Im Namen des Gesetzes
Misgendering durch die Verfassung?
Die Frage, ob die grammatisch männliche Ansprache eine Frau in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und ihren Rechten aus Art. 3 GG verletzt, bleibt vorerst weiter unbeantwortet. Die Verfassungsbeschwerde einer Sparkassenkundin, die gegen ihre Ansprache als “Kunde” in den Formularen der Bank geklagt hatte, hat das Bundesverfassungsgericht wegen Begründungsmängeln als unzulässig zurückgewiesen (Beschl. v. 26.05.2020 Az. 1 BvR 1074/18). Damit bleibt vorerst offen, ob ein Recht auf Nichtdiskriminierung durch Sprache besteht. Die Auseinandersetzung mit der Argumentation der Vorinstanz zeigt jedoch, dass in den Augen des BVerfG auch rechtliche Texte bis hin zum Grundgesetz selbst einem Sprachwandel unterworfen sein können, der gesellschaftliche Realitäten widerspiegelt.
BGH: Mitgemeint
Die Beschwerdeführerin war zuletzt vor dem Bundesgerichtshof mit ihrem Anliegen unterlegen. Dieser fand, § 28 Satz 1 des Saarländischen Gleichstellungsgesetzes, wonach die Dienststellen des Landes geschlechtsneutrale Bezeichnungen wählen sollen, begründe keine subjektiven Rechte, da die Vorschrift keinen abgrenzbaren Personenkreis anspreche. Auch erfasse das sogenannte generische Maskulinum nach dem allgemeinen Sprachgebrauch und Sprachverständnis Personen aller Geschlechter. Insbesondere verwendeten sowohl das einfache Recht als auch das Grundgesetz die grammatisch männliche Form.
In den Augen des Bundesverfassungsgerichts hat sich die Beschwerdeführerin vor allem mit letzterer Frage unzureichend auseinandergesetzt (Rn. 5). Es handelt sich um eine Nichtzulassung aus formellen Gründen, da die Beschwerdeführerin sich damit nicht zu tragenden Gründen des angegriffenen Urteils substantiiert äußert (Rn. 5 unter Verweis u.a. auf BVerfGK 14, 402, 417). Daraus folgt auch, dass das Verfassungsgericht inhaltlich zu dieser Frage keine Stellung bezieht.
Den Charakter der landesrechtlichen Vorschrift einmal dahingestellt, kann demnach zunächst nur spekuliert werden, wie das Bundesverfassungsgericht bei ausreichender Begründung tatsächlich entschieden hätte. Um diese Frage zu beantworten, wäre (1.) zu klären, ob es ein grundrechtlich geschütztes Interesse daran gibt, in einer der eigenen Geschlechtsidentität entsprechenden Form angesprochen zu werden, (2.) ob diesem durch das generische Maskulinum bereits Genüge getan wird oder ob hieraus (3.) eine Ungleichbehandlung gegenüber denjenigen folgt, die sich durch das Maskulinum unmittelbar angesprochen fühlen.
1.
Nach der jüngsten Rechtsprechung insbesondere zur „Dritten Option“ spricht einiges dafür, dass auch aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts ein Anspruch darauf besteht, in einer der eigenen Geschlechtsidentität entsprechenden Form angesprochen zu werden. In der Entscheidung heißt es u.a.: „Der Zuordnung zu einem Geschlecht kommt für die individuelle Identität unter den gegebenen Bedingungen herausragende Bedeutung zu; sie nimmt typischerweise eine Schlüsselposition sowohl im Selbstverständnis einer Person als auch dabei ein, wie die betroffene Person von anderen wahrgenommen wird. […] [Die Geschlechtszugehörigkeit] bestimmt etwa weithin, wie Menschen angesprochen werden […].“ (Rn. 39). Das Bundesverfassungsgericht sieht hier also die Geschlechtszugehörigkeit als konstitutiv sowohl für die eigene als auch für die soziale Identität. Ein „Misgendering“ durch eine staatliche Stelle missachtet unter diesem Gesichtspunkt sowohl die sozialen Rolle, in der die Person auftritt, als auch unter Umständen deren innerste eigene Identitätsbildung.
2.
Allerdings liegt, wenn mensch dem Bundesgerichtshof folgt, im Falle der Verwendung des generischen Maskulinums schlicht kein Misgendering vor. Denn wenn die grammatisch männliche Form alle mitmeint, kann sich auch keine:r mit seiner:ihrer Geschlechtsidentität ausgeschlossen fühlen!
Dass das mit dem Mitmeinen nach den Erkenntnissen der empirischen linguistischen, psychologischen und soziologischen Sprachforschung so eine Sache ist (s. nochmals zusammengefasst hier, hier und hier), ist das eine. Der Bundesgerichtshof hatte ja aber in seiner Ausgangsentscheidung bereits sein Argument verfeinert und, könnte man meinen, eine Art „Bereichsausnahme“ für das Recht gefunden: Denn hier, so der Gerichtshof, werde schließlich schon immer von Verbrauchern, Arbeitnehmern und Schuldnern gesprochen, obwohl völlig klar sei, dass unabhängig vom Geschlecht alle gemeint seien.
Wie hätte die Beschwerdeführerin ihre Beschwerde begründen müssen, um die Richter:innen des Bundesverfassungsgerichts dazu zu bringen, diesen Punkt kritisch zu sehen? Schließlich arbeiten sie selbst mit einem Grundgesetz, das durchweg die grammatisch männliche Form verwendet, wenn nicht gerade von Müttern oder von gleich zu berechtigenden Frauen die Rede ist. Und das Grundgesetz sollte eben trotzdem nach dem Willen seiner einundsechzig Väter und vier Mütter für alle unabhängig des Geschlechts gelten. Oder doch nicht?
Nicht so mitmeinend wie man meint
Im Jahre 1948 hätte das besagte Sparkassenformular die Beschwerdeführerin noch vor ganz andere Herausforderungen gestellt. Erst seit 1958 dürfen Frauen in der Bundesrepublik ohne Zustimmung des Ehemanns ein Bankkonto eröffnen. Diese Neuerung im Rahmen des Gleichberechtigungsgesetzes beruhte gerade auf der hart umkämpften Einführung des Art. 3 Abs. 2 GG. Also ein Indiz dafür, dass das Grundgesetz die Gleichberechtigung von Männern und Frauen derart im Blick hat, dass es tatsächlich von Anfang alle gleichermaßen mitmeint?
Die Entstehungsgeschichte des Gleichberechtigungsgesetzes lässt anderes vermuten. Nicht nur verzögerte sich seine Umsetzung gegenüber der ursprünglich in Art. 117 GG festgelegten Frist noch einmal um fünf Jahre, seine Einführung wurde auch von Debatten um einen Rollback bis hin zur Wiedereinführung des erst kurz zuvor abgeschafften Stichentscheids des Vaters begleitet.
Es spricht somit einiges dafür, dass sich das Verständnis dessen, wer wie Rechtsträger:in unter dem Grundgesetz sein sollte, 1949 noch sehr weit vom jetzigen unterschied. Die Gleichberechtigung war im Grundgesetz über den Art. 3 Abs. 2 GG programmatisch angelegt, aber noch nicht verwirklicht. Es bedurfte jahrzehntelanger gesellschaftlicher, politischer und rechtlicher Kämpfe, um einen Stand zu erreichen, der die damaligen Erwartungen möglicherweise sogar übertrifft und doch immer noch nicht vollkommen ist.
Vor dieser Folie verliert die Behauptung, die Verwendung des sogenannten generischen Maskulinums im Grundgesetz habe heute noch die gleiche Bedeutung wie bei seiner Verabschiedung, einiges an Überzeugungskraft. Keine Verfassung ist neutral, sondern eine jede steht für die gesamte Dauer ihrer Geltung in einem sich entwickelnden politischen und zeitgeschichtlichen Kontext. Die Sprache, die sie dabei verwendet, kann ihre Bedeutung dabei selbstverständlich verändern.
Dies bedeutet auch, dass ein Bundesverfassungsgericht nicht daran gebunden ist, in welcher stilistischen Form das Grundgesetz die Geschlechter an- und ausspricht oder eben nicht. Da wir zum jetzigen Zeitpunkt mehr über den Effekt von Sprache wissen als vor 70 Jahren, ist jede Entscheidung für oder gegen eine geschlechtergerechte Sprache eine bewusste, die durch Traditionsargumente nur unzureichend begründet werden kann.
Aus diesem Grund verfängt die Argumentation des BGH für den Bereich des Grundgesetzes ebenso wenig wie jedenfalls für alle anderen textlichen Erzeugnisse, die nicht in einem bestimmten historischen Kontext stehen geblieben sind, sondern als „living instruments“ mittlerweile ein ganzes Menschenalter durchlebt und ihre einstige Bedeutung derweil erheblich gewandelt haben (vgl. zum Beispiel des Wandels des Begriffs der Ehe Pschorr/Spanner, DÖV 3, 2020).
3.
So beantwortet sich zuletzt die Frage, ob sich hieraus neben der unmittelbaren Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts wegen der misgendernden Ansprache auch eine ungerechtfertigte Gleichbehandlung ergibt – nämlich gegenüber allen, die sich von der im Formular verwendeten grammatischen Form direkt angesprochen fühlen. Wenn aus dem Persönlichkeitsrecht ein Recht folgt, dem Geschlecht entsprechend angesprochen zu werden, und wenn dieses Recht nicht hinreichend durch die Verwendung einer generischen Form verwirklicht wird, so darf es nicht trotzdem ohne sachlichen Grund der einen Gruppe gewährt, der anderen aber versagt werden. Bereits der BGH hatte pointiert vermerkt, dass, wer die komplizierten rechtlichen Bestimmungen der Sparkassenformulare überwunden habe, an der geschlechtergerechten Nennung von Darlehensnehmerinnen und -nehmern wohl nicht mehr scheitern dürfte. Ob das Bundesverfassungsgericht, hätte es die Beschwerde zur Entscheidung angenommen, der Sparkasse ein erhebliches Interesse an dem Beharren auf einer generischen Form abgenommen hätte, ist vor diesem Hintergrund jedenfalls fraglich.
Das Bundesverfassungsgericht lässt also einer geschlechtergerechten Sprache die Tür offen, und es gibt immerhin einige Argumente, die dafür sprechen, dass es in einem künftigen Fall zu ihren Gunsten entscheiden könnte.
Wie der djb in seiner Stellungnahme nach dem Beschluss zu Recht anmahnte, liegt die Krux in diesem Fall jedoch nicht nur darin, dass keine Entscheidung in der Sache ergangen ist. Die Diskussion in den Vorinstanzen um das Saarländische Gleichstellungsgesetz deutet an, dass auch wenn das Bundesverfassungsgericht eine Grundrechtsverletzung inhaltlich festgestellt hätte, es weiterhin an schlagkräftigen Durchsetzungsinstrumenten für ein Recht auf diskriminierungsfreie Sprache fehlt.
Mit Verlaub – die Aussage im letzten Absatz, wie auch die Stellungnahme des djb, lässt sich nicht ernst nehmen.
Dass es nicht zutrifft, dass die Verfassungsbeschwerde “zurückgewiesen” wurde, dass der Beschluss inhaltlich keine Stellung nehme und beides einen Unterschied macht – geschenkt!
Ein Rätsel ist, wie aus einem prozessualen Versäumnis der Bf. gefolgert werden soll, dass es an schlagkräftigen Durchsetzungsmechanismen fehlt. Das entscheidende Tor der BGH-Entscheidung für die Verfassungsbeschwerde ist die Rn. 24. An diesem Tor wird die Verfassungsbeschwerde entschieden und das lässt sich schon bei einmaligem Lesen sehen. Der BGH macht es in der Rn. 25 so sperrangelweit auf, dass auch mit dem LKW komfortabel durchgefahren werden könnte. Wer das nicht aufgreift, ist selbst Schuld.
Noch “eigenartiger” wird es, da BGH- und BVerfG-Entscheidung doch sehr wohlwollend abgefasst sind.
Die BGH-Entscheidung ist zwanzig Seiten lang und prüft so ziemlich jeden denkbaren Anspruch. Die Entscheidung ist an keiner Stelle defensiv verfasst. Das gibt mehr Angriffsfläche als umbedingt notwendig wäre. Der RevKl wird auch keine einzige prozessuale Falle gestellt. An manchen Stellen gibt es ein paar Begründungskaskaden, jedoch an keiner Stelle “übel” – alles trotz absehbarer Verfassungsbeschwerde. Unüblich, zumal die Rn. 9 und 43 ein Wink mit dem Zaunpfahl sind, wie und wo es weitergehen könnte.
Die BVerfG-Entscheidung erklärt das sogar noch. Ist auch nicht üblich…
Jetzt soll es ein grundlegendes Problem sein, dass die Begründung hier misslungen ist?! Was wird denn vom Gesetzgeber verlangt? Der RevKl jemanden beizuordnen, der ihr eine Verfassungsbeschwerde schreibt?
Es wird jede Woche eine Vielzahl von Fälle geben, wo es um Grundrechtsverletzungen geht, die deutlich gravierender sind, die aber wegen viel, viel geringeren prozessualen Nachlässigkeiten in Rechtskraft erwachsen. Stellt die Befugnis der Bf. zum Durchlaufen des gesamten Rechtssystems und das Anliegen nicht in Frage, bleibt aber für die Verhältnisse wichtig. Solange Ungleichbezahlungen, Ungleichbehandlung in der Forschung usw. tatsächlich bestehen und es dagegen keine funktionierenden Abwehrmechanismen gibt, ist mir das hier deutlich zu viel Eskalation.
Bei der Sparkasse Saarbrücken und beim Sparkassenverband sollten sich einige mal fragen, wer hier den Schuss nicht gehört hat. Wer auf die Idee kommt, sich gegen eine solche Klage zu verteidigen, statt auf die Bf. zuzugehen und Besserung bei der nächsten Überarbeitung der Formulare zu geloben, sollte die Prozessführung abgeben. Derjenige [kein generisches Maskulinum!], der beim Verband die Stellungnahmen abgibt, sollte mal nachrechnen, was die Umschreibung des Formulars zzgl. Gesichtsverlust durch diese Form der Prozessführung kostet und das nur den hier angefallenen Kosten gegenüberstellen.
Der djb muss selbst wissen, wie er nach außen auftritt. Wenn jedes Ereignis ein Skandal ist, hört nur irgendwann niemand mehr zu. Es gibt andere Bf., die darauf angewiesen sein werden, dass ihnen zugehört wird.