Hartz IV: Alles neu?
Die Heilserwartung der Öffentlichkeit in punkto Hartz IV an die acht Richterinnen und Richter des Ersten Senats war enorm: Seit bald einem Jahrzehnt beißen wir uns an einer politisch-demokratischen Lösung des Problems die Zähne aus, dass Millionen von Menschen von anderer Leute Geld leben müssen. Um so verlockender erschien die Aussicht, diese Lösung vom Gipfel der Karlsruher Philosophenkönigsweisheit heruntergereicht zu bekommen.
Das ist schon mal die erste gute Nachricht des Tages: Die Richter haben sich diesem Ansinnen erfolgreich entzogen. Sie haben in ihrem heutigen Urteil sich nicht darauf eingelassen, das Maß dessen, was ein Mensch mindestens zum menschenwürdigen Leben braucht, aus der Verfassung abzuleiten. Die Regelsätze als solche haben sie, auch wenn’s so in der Zeitung steht, nun gerade nicht über den Haufen geworfen, sondern nur das Verfahren, in dem sie erstellt worden sind. Sie haben der deutschen Gesellschaft nicht erspart, sich mit der Festlegung dieses Maßes selber auseinander zu setzen, so schmerzhaft das auch sein mag.
Schon wieder ein neues Grundrecht?
Dennoch ist die Entscheidung schon deshalb ein Hammer, weil das Bundesverfassungsgericht darin offenbar schon wieder ein neues Grundrecht zur Welt gebracht hat (woher die in letzter Zeit spürbar gestiegene Gebärfreudigkeit der Karlsruher rührt, wäre mal eine eigene Betrachtung wert) – das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, hergeleitet aus Art. 1 I (Menschenwürde) in Kombination mit Art. 20 I (Sozialstaatsprinzip). Dieses Grundrecht sichere jedem Hilfsbedürftigen
diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.
Wie neu ist dieses Grundrecht überhaupt? Dass Art. 1 I, 20 I den Staat verpflichtet, die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein zu sichern, wussten wir schon vorher. Immerhin, das fast 60 Jahre alte Urteil zur Hinterbliebenenrente, das für einen aus der Verfassung begründeten subjektiven Anspruch auf Sozialhilfe nur wenig Spielraum sah, wird damit über den Haufen geworfen. Das Urteil ist eine späte Genugtuung für das Bundesverwaltungsgericht, das in seinem epochalen Fürsorge-Urteil schon 1954 einen Anspruch auf Sozialhilfe aus der Menschenwürde hergeleitet hatte, und zwar mit dem gleichen Teilhabe-Dreh, der in dem heutigen Urteil aus Karlsruhe mitschwingt.
Aber das ist eher was für verfassungshistorische Feinschmecker.
Stoff für viele Doktorarbeiten
Dennoch: Welche Implikationen hat es, wenn das Existenzminimum jetzt in dieser Form zum Grundrecht upgegradet wird? Noch dazu, wenn dem Gesetzgeber ausdrücklich aufgegeben wird, dieses Grundrecht zu konkretisieren und zu aktualisieren, bei entsprechend zurückgenommenem Kontrollanspruch des BVerfG? Gibt es das sonst wo, dass der Schutzbereich eines Grundrechts so beweglich gehalten und materiell in das Belieben des Grundrechtsverpflichteten gestellt wird? Was ist das überhaupt für ein Grundrecht? Was ist damit gewonnen?
Spannende Fragen. Aber zugegebenermaßen auch wieder mehr etwas für grundrechtstheoretische Feinschmecker…
Disclaimer: Bislang liegt mir nur die PM vor, das Urteil selbst ist online noch nicht verfügbar (12:15).
Update: Das Urteil gespiegelt jetzt hier. Das Gericht bedient sich einer Unterscheidung, die mich an das Zivilprozessrecht erinnert – zwischen Grund und Umfang des Anspruches (RNr. 138). Der Leistungsanspruch auf das Existenzminimum ergibt sich dem Grunde nach aus der Verfassung, aber sein Umfang bleibt politisch zu bestimmen.
Insoweit hält sich das BVerfG materiell mit der Kontrolle zurück. Es überprüft aber (RNr. 43),
a) ob der Gesetzgeber das Ziel der Sicherung eines menschenwürdigen Daseins “korrekt beschrieben und erfasst” hat,
b) sein Berechnungsverfahren “im Grundsatz tauglich” ist,
c) die “erforderlichen Tatsachen” sauber ermittelt sind, und
d) sich die ganze Berechnung überhaupt “im Rahmen des Vertretbaren” bleibt.
Und damit es das überprüfen kann, ist der Gesetzgeber verpflichtet, seine Berechnungsmethoden und -schritte nachvollziehbar offen zu legen, sonst ist schon deswegen das Grundrecht auf Existenzminimum verletzt (RNr. 144). Grundrechtseingriff durch Intransparenz also. Das ist mir auch bisher so noch nicht begegnet…
Zum Stichwort Gebärfreudigkeit: Die Häufigkeit der Gebärfreudigkeit geht offenbar stark einher mit dem altersmäßigen Ausscheiden eines starken Verfassungsrichters. Obs nun die 50 % Besteuerungsgrenze war, Computerintegrität oder Volkszählung betrifft.
Aber ob hier wirklich ein neues Grundrecht geboren wurde? Ich bezweifel das. Rein formell kann das natürlich nur der Verfassungsgeber, von daher ist auf den korrekten Sprachgebrauch zu achten. Auch ist die einmalige Erwähnung sicherlich nicht dazu geeignet, den Anfang einer ständigen Rechtsprechung zu sprechen; der Verdacht liegt doch nahe, dass es Papiers Abschiedsgeschenk an die Bundesrepublik war.
Aber auch inhaltlich sagt das “neue Grundrecht” doch nur das, was wir seit Jahrzehnten schon hören: Das Existenzminimum wird aus dem Sozialstaatsgebot iVm mit Menschenwürde abgeleitet. Genau das ist der tragende Punkt des Urteils und daher braucht man auch kein “neues” Grundrecht oder keine besonders starke Ausprägung (=Verrenkung) a la APR & Co. Hier wird so ziemlich genau das auslegt, was man normalerweise unter Artt. 1, 20. anzutreffen erwarten sollte.
Das Neue ist eigentlich nur die *Wiederentdeckung* dieses Grundrechte in Kombination mit der Staatsaufgabe des sozialen Bundesstaates. Denn in den 90ern und 2000er Jahren war das politisch unmodern. Besitzständerisch, alt, nicht der Globalisierung gewachsen, usw. Schröderdenken halt.
“Die Regelsätze als solche haben sie, auch wenn’s so in der Zeitung steht, nun gerade nicht über den Haufen geworfen, sondern nur das Verfahren, in dem sie erstellt worden sind.”
Die Regelsätze als solche waren auch nie kritisiert worden, individuelle Leistungszumessung ist verwaltungstechnisch bei 10 % der Bevölkerung nicht zielführend. Es war stets die Höhe bemängelt worden; in Frankreich soll es ja sogar einen Regelsatz mit der Höhe von 460 € geben.
Dass die jetzige Konstruktion (ein bisschen Statistik, ein bisschen politische Vorgabe) ebend nicht funktionieren würde, war wohl damals den machenden auch klar. In einem Rechtstaat kommt es nicht gut, wenn man sich Regelsätze weltfremd ausdenkt. Noch schlimmer wie geistlos die Regelsätze für Kinder hergeleitet worden sind.
Man muss sich mal klarmachen: Diese Konstruktion ist von der SPD und den Grünen gemacht worden mit Beifall von CDU/CSU und FDP. Das sind über 90 % damals gewesen und es haben die Nachfolger-Regierung nichts an dieser Konstruktion geändert, obwohl sie es spätestens nach den Richtervorlagen des BSG und LSG Hessen besser wissen hätten müssen.