Im Spiegelkabinett des Parlamentarismus – Macht und Ohnmacht der europäischen Bürgervertretungen
Einziger Tagesordnungspunkt des Bundestages auf seiner Sondersitzung am 19. August 2015 war die Zustimmung zum dritten Hilfspaket für Griechenland. Wieder einmal hat ganz Europa auf ein nationales Parlament geschaut und sich gefragt, ob es dem Weg zustimmen wird, den die Gubernativen Europas ausgehandelt haben. Heute war es das deutsche Parlament, vor einigen Wochen das griechische, das (eng beäugt von einer Europäischen Öffentlichkeit) vor der Frage stand, ob es die Forderungen umsetzen sollte, die der Euro-Gipfel vom 12. Juli 2015 als Voraussetzung für weitere finanzielle Hilfen formuliert hatte.
Bei alledem stellt sich aus demokratie- und verfassungstheoretischer Sicht die grundsätzliche Frage, welche Rolle Parlamenten überhaupt zukommen kann, zukommen soll, wenn die zugrundeliegenden politischen Projekte gekennzeichnet sind durch Inter- und Transnationalität, große Geheimhaltung und oftmals Zeitdruck.
Die These ist: Es zeigen sich widersprüchliche Tendenzen in Europa. Einerseits gewinnen Parlamente an Bedeutung – während das Bundesverfassungsgericht eine Stärkung des deutschen Parlamentarismus vorgibt, stärkt sich das Europäische Parlament aus eigener Kraft (I.). Die Wertschätzung für das Prinzip Parlamentarismus findet andererseits aber in der politischen Realität zur Zeit dort ihre Grenzen, wo die Bürgervertretung ein „Nehmer-Land“ repräsentiert. Dies zeigt das Beispiel des griechischen Parlaments. Von ihm wurden Reformen verlangt, deren Zeitdruck bei gleichzeitiger Tendenz zu deutlichen inhaltlichen Vorgaben die Legitimation beschädigt – was gerade bei verfassungsasymptotischen Gesetzen besonders schwer wiegt, also bei Gesetzen, die normativ oder faktisch erschwert rückgängig zu machen sind; dass Gesetze unter Zeitdruck meist „schlechte“ Gesetze sind, verbessert die Einschätzung nicht gerade (II.).
I. Aufstieg…
Rechtliche Fremdstärkung des Bundestages
Das Bundesverfassungsgericht hat in den letzten Jahren den Bundestag gestärkt und bekanntlich immer neue Vorbehalte und weitere Erfordernisse einer verfahrensgerechten parlamentarischen Beteiligung statuiert, gerade für die Zeiten der Krise; genannt seien nur die Entscheidungen Neuner-Gremium (2012), Unterrichtungspflicht (2012), ESM-Vertrag (2012) und ESM-Vertrag/Fiskalpakt (2014).
Politische Selbststärkung des Europäischen Parlaments
Das Europäische Parlament war ein Hauptgewinner des Vertrags von Lissabon, müssen doch (in Fortführung schon der früheren Vertragsänderungen) die meisten Gesetze im Ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erlassen werden: ohne das Europäische Parlament ist keine Europäische Politik möglich.
Das neue politische Selbstbewusstsein, das über die Legislativfunktion hinausreicht, zeigte sich 2014 besonders deutlich bei der parlamentarischen Kreationsfunktion anlässlich der heftig umstrittenen Wahl von Kommissionschef Juncker (dazu auf diesem Blog hier, hier, hier und hier).
Seit neustem stellt sich die Frage nach der Bedeutung des Europäischen Parlaments im Bereich des Außenhandelns. Eine Folge der zahlreichen Debatten um das TTIP war die Aufwertung der Bedeutung des Europäischen Parlaments. In sich abzeichnender Abkehr vom traditionellen Paradigma, nach dem das Verhandeln völkerrechtlicher Verträge als Teil der auswärtigen Gewalt Sache der Exekutive ist, wollte das Europäische Parlament nicht nur selbst eine stärkere Rolle einnehmen (man denke nur an das TTIP-Leak) – dies wurde auch von einer beachtlichen Öffentlichkeit gefordert. Angesichts einer strukturellen Vergleichbarkeit von völkerrechtlichen Verträgen und Gesetzen liegt eine weitere Parlamentarisierung auch nahe.
II. … und Fall
Gleichzeitig zeigt sich als gegenteiliger Trend, dass einem nationalen Parlament wie dem griechischen immer weniger Bedeutung bei der Gestaltung der eigenen Reformagenda zugebilligt wird.
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Tempus fugit, oder: Das Problem einer hinreichenden parlamentarischen Debatte
Das gilt zunächst einmal in Verfahrenshinsicht: Der Zeitplan, der Athen in der Erklärung des Euro-Gipfels vorgegeben wurde, spottet jedem Versuch einer ernsthaften parlamentarischen Befassung.
Drei Tage hatte das griechische Parlament für die „Straffung des Mehrwertsteuersystems und [zur] Ausweitung der Steuerbemessungsgrundlage, um die Einnahmen zu erhöhen“, sowie für „sofortige Maßnahmen zur Verbesserung der langfristigen Tragfähigkeit des Rentensystems als Teil eines umfassenden Programms zur Rentenreform“, ganze zehn Tage bis zur „Annahme der Zivilprozessordnung, wobei es sich um eine grundlegende Revision der Verfahren und Regelungen für das Zivilrechtssystem handelt, die eine Beschleunigung der Gerichtsverfahren und Kostensenkungen in erheblichem Maße ermöglicht“.
Was auch immer nationale Souveränität in einem europäischen Staaten- bzw. Verfassungsverbund, in einer Welt der Konditionalitäten und in einem perpetuierten Ausnahmezustand unter Ausweitung der Kampfzone bedeutet – das nicht. Die Vorgabe eines derartig engen Zeitkorsetts hat den Respekt vor der autonomen Befassung eines nationalen Parlaments mit bedeutsamen politischen Projekten missachtet und ein fatales Signal gesendet: Selbst reformbereiten griechischen Abgeordneten wurde keine Zeit dafür gelassen, wozu eine parlamentarische Demokratie da ist: politische Willensbildung in Rückbindung an die Bürgerinnen und Bürger zu ermöglichen.
Wenn innerhalb von drei bzw. zehn Tagen Reformmaßnahmen dieses Kalibers von den griechischen Abgeordneten erwartet werden, wird damit nicht nur die parlamentarische Verfahrensautonomie empfindlich beschnitten. Es ist zugleich eine Absage an deliberativ legitimierte demokratische Entscheidungen – weder parlamentsintern noch gegenüber den Bürgern kann politische Meinungsbildung zu den Reformen ernsthaft erwartet werden. Dies ist nach Ablauf des Greferendums umso fataler: Bei allem Streit um dessen Verfassungsmäßigkeit steht eine Mehrheitsentscheidung der Griechen im Raum. Geht man davon aus, dass sich das griechische Volk (demos!) gegen weitere Reformen ausgesprochen hat, hätte der Regierung und dem Parlament Griechenlands schon aus Respekt vor der demokratischen Entscheidung Zeit dafür eingeräumt werden müssen zu eruieren, wie das oxi zu den früheren Reformvorschlägen mit den nunmehr zugesagten Reformen vereinbar ist.
Natürlich: Die Zahlungsfristen liefen aus, die „Geber-Länder“ hatten Vertrauensprobleme (aus der Gipfelerklärung: „[a]ngesichts der Notwendigkeit, das Vertrauen in Griechenland wiederherzustellen“) und es gab legislative Vorarbeiten Griechenlands. Aber unter einem derartigen Zeitdruck kann es keine parlamentarische Willensbildung geben, die legitimationstheoretische Vorstellungen ernst nimmt. Zu Recht stellte daher das Bundesverfassungsgericht fest (Organstreit gegen die Terminierung der zweiten und dritten Lesung zum Zustimmungsgesetz zum Lissabon-Vertrag, 2005):
Erst die freie Debatte im Deutschen Bundestag verbindet das rechtstechnische Gesetzgebungsverfahren mit einer substantiellen, auf die Kraft des Arguments gegründeten Willensbildung, die es dem demokratisch legitimierten Abgeordneten ermöglicht, die Verantwortung für seine Entscheidung zu übernehmen.
Das muss dann aber für alle Parlamente gelten.
2. Umsetzungsvorgaben
Eine weitere slippery slope sei hier kritisch angesprochen: Werden die Reformforderungen noch detaillierter, die an Griechenland herangetragen werden, , besteht die Gefahr, dass statt einer umrahmten autonomen Reform die Umsetzung mehr den Charakter einer Ratifizierung eines völkerrechtlichen Vertrages erhält, den die Regierung ausgehandelt hat. Zukünftige Reformvereinbarungen würden daher gut daran tun, der Versuchung (paternalistischer) Detailvorgaben für Griechenland entgegenzuwirken.
Und nur als Unkenruf nebenbei: Es ist fraglich, wie die mittelbare Engführung des griechischen Parlaments mit dem Bericht der fünf Präsidenten vom 22. Juni 2015 zur Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion vereinbar ist, in dem unter „5. Demokratische Rechenschaftspflicht, Legitimität und institutionelle Stärkung“ ausgeführt wird, wie die europäischen Organe und die nationalen Parlamente in Zukunft stärker zusammenarbeiten wollen. Zusammenarbeit auf Augenhöhe sieht anders aus.
3. Demokratie zwischen Umkehrbarkeit und Bindung: das Paradoxon des verfassungsasymptotischen Gesetzes
Die Legitimationsbedenken sind im Fall Griechenlands besonders schwerwiegend, weil grundlegende Reformen geschaffen werden sollten, die nur schwer rückgängig zu machen sind. Griechenland unterläuft gerade einen grundlegenden Wechsel in vielen Einzelbereichen. Die Entscheidungen, die jetzt getroffen werden, formen rein faktisch für viele Jahre die jeweiligen Rechts- und Gesellschaftsbereiche. Das sorgt dafür, dass die Idee der Demokratie als Herrschaft auf Zeit mit grundsätzlicher Reversibilität von Entscheidungen empfindlich betroffen wird.
Dabei gilt als hier vorzustellende allgemeine Verfassungsthese: Je weniger ein Gesetzgebungsvorhaben normativ oder faktisch reversibel ist, desto bedeutsamer ist die konkrete parlamentarische Behandlung für seine Legitimation. Ein solches Gesetz nähert sich in puncto erschwerter Änderbarkeit einer Verfassungsnorm an, weshalb hier vorgeschlagen wird, solche Gesetze als verfassungsasymptotische Gesetze zu bezeichnen.
Dass Gesetze schon normativ nicht beliebig zu ändern sind, ist ein Kennzeichen des Konstitutionalismus. Dessen spannungsreicher Kompromiss zwischen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit kennt Einschränkungen der Demokratie aus normativen Gründen, wenn etwa Gesetzesänderungen grundrechtlich nicht möglich sind. Daneben ergeben sich auch faktische Einschränkungen der Reversibilität nach Sachgebiet: Ausgestaltungen des Generationenvertrages wie das Rentensystem, festgelegt durch Wähler und Politiker früherer Legislaturperioden, können schwerlich grundlegend durch ein reformwilliges Parlament bewerkstelligt werden.
Wenn aber eine demokratische Entscheidung zu einer normativ oder faktisch erschwerten Reversibilität (oder möglicherweise sogar einer Non-Reversibilität) führt, muss das berücksichtigt werden. Das Problem ist ein Klassiker der Verfassungstheorie – die legitimatorische Begründung einer Selbstbindung des politischen Gestaltungsrahmens, der als Vertrag zu Lasten Dritter (Nachgeborener) ausgestaltet ist (die bekannte Bindung der dead hand of the past, siehe nur hier).
Allerdings können ähnliche Bindungen auch bei einfachen Gesetzgebungsvorhaben auftreten. In diesen Fällen muss als dünner Minimalansatz eine starke Verfahrensdimension als Kompensationsmechanismus eingefügt werden – also mehr Befassung, mehr Deliberation, mehr Zeit und nicht weniger.
Wie gehaltvollere materielle Ansätze mit verfassungsasymptotischen Gesetzen umgehen sollten, kann an dieser Stelle nicht ausgeführt werden. Nur soviel: In concreto stellt sich die Frage, ob in die Reformvereinbarungen nicht Evaluationsmechanismen eingebaut werden sollten. Damit hätten die Griechen die Chance, Erfahrungen mit den Reformen zu sammeln und deren qualifizierte Auswertung zur a priori anerkannten Nachverhandlungsgrundlage zu machen.
4. Gute Qualität zu kleinem Preis?
Neben dieser demokratietheoretischen Kritik drängt sich übrigens auch die Frage auf, wie sachlich sinnvoll der gewählte Reformweg ist.
Wenn das, was über Jahrzehnte ungenügend reformiert worden ist, nun übers Knie gebrochen wird; wenn klar ist, dass Griechenland Probleme mit der Umsetzung von Gesetzen hat; wenn allgemein bekannt ist, dass die gesetzgebungstechnische „Qualität“ eines Gesetzes (vgl. hier und hier) leidet, wenn es mit heißer Nadel gestrickt wird – sollte man dann nicht mehr Zeit geben? Es ist doch mittlerweile klar, dass Griechenland sich auch mittelfristig auf Transferleistungen stützen muss. Dann allerdings ist Zeit da. Vielleicht wäre es dann an der Zeit, statt unter Anwendung des Prinzips „mehr desselben“, über eine neue Zeitstrategie nachzudenken. Das kostet natürlich – Zeit und Geld. Aber es erhöht die Chance auf eine mittelfristig nachhaltige Reform des griechischen Wirtschafts-, Rechts- und Gesellschaftssystems.
III. All animals are equal?
Die kritischen Bemerkungen sollen Anlass bieten, sich der Bedeutung von Parlamenten im heutigen politischen Institutionengeflecht zu widmen. Den Chancen einer parlamentarischen Beteiligung an Politik stehen Nachteile und Gefahren gegenüber. Darüber ist aber principaliter zu diskutieren – wer Parlamente als Institutionen um ihrer Rolle willen zwischen Gubernative und Gesellschaft für richtig hält, kann dies nicht davon abhängig machen, welchen politischen Verband das jeweilige Parlament vertritt und wie (wirtschaftlich, politisch, gesellschaftlich) „stark“ oder „schwach“ dieser gerade ist. Bei der Bewertung der Bedeutung von Parlamenten gibt es keinen Zeus und keine Ochsen – Gründe für ein starkes Parlament gelten für alle Parlamente oder für kein Parlament.