13 October 2021

Im Ausgang deutlich

Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof läutet die notwendige rechtswissenschaftliche Aufarbeitung der landesweiten Ausgangsverbote ein

Vor mehr als 18 Monaten trat in Bayern – zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik – ein flächendeckendes, landesweites Ausgangsverbot in Kraft. Die tiefgreifende Maßnahme, die praktisch jede Bürger:in außerhalb ihrer räumlich geschützten Privatsphäre rechtfertigungsbedürftig machte, dürfte aufgrund ihrer Devianz Mitauslöser gewesen sein, für den leidenschaftlichen Ton, in dem die rechtswissenschaftliche Debatte über die Pandemiebekämpfungsmaßnahmen fortan geführt wurde. Die Warnenden befürchteten dabei keine böse Absicht der Entscheidungsträger:innen, sondern ein nachhaltiges Erodieren verfassungsrechtlich etablierter baselines. In dieser unübersichtlichen Lage griffen die in den Eilverfahren zuständigen Gerichte aus Vorsicht oft zu kurz und wurden hierfür wiederum gescholten.

In den Diskurs ist zwischenzeitlich deutlich Ruhe eingekehrt. Zum einen traten andere staatsrechtliche Themen in den Fokus. Zum anderen laufen die Maßnahmen – wie hoffentlich auch die Pandemie – schrittweise aus. Zwar werden noch immer in den einzelnen Ländern kleinteilige Regelungen für die verschiedensten Lebensbereiche auf dem Verordnungswege getroffen, was als Modus auch kritikwürdig ist. An die Intensität der Maßnahmen im ersten Jahr der Pandemiebekämpfung reichen die Eingriffe aber bei weitem nicht mehr heran. In dieser nun deutlich entspannten Lage entschied am Montag der Bayerische Verwaltungsgerichtshof als erstes Verwaltungsgericht in einer Hauptsache über die Maßnahme, die wie keine zweite für die heikle Wirkmacht der staatlichen Pandemiebekämpfung steht.

In einer lehrbuchmäßigen Entscheidung gelingt dem Gericht, was für alle anstehenden Hauptsacheentscheidungen hoffen lässt: Eine unaufgeregte, an den seinerzeit vorhandenen Fakten orientierte Anwendung des verfassungsrechtlichen Rahmens. Als Ergebnis dieser Subsumtion stellt der Verwaltungsgerichtshof nicht nur die Unverhältnismäßigkeit des konkret entschiedenen Verbotes fest; pauschale, landesweite Ausgangsverbote sind in der Werteordnung des Grundgesetzes grundsätzlich unzulässig.

Der Kontext

Ein landesweites Verbot, die eigene Wohnung nur unter Erlaubnisvorbehalt zu verlassen, war in Bayern vom 21. bis zum 30. März 2020 zunächst in einer Allgemeinverfügung, dann in der „Verordnung über eine vorläufige Ausgangsbeschränkung anlässlich der Corona-Pandemie“ geregelt. Vom 31. März bis zum 19. April 2020 fand sich eine gleichlautende Regelung als Teil der Ersten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung. Ab dem 20. April bis zu seinem vorzeitigen Ende am 6. Mai 2020 war ein nur geringfügig angepasstes Verbot in der Zweiten und Dritten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung enthalten. Gegenstand der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes war das Ausgangsverbot in der Zeit vom 31. März bis zum 19. April 2020.

Die juristische Aufarbeitung der Ausgangsverbote muss bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme sowohl Zweck als auch Mittel in ihrem seinerzeitigen Kontext bewerten.

Der Zweck

Die Entscheidungsträger:innen hatten am Beginn der Pandemie unter erheblichen Unsicherheiten zu entscheiden. Auf Seiten des Zwecks war die Lage im März 2020 dramatisch. In vielen europäischen Hotspots spielen sich drastische Szenen ab, die über klassische und soziale Medien schnell verbreitet werden; am schlimmsten ist die Lage in der Lombardei, wo die Lokalzeitungen bis zu 10 Seiten an Todesanzeigen drucken müssen. Krankenhausmitarbeiter:innen infizieren sich, es können nicht mehr sämtliche Erkrankte ausreichend behandelt werden, auch in Deutschland wird der tragische Entscheidungskonflikt der Triage in Tageszeitungen und am Küchentisch verhandelt. Am 15. März fasst Claus Kleber im heute-journal die aussichtslose Lage zusammen. Die Eindämmung des Virus scheint längst keine Option mehr, jede Bürger:in würde irgendwann mit dem Virus in Kontakt kommen. Es könne nur noch darum gehen, die Ansteckungswelle zeitlich zu strecken, um dem deutschen Gesundheitssystem wenigstens die Chance zu geben, jede Erkrankte mit den maximalen Möglichkeiten moderner Medizin zu versorgen. Am 18. März wendet sich die Bundeskanzlerin mit einer seltenen Ansprache direkt an die Bevölkerung und ruft zur Selbstbeschränkung auf – sie wird von den tatsächlichen Ereignissen umgehend überholt. Am Morgen des 19. März verbreiten sich Bilder, die die Wucht der Pandemie in einem kurzen Handyvideo einfangen. Ein Konvoi aus 15 Militärlastern transportiert Särge aus Bergamo ab. In dieser Situation verkündet Ministerpräsident Markus Söder einen Tag später die ersten landesweiten Ausgangsverbote. Zu diesem Zeitpunkt war gleichzeitig die Erkenntnislage über das neuartige Virus gering. Die Fallsterblichkeit unterschied sich in den einzelnen betroffenen Regionen aufgrund unterschiedlicher Faktoren erheblich; in der Lombardei stirbt zwischenzeitlich jeder zehnte erkannt Infizierte. Da eine Erkrankung erst mit längerem Verzug zum Tod führt und auch die Dunkelziffer an Infizierten nur schwer geschätzt werden kann, war der Verlauf der Pandemie in Deutschland zu diesem Zeitpunkt nur schwer abzusehen.

Die gerichtliche Aufarbeitung der Ausgangsverbote muss diese Unsicherheiten erkennen, respektieren und einordnen; dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof ist das in seiner Entscheidung gelungen. Er berücksichtigt die besondere Entscheidungssituation auf Ebene der Geeignetheit und Erforderlichkeit der Maßnahmen, wie auch, wegen des mittelbaren Tatsachenbezuges, bei der gerichtlichen Überprüfung der Zweck-Mittel-Relation und gewährt dem Verordnungsgeber Beurteilungs- und Einschätzungsspielräume.

Das Mittel

Auch die zur Pandemiebekämpfung gewählten Mittel müssen ebenso im zeitlichen Kontext bewertet werden. Das ist als dogmatische Aussage eine Selbstverständlichkeit. Tatsächlich werden die Gerichte in den Hauptsacheentscheidungen aber mit der Schwierigkeit konfrontiert, die Wirkung von Maßnahmen zu bewerten, die Millionen von Menschen in verschiedensten Dimensionen und über einen erheblichen Zeitraum ganz unterschiedlich betroffen haben. Hier besteht die Gefahr, die strengen Ausgangsverbote nachträglich zu verklären in Beschränkungen mit weit gefassten Ausnahmetatbeständen, bei denen die Betroffenen jederzeit aus innerem Antrieb einen triftigen Grund zum Verlassen der Wohnung selbst schaffen konnten. Diese nachträgliche Deutung liegt nahe, da im späten April und frühen Mai 2020 die Normbetroffenen in einer „Abstimmung mit den Füßen“ zunächst die Befolgung des strengen Ausnahmekataloges aufkündigten und der bayerische Verwaltungsgerichtshof sich dann genötigt sah, das Verbot in einer wenig überzeugenden verfassungsmäßigen Auslegung umzudeuten, sodass schließlich jeder beliebige sachliche Grund zum Verlassen der Wohnung berechtigte. Tatsächlich scheint die Landesanwaltschaft Bayern in dem nun entschiedenen Normenkontrollverfahren vorgebracht zu haben, dass mit dem Ausgangverbot „kein schwerwiegender Grundrechtseingriff vorgelegen [habe]“.

Diese Bestandsaufnahme wird den tatsächlichen Dimensionen selbstverständlich nicht gerecht, in denen das Verbot im Frühjahr 2020 das gesamte öffentliche Leben in Bayern umgestaltete – und der Bayerische Verwaltungsgerichtshof lässt dies inzident erkennen. Zur notwendigen juristischen Aufarbeitung der Maßnahme gehört zunächst die unaufgeregte Feststellung, dass in den letzten Märzwochen und der meisten Zeit des Aprils die körperliche Fortbewegungsfreiheit aller Bürger in Bayern durch hoheitliches Handeln eingeschränkt war.

Die Ausgangsverbote wurden unter dem Begriff des „Lockdowns“ eingeführt, den die nationale Pandemieplanung bis dahin nicht kannte. Die Entscheidungsträger:innen zitierten damit ausdrücklich Maßnahmenpakete, die zuvor in Italien, Spanien, Frankreich und Österreich umgesetzt wurden und das Betreten des öffentlichen Raumes bei rigorosem Vollzug untersagten. Zuvor wurde der Begriff – auch das muss bei Ermittlung des Weisungsgehaltes aus Sicht der Bürger:innen berücksichtigt werden – für die staatliche Reaktion in der Volksrepublik China verwendet. Die Ausgangsverbote waren den Normadressaten außerdem als strengeres Mittel im Vergleich zu den alternativ diskutierten Kontaktbeschränkungen bekannt. Aus Sicht der Entscheidungsträger genüge es eben nicht, die im öffentlichen Raum befindlichen Personen auf Distanz zu halten. Eine effektive Virusbekämpfung erfordere vielmehr, dass die Bewohner:innen des Freistaates den öffentlichen Raum gar nicht erst betreten und ihre eigenen vier Wände nicht verlassen. Es blieb auch keineswegs bei bloßen Apellen; bei den Bürger:innen wurde der Eindruck eines engmaschigen Vollzuges geweckt, der in vielen Fällen auch stattfand. Feuerwehr- und Polizeiwägen patrouillierten im Schritttempo durch Straßen und verkündeten durch Lautsprecherdurchsagen: „Derzeit gelten strenge Ausgangsbeschränkungen. Bleiben Sie zuhause. […] Zuwiderhandlungen werden hart bestraft.“ In München flogen Hubschrauberstaffeln der Polizei zeitweise fast täglich über Stachus und Englischem Garten. Kanzleien und Büros stellten ihren Mitarbeiter:innen Passierscheine aus, weil Straßensperren auf dem Weg zur Arbeit erwartet wurden. Ohnehin wohnt Ausgangsverboten ihre eigene Vollziehbarkeit inne, weil die einzelne Person auf der ansonsten leeren Straße einfach erkannt und als rechtfertigungsbedürftig ausgemacht werden kann. Der mittlerweile zum Treppenwitz gewordene Fall, in dem die Polizei München es aus Gründen des Infektionsschutzes für verboten hielt, ein Buch auf einer Parkbank zu lesen, ist weniger Zeugnis eines übereifrigen Vollzuges als ein Beispiel für den zwischenzeitlich auch auf Ebene der Normgeber vorherrschenden Zeitgeist. Die unsichere Auslegung des eng kommunizierten Ausnahmekataloges führte dazu, dass viele Menschen im Zweifel die eigenen vier Wände gar nicht verließen, solange kein Fall von „Arbeit, Arztbesuch oder notwendiger Einkauf“ vorlag. Selbstverständlich wird in dieser Zeit bei einem Teil der 13 Millionen Betroffenen die körperliche Fortbewegungsfreiheit für eine nicht unerhebliche Zeit aufgrund staatlichen Handelns in jede Richtung hin aufgehoben gewesen sein.

Die Entscheidung

Dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof ist es gelungen, diesen Rahmen herauszuarbeiten, der für sämtliche anstehenden Hauptsacheentscheidungen grundlegend sein wird. Das Gericht hat weder das Gewicht der Eingriffe relativiert, noch die dramatisch unsichere Situation der Entscheidungsträger aufgrund zwischenzeitlicher Erkenntnisgewinne unzureichend berücksichtigt. In dem so abgesteckten Kontext kommt es dann zu einem bemerkenswert klaren Ergebnis – das streitgegenständliche Ausgangsverbot ist unter anderem aus materiellen Gründen rechtswidrig.

Die rechtlichen Bedenken sind vielfach benannt; nicht allen hat sich der Verwaltungsgerichtshof angeschlossen. So waren es zu Beginn der Pandemie, vor allem Einwände zur Wesentlichkeitslehre, zum Parlamentsvorbehalt und zum Bestimmtheitsgrundsatz, für die sich die Gerichte am ehesten erwärmen konnten. Tiefgreifendste Grundrechtseingriffe wie allgemeine Ausgangsverbote muss der parlamentarische Gesetzgeber ausdrücklich selbst anordnen. Umgekehrt kann die Exekutive auf eine unbestimmte Generalklausel wie § 32 Satz 1, § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG keine Maßnahmen stützen, die praktisch das gesamte öffentliche Leben umgestalten. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof beschäftigt sich mit diesen Überlegungen bei der verwandten Frage der Bestimmtheit und sieht kein grundlegendes Problem. Er argumentiert, die Unbestimmtheit sei unter anderem dadurch gelindert worden, dass kurzfristig der Wortlaut von § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG mit einem kurzen Halbsatz arrondiert worden sei, der die zuvor ergangenen Maßnahmen der Exekutive legitimiert habe. Ein solches Vorgehen ist indes nicht geeignet, vor allem die aus dem Demokratieprinzip folgenden Legitimationseinwände zu entkräften. Wenn der Gesetzgeber seine kurzfristige Leistungsfähigkeit bewiesen hat, wird man von ihm schon formell mehr verlangen müssen, als lediglich nachträglich das Geschehene abzusegnen. Bemerkenswert bleibt, dass das Gericht sich hier gegen den „bequemen“ Weg entscheidet, das Verbot aus formellen Gründen für unwirksam zu erklären und stattdessen materielle Gründe für entscheidend hält. Damit ist dann auch die Aussage getroffen, dass eine explizite Nennung des Mittels „Ausgangsverbot“ im Gesetz – wie dies später bei § 28a und § 28b IfSG aufgenommen wurde – die Maßnahme nicht zulässig gemacht hätte.

Denn das Ausgangsverbot war, so das Gericht, weder erforderlich, noch angemessen. Das Ausgangsverbot wird hier ausführlich mit dem damaligen politischen Gegenmodell, der Kontaktbeschränkung im öffentlichen Raum verglichen. Während bei Zweiterem „nur“ das Verhalten der Normadressaten im öffentlichen Raum reguliert wird, knüpft das Ausgangsverbot bereits eine Stufe früher an und untersagt grundsätzlich das Betreten des öffentlichen Raumes an sich. Durch diese entferntere Regulierung würden aber nur Verhaltensweisen untersagt, die infektiologisch unbedeutend seien. Insbesondere gebe es keine Kausalitätsvermutung, nach der das bloße Verweilen im öffentlichen Raum zu einer (infektiologisch ggf. relevanten) Annäherung führe.

Where to go from here.

Das Gericht vermeidet also auf Ebene der Erforderlichkeit, sich mit naturwissenschaftlichen Daten auseinanderzusetzen und argumentiert mit normativ aufgeladener Zurechenbarkeit. Hierdurch enthält der Beschluss eine wichtige Aussage über den konkret entschiedenen Streitgegenstand hinaus.

Das Außerkraftsetzen des letzten bayerischen Ausgangsverbotes zum 6. Mai 2020 war nicht das Ende dieser Maßnahme. Nach Inkrafttreten des § 28a IfSG erlebten die Ausgangsverbote ab Dezember 2020 ein zweifelhaftes Comeback. In Form der „Bundesnotbremse“ (§ 28b IfSG) galten sie bundesweit zumindest auf Landkreisebene fort. Die rechtliche und politische Diskussion um diese späteren Ausgangsverbote verlor sich dabei immer weiter in technokratischen Details wie arbiträr festgelegten Inzidenzwerten und gefährlichen und ungefährlichen Uhrzeiten. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Beschluss nun festgestellt, dass die Ausgangsverbote nicht einmal in der akuten Notphase zu Beginn der Pandemie zulässig waren, als für solche Detailüberlegungen vermeintlich keine Zeit war.

Damit ist über den konkret entschiedenen Fall hinaus das allgemeine Ergebnis der juristischen Aufarbeitung der Ausgangsverbote vorweggenommen: Pauschale landesweite Ausgangsverbote sind schlicht unzulässig. Sie scheiden als Mittel der Pandemiebekämpfung aus.

Die Entscheidungssituation im März 2020 war beispiellos in der Geschichte der Bundesrepublik, was Ausmaß und Gewicht der potentiell betroffenen Interessen betraf. Die Ausgangsverbote wurden angesichts akuten Leids und aussichtloser Zukunftsaussichten verhängt. Und trotzdem war die Anordnung eines strengen landesweiten Ausgangsverbotes unverhältnismäßig. Landesweite Ausgangsverbote können auch gar nicht – dies stellt der Verwaltungsgerichtshof inzident fest – verfassungsmäßig ausgestaltet werden. Das Ausgangsverbot steuert das Betreten des öffentlichen Raumes als Regulierungsventil an, mit dem die Anzahl der Sozialkontakte reduziert werden soll. Ein milderes Ausgangsverbot muss daher den Zugang zum öffentlichen Raum leichter ermöglichen, ohne gleichzeitig einen Einfluss auf das Verhalten der Bürger im öffentlichen Raum nehmen zu können. Ein milderes Ausgangsverbot nimmt damit keinen Einfluss mehr auf das Infektionsgeschehen und ist zum Erreichen des Zieles schlicht ungeeignet. Der ungelenke Versuch des 20. Senats, in einer Eilentscheidung am 28. April 2020 das Ausgangsverbot verfassungskonform in eine Kontaktbeschränkung im öffentlichen Raum umzudeuten, belegt dies. In dem nun vorliegenden Beschluss stellt der Senat klar: „Eine über den Wortlaut […] hinausgehende Auslegung, der die Vorschrift auf eine Kontaktbeschränkung im öffentlichen und privaten Raum reduziert, verstieße gegen das Bestimmtheitsgebot […].“ Die Ausgangsverbote sind damit als politisches Projekt gescheitert.

Die geistigen Väter der Ausgangssperre werden von alle dem nichts wissen wollen. Sebastian Kurz muss vorerst an seinem Comeback arbeiten. Markus Söder strebt mutmaßlich nach höherem. Ihm dürfte daran gelegen sein, vergessen zu lassen, dass er Kurz jemals zum Vorbild hatte.


6 Comments

  1. Anna Leisner-Egensperger Thu 14 Oct 2021 at 10:21 - Reply

    So begrüßenswert der erste Aufschlag zur Aufarbeitung der Ausgangsbeschränkungen auch sein mag – ist es unter verfassungsdogmatischem Blickwinkel zielführend, in einer Entscheidungsrezension “den” Zweck sämtlicher landes- und bundesweiten Ausgangsverbote auf die Bilder von Bergamo oder die Profilierungsversuche einzelner Politiker zu beschränken? Zu Ausgangsverboten, aber auch zu anderen pandemischen Maßnahmen, gab es in den verschiedenen Phasen der Pandemie diverse, teils komplexe Zweck-Mittel-Staffelungen (dazu näher JZ 2021, 913 ff.; vgl. auch NJW 2021, 2415 ff.). Wer “Kontaktbeschränkungen im öffentlichen Raum” ohne Berücksichtigung ihrer freiheitsrechtskonformen wie schutzpflichtadäquaten Vollziehbarkeit in begriffsjurisprudenziell aufgeladener Ex-Post-Betrachtung pauschal als das naheliegende Gegenmodell zu Ausgangsverboten stilisiert, setzt sich genau dem Vorwurf aus, vor dem das Verfassungsrecht politische Entscheidungsträger zu bewahren hat: dem einer “terrible simplification”.

    • Daniel Koch Thu 14 Oct 2021 at 15:40 - Reply

      Die Entscheidung überzeugt in ihrer Begründung nicht. Natürlich führt mehr Mobilität zu mehr zwischenmenschlichen Kontakten und damit zu einer erhöhten Infektionstätigkeit. Daher wollte man von staatlicher Seite möglichst früh und damit effektiv eingreifen. Die damit verbundenen Freiheitseinschränkungen waren aber sehr intensiv und müssen sorgfältig und differenziert in Relation gesetzt werden. Hierbei sollte man es sich nicht zu einfach machen und sich mit den vorhandenen naturwissenschaftlichen Daten auseinandersetzen. Auf der Ebene der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne kann man dann im konkreten Fall zur Verfassungswidrigkeit der bayerischen Ausgangsbeschränkungen kommen. Ein pauschales Urteil über Ausgangsbeschränkungen als Maßnahme an sich ist aber nicht angezeigt.

      • Ulrich Demlehner Fri 15 Oct 2021 at 15:22 - Reply

        “Ein pauschales Urteil über Ausgangsbeschränkungen als Maßnahme an sich ist aber nicht angezeigt.”

        Nun, der BayVGH hat auch kein pauschales Urteil über Ausgangsbeschränkungen gefällt, sondern ein Urteil über pauschale Ausgangsbeschränkungen. Und genau das ist der entscheidende Punkt. Pauschale Ausgangsbeschränkungen für alle Bürger sind in unserem Rechtssystem schlicht und einfach keine zulässige Maßnahme. Diese m.E. triviale Aussage wird auch nicht relativiert durch die Frage, ob und was die Staatsregierung zum Zeitpunkt ihrer Anordnung zur Wirksamkeit wusste oder wissen konnte. Insofern gehen auch die Anmerkungen der Fr Leisner-Egensperger am Kernpunkt des Themas vorbei.

  2. Boris Büche Thu 14 Oct 2021 at 14:20 - Reply

    “Das Gericht vermeidet also auf Ebene der Erforderlichkeit, sich mit naturwissenschaftlichen Daten auseinanderzusetzen . . .”

    Das ist verständlich und angemessen, solange eine ad-hoc Maßnahme für die kurze Zeit im Frühjahr 2020 bewertet wird. Es ist nicht zu akzeptieren, dass diese Auseinandersetzung dauerhaft vermieden wird.

    “Die Entscheidungssituation im März 2020 war beispiellos in der Geschichte der Bundesrepublik” auch darin, dass die eigentlich entscheidungsbefugten Stellen – die bewährten lokalen Gesundheitsbehörden – an der Entscheidung über “notwendige Schutzmaßnahmen” nach InSG nicht beteiligt wurden.
    Die Entscheidungen wurden auch in der Folge von den nicht sachkompetenten Regierungen ohne Konsultation von Sachverständigen getroffen, und das InSG dem begangenen Rechtsbruch gemäß umgeschrieben.
    Dass das InSG (alte Fassung) einen Lockdown nicht vorsah, war kein Versehen, sondern Folge davon, dass es an naturwissenschaftlichen Erkenntnissen ausgerichtet war, die nach wie vor nicht umstritten sind.

    Die “Bilder aus Bergamo” waren wirksam, weil schon hier eine wissenschaftliche Sicht auf die Vorgänge vermieden wurde und wird.
    Zweifelhafte staatliche Anordnungen verhinderten eine reguläre Bestattung der an Covid-19 Verstorbenen (die soziale Dimension, die verkannt wird, wenn man bei den “Bildern” stehenbleibt), und dass die Armee als Lückenbüßer des verhinderten Bestattungswesens die Überführung der Verstorbenen pietätvoll durchführte, führte zu einer Verkennung der Sachlage.
    Die Imagination “Berge von Toten” angesichts eines Konvois von Armee-LKW ist so vorhersehbar, dass ihr schon deswegen durch Nennung der Fakten (vier Verstorbene pro Ladefläche würdig plaziert) hätte vorgebeugt werden müssen. Wäre es um Katastrophenschutz gegangen, und nicht um die Inszenierung der inkompetenten “Entscheider”.

  3. Boris Büche Thu 14 Oct 2021 at 14:42 - Reply

    Am gleichen Gerichtshof ist ein Verfahren anhängig, in dem auf die Sachgründe der Lockdown-Entscheidung der bayrischen Regierung abgezielt wird.

    Die Regierung musste einräumen, dass sie nicht in der Lage ist, eine Akte vorzulegen die zur Sachfeststellung seitens des Gerichts geeignet wäre. Daraufhin hat der Prozessgegner die Zeugenvorladung Söders und weiterer Beteiligter beantragt. Dem Antrag wurde im Prinzip entsprochen, denn nur auf diesem Wege ist Auskunft über möglicherweise vorhanden gewesene Grundlagen dieser bis heute fortwirkenden Entscheidung zu erhalten, und der Verdacht auszuräumen, hier wurde aus Bauchgefühl gehandelt.

    Seitdem wird eine Klärung über Nichtterminierung der Verhandlung verschleppt. Der Schriftwechsel ist öffentlich dokumentiert, und aufschlussreich. Aktuellstes Schriftstück: https://www.ckb-anwaelte.de/download/2020000338JHJH1414-Bayerischer%20Verwaltungsgerichtshof.pdf

  4. Martin Sommer Fri 15 Oct 2021 at 21:10 - Reply

    Herrn Schmitt ist in seiner Ausgangsbeschreibung zuzustimmen. Es handelt sich bei Ausgangssperren um die Verschiebung verfassungsrechtlicher „baselines“, zulasten (klassisch-liberaler) Freiheit und zugunsten (vermeintlicher) Sicherheit. Einzelnen Kommentatoren des Beitrags ist hingegen dezidiert zu widersprechen.

    Wenn man wie Frau Leisner-Egensperger annimmt, dass Kontaktbeschränkungen im öffentlichen Raum im Hinblick auf ihre „schutzpflichtadäquaten Vollziehbarkeit“ problematisch sind, so heißt das, dass man den Bürgern nicht traut, sich an die Regeln einer Kontaktbeschränkung im Freien zu halten. Denn wenn diese sich an Kontaktbeschränkungen im öffentlichen Raum halten würden, bedürfe es gerade eines solchen Blickwinkels auf die Vollstreckung der Maßnahmen nicht. Wenn man wie Herr Koch annimmt, dass die Freiheitsbeschränkungen sorgfältig im Hinblick auf ihren Zweck abgewägt werden müssen, dann heißt das, dass man immer mit dem ex-ante zum Zeitpunkt der Maßnahmen bekannten Fachwissen abwägt. Doch kennt das Grundgesetz auch Grenzen der Abwägung, wenn etwa der Wesensgehalt eines Grundrechts betroffen ist. Zudem war bereits zum Zeitpunkt des Maßnahmenerlasses bekannt, dass sich Corona-Viren im Freien nicht so sehr verbreiten wie im Inneren.

    Zusammenfassend kann man sagen: Was die obigen Kommentatoren unterschwellig machen, ist, dass sie die Maßnahmen im Hinblick auf ein rechtspaternales (Staats)-Rechtsverständnis verteidigen. Nach dem Motto: “Viel hilft viel – lieber auf Nummer sicher gehen“. Das kann man sicherlich so sehen, insbesondere wenn man das (umweltrechtliche) Vorsorgeprinzip ausdehnt und verhaltensökonomische Erkenntnisse des Verhaltens von Menschen unter Unsicherheitsbedingungen berücksichtigt. Dann sollte man aber dieses – mit einem (klassischen) liberalen Grundrechtsdenken schwer zu vereinbare – Verständnis aber offenlegen. Vielmehr müsste man – wofür es freilich gute Gründe gibt – ein (modernes) Freiheitsrechtsverständnis propagieren. Ein Beispiel bei dem ein modernes, kontextbezogenes, eingebettetes Verständnis von Freiheitsrechten sicherlich angebracht sein wird, ist bei spezifischen (!) Maßnahmen etwa gegen den Klimawandel. Dass dasselbe Verständnis nicht zwingend jegliche (!) Einschränkung bei einer Pandemie rechtfertigt, hat das Bayerische Verwaltungsgericht – wie ich meine – nachvollziehbar aufgezeigt.

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