. Die Kammer wagt es nicht, von der Politik einzufordern, künstlerische Entfaltung (jenseits digitaler Formate) auch unter Pandemiebedingungen bei Anwendung umfassender Schutzkonzepte zu ermöglichen.
In ihrem Programmentwurf zur Bundestagswahl mahnt die FDP eine Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks an. KARL-E. HAIN stellt klar, dass Reformen verfassungsrechtlich möglich sind, solange sie den Funktionsauftrag und die Programmautonomie der Anstalten beachten. Die Transformation ins Digitale dürfe den öffentlich-rechtlichen Rundfunk nicht in eine digitale Nische führen.
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