15 December 2020

Im Auftrag des Bundes

Ein Vorschlag zu einer föderalismusfreundlichen Zentralisierung des Infektionsschutzes

Über den Föderalismus wird dieser Tage viel diskutiert. Wie das deutsche Modell der föderalen Aufteilung von Kompetenzen zwischen Bund und Ländern eingeschätzt wird, scheint dabei stark von der jeweiligen Wahrnehmung des Erfolgs der Pandemiebekämpfung abzuhängen. Nach dem relativ milden Abklingen der ersten Welle überwog in der Diskussion die Zufriedenheit mit dem Föderalismus als Laboratorium für unterschiedliche Regelungsansätze und regionale Differenzierung. Jetzt aber, wo die Bundesregierung bei den Ländern geradezu flehentlich um einzelne Maßnahmen nachsuchen muss, fällt das Zeugnis eher schlecht aus.

So verwundert es nicht, dass in diesen Tagen der zweiten Welle, wo das informell tagende Gremiums der Konferenz zwischen Bundeskanzlerin und den 16 Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten eine prominente Rolle spielt, der Ruf nach einer grundlegenden Neuordnung der föderalen Beziehungen wieder lauter wird. Dies ist legitim und stößt sich aus verfassungsrechtlicher Perspektive auch nicht daran, dass die Bundesstaatlichkeit an sich i.S.v. Art. 20 Abs. 1 GG unter dem Schutz der sog. „Ewigkeitsklausel“ des Art. 79 Abs. 3 GG steht, ebenso wie die Gliederung des Bundes in Länder und ihre grundsätzliche Mitwirkung an der Gesetzgebung auf Bundesebene.

Über eine relativ einfache Möglichkeit, die Zuständigkeit zur Pandemiebekämpfung stärker auf Bundesebene zu konzentrieren, ist bisher, soweit ersichtlich, jedenfalls nicht umfangreich diskutiert worden: die Einstufung des Gesundheitsschutzes als Gegenstand der von den Ländern im Auftrag des Bundes auszuführenden Gesetze. Das Grundmodell des Grundgesetzes sieht vor, dass Bundesgesetze von den Ländern als eigene Angelegenheit ausgeführt werden (Art. 83, 84 GG). In diesem Modell ist der Einfluss des Bundes auf den Gesetzesvollzug der Länder vor allem dadurch beschränkt, dass die Länder nur einer Rechtsaufsicht des Bundes unterliegen (Art. 84 Abs. 3 S. 1 GG). Anders ist dies im Bereich der sog. „Auftragsverwaltung“ nach Art. 85 GG. Hier unterstehen die Landesbehörden zum einen den Weisungen der zuständigen obersten Bundesbehörden (Art. 85 Abs. 3 GG). Und die Bundesaufsicht erstreckt sich nicht nur auf die Gesetzmäßigkeit, sondern auch auf die Zweckmäßigkeit der Ausführung der gesetzlichen Regelungen (Art. 85 Abs. 4 S. 1 GG). Eine auch auf die Zweckmäßigkeit bezogene Weisung könnte etwa dazu dienen, eine bundeseinheitliche Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung in bestimmten Jahrgangsstufen der allgemeinbildenden Schulen oder ein einheitliches Konzept im Hinblick auf die Anzahl von Personen pro Quadratmetern im Einzelhandel durchzusetzen.

Ob ein Gesetz im Wege der landeseigenen oder der Auftragsverwaltung durchgeführt wird, muss sich aus dem Grundgesetz selbst ergeben. Da das Grundgesetz für den Gesetzesvollzug im Bereich des Infektionsschutzes bisher keine Aussage erhält, ist klar, dass es sich um ein Gesetz handelt, bei dem es sich um den Regelfall des Vollzugs durch die Länder als eigene Angelegenheit handelt. Um die Zuständigkeit für die Durchführung des Infektionsschutzgesetzes aus dem einen in den anderen Bereich zu überführen, wäre also eine Änderung des Grundgesetzes notwendig. Eingeführt werden könnte eine Bestimmung, die in Anlehnung etwa an die Formulierung der entsprechenden Bestimmung zur Durchführung des Atomrechts in Art. 87c GG wie folgt lautet: „Gesetze, die auf Grund des Artikels 74 Abs. 1 Nr. 19 GG ergehen, können mit Zustimmung des Bundesrates bestimmen, dass sie von den Ländern im Auftrage des Bundes ausgeführt werden.“

Natürlich müssten für eine solche Änderung des Grundgesetzes die entsprechenden Mehrheiten von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und der Stimmen im Bundesrat gefunden werden. Auch das Infektionsschutzgesetz selbst müsste nach einer entsprechenden Änderung des Grundgesetzes noch einmal modifiziert werden. Und den Bund würde eine solche Verschiebung natürlich Geld kosten: führen die Länder Bundesgesetze im Auftrag des Bundes aus, so hat der Bund die Kosten zu tragen (Art. 104a Abs. 2 GG).

Verglichen mit Forderungen, im Bereich des Föderalismus „alles neu“ zu denken, wäre eine solche Änderung des Grundgesetzes jedoch von überschaubarer Tragweite. Sie würde es der Bundesregierung in der Sache erlauben, sich gegen fragwürdige Alleingänge auf der Ebene einzelner Bundesländer durchzusetzen und das von weiten Teilen der Bevölkerung in der aktuellen Situation geforderte Maß an Einheitlichkeit der einschneidenden Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung zu erreichen.

Föderale Vielfalt wäre damit auch nicht zwangsläufig ein Ding der Vergangenheit. Der Gesetzesvollzug bliebe Sache der Länder, denen auch im Bereich der Auftragsverwaltung eine unentziehbare Wahrnehmungskompetenz zukommt. Nur die Sachkompetenz ist in letzter Konsequenz auf die Bundesebene verlagert, was sich aber nur dann aktualisiert, wenn der Bund tatsächlich von seinem Weisungsrecht Gebrauch machen möchte. Die Aktivierung der Aufsicht erfordert einen entsprechenden politischen Willen auf Bundesebene. Dass über die Zweckmäßigkeit eines solchen Vorgehens dann auch politisch wieder heftig gestritten werden kann, haben die jahrzehntelangen Auseinandersetzungen über die Bundesaufsicht im Bereich des Atomrechts unter Beweis gestellt. Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Zusammenhang aus dem Grundsatz des bundesfreundlichen Verhaltens auch Verfahrensanforderungen für die Aktivierung des Weisungsrechts abgeleitet (siehe hier und hier). So muss etwa ein Land angehört werden, bevor ihm gegenüber Aufsichtsmaßnahmen eingeleitet werden.

Eine Zuordnung des Infektionsschutzrechts zum Bereich der Auftragsverwaltung würde nichts am Umfang der Aufgaben auf Ebene der Länder und der zu ihnen gehörenden Gemeinden und Gemeindeverbände ändern. Seit der Föderalismusreform 2006 ist es dem Bund durch Art. 85 Abs. 1 S. 2 GG verboten, den Gemeinden und Gemeindeverbänden durch Bundesgesetz neue Aufgaben zu übertragen. Dies wäre durch die hier vorgeschlagene Änderung des Grundgesetzes auch nicht der Fall. Die materiell auf Landes- und kommunaler Ebene bestehenden Verpflichtungen blieben unverändert. Aber der Bund könnte wesentlich stärker als bisher darüber wachen, dass die Vorgaben des Infektionsschutzgesetzes auch effektiv eingehalten werden. Die Möglichkeit von auch auf die Zweckmäßigkeit des Gesetzesvollzugs bezogenen Weisungen des Bundes könnte Landesregierungen als Warnung dienen, fragwürdige Sonderwege einzuschlagen. Zumindest müssten sie sich stärker dafür rechtfertigen, von den sonst bundeseinheitlich getroffenen Maßnahmen der Pandemiebekämpfung abzuweichen.

Die hier vorgeschlagene Änderung des Grundgesetzes wäre sicher kein Allheilmittel, sondern könnte nur ein Baustein im rechtsstaatlichen Instrumentenkasten zur Pandemiebekämpfung sein. Von Anforderungen der Rechtsstaatlichkeit und des Demokratieprinzips würde sie zudem in keiner Weise entbinden. Sie könnte aber mittelbar auch dazu beitragen, demokratische Legitimationszusammenhänge zu stärken, da die Bundesregierung auch in ihrer Ausübung der so erweiterten Aufsichtsmöglichkeiten dem Kontrollzugriff des Deutschen Bundestages stärker unterliegen würde, als dies bei der bisherigen Form des informellen Zusammenwirkens von Bundes- und Landesexekutiven in der Pandemiebekämpfung der Fall ist.


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