01 November 2015

Jenseits von Dublin: zulässige Rückschiebungen in die Nachbarstaaten

Das Dublin-System ist inzwischen auch der breiteren Öffentlichkeit bekannt und besitzt einen prominenten Platz in der rechtspolitischen Debatte. Dies ist berechtigt und dennoch sollten wir den Blick nach vorn richten, weil das Dublin-System derzeit faktisch irrelevant ist und auch künftige Wiederbelebungsversuche wenig Erfolg haben dürften. Dies stellt die Frage, welche rechtlichen Handlungsmöglichkeiten bestehen, solange eine Nachfolgeregelung nicht angenommen wurde. Wenn man die gedanklichen Koordinaten anpasst, zeigt sich, dass im begrenzten Umfang durchaus Rückführungen an der Grenze möglich wären – und zwar innerhalb des geltenden Europarechts. Eine solche vorübergehende Reaktivierung der Staatsgrenze muss dem Ziel eines europäischen Asylsystems nicht schaden, sondern könnte der erste Schritt in eine Welt jenseits von Dublin sein.

Deutsche Zuständigkeit nach dem Scheitern von Dublin

In seinem Beitrag zum Verfassungsblog beschreibt Roman Lehner zutreffend die Handlungsgrenzen, die sich aktuell für die Bundesrepublik aus der Dublin-III-Verordnung ergeben. Eine Einreiseverweigerung nach § 18 AsylG oder Zurückschiebung nach § 57 AufenthG scheidet hiernach aus, soweit Deutschland für Asylanträge nach Dublin-Recht zuständig ist. Eben dies ist spätestens dann der Fall, wenn eine Dublin-Rückführung gescheitert ist. Da jedoch Überstellungen nach Ungarn, Kroatien, Bulgarien oder Griechenland derzeit aus rechtlichen, faktischen oder politischen Gründen allenfalls in Einzelfällen möglich sind, hat Deutschland aktuell wohl keine andere Möglichkeit, als alle Asylanträge zuerst einmal zu prüfen.

Nun wird zu Recht kritisiert, dass die anderen Mitgliedstaaten ihre Verpflichtung zur Registrierung von Asylbewerbern und zu deren Rücknahme nach der Dublin-III-Verordnung systematisch missachten. Völkerrechtler erinnert dies an die Zulässigkeit von Gegenmaßnahmen, die früher als „Repressalien“ bezeichnet wurden und es Staaten erlauben, auf eine Rechtsverletzung ihrerseits mit einer Aussetzung von Völkerrechtsnormen zu reagieren. Deutschland würde gleichsam als Ausgleich für die systematische Missachtung der Verpflichtungen aus der Eurodac- und Dublin-III-Verordnung durch zahlreiche EU-Mitgliedstaaten auf der Balkanroute seinerseits das Dublin-System offiziell beiseite schieben und auf dieser Grundlage die innerstaatliche Drittstaatenregelung reaktivieren können.

In der europäischen Rechtsgemeinschaft besteht diese freilich Option nicht. Schon vor 50 Jahren entschied der EuGH, dass die supranationalen Durchsetzungsmechanismen ein Spezialregime errichten. Unmissverständlich hieß es einige Jahre später: „Auf keinen Fall ist ein Mitgliedstaat berechtigt, einseitig Ausgleichs- oder Abwehrmaßnahmen zu ergreifen, um einer möglichen Missachtung der Vertragsvorschriften durch einen anderen Mitgliedstaat entgegenzuwirken.“ Dies liegt gerade auch im deutschen Interesse, weil eine Lösung der aktuellen Situation nur in Kooperation mit dem europäischen Transitstaaten möglich ist. Wenn man von anderen die Regelbeachtung einfordert, sollte man als Vorbild vorangehen. Das heißt nicht, dass man sich gegen Rechtsverstöße nicht wehrt. Mit dem EuGH muss dies jedoch zuvorderst in den vorgesehenen Verfahren geschehen.

Diesen Weg hat die Bundesregierung bislang nicht beschritten. Weder wurde der in der Dublin-II-Verordnung ausdrücklich vorgesehene Streitschlichtungsmechanismus aktiviert noch startete Deutschland vor dem EuGH ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn oder andere Außengrenzstaaten. Forderungen aus Südeuropa nach einer Abschaffung des Dublin-Regimes wurden politisch zurückgewiesen. Stattdessen reagierte man auf die enttäuschend geringen Überstellungsquoten mit einem einseitigen Verzicht. Trotz gestiegener Antragszahlen ging die Zahl der deutschen Dublin-Anfragen im September deutlich zurückging, weil das Bundesamt seine knappen Ressourcen aus Gründen der Verfahrensökonomie nicht mehr für Dublin-Anträge aufwenden möchte. An die Stelle politischer Vorwürfe gegen Dublin-Partner trat eine moralische Überhöhung des nationalen Alleingangs. Rechtlich beendet ein solcher freiwilliger Verzicht auf die Dublin-Regeln durch Deutschland jedoch nicht deren Verbindlichkeit.

Alternative: Rückschiebung nach der Prüfung

Die deutsche Diskussion konzentriert sich bislang noch auf das Dublin-Regime, obgleich dies nur ein Baustein von mehreren für das „Gemeinsame Europäische Asylsystem“ darstellt. Sein Regelungsinhalt beschränkt sich schon dem Titel nach auf die „Zuständigkeit“ für die Prüfung von Asylanträgen. Hiernach scheidet derzeit, wie dargelegt, eine sofortige Einreiseverweigerung oder unmittelbare Zurückschiebung von Asylbewerbern in die Nachbarstaaten aus, weil die ursprüngliche deutsche Drittstaatenregelung durch das europäische Asylrecht überlagert wird. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass eine Zurückschiebung generell unzulässig wäre. Diese bleibt möglich – und zwar nach der Prüfung des Asylantrags.

Evident ist dies in Fällen von abgelehnten Asylbewerbern. Nach einer Ablehnung gilt das EU-Asylrecht nicht mehr, weil ja festgestellt wurde, dass es nicht um Flüchtlinge im Rechtssinn geht. Stattdessen greifen die Vorschriften über die Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, die europaweit durch die Richtlinie 2008/115/EG harmonisiert sind. Speziell bei Antragstellern aus sicheren Herkunftsstaaten kann eine vollziehbare Ausreisepflicht schnell eintreten, weil die Fristen für einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz und die hieran anschließende Gerichtsentscheidung nach § 36 AsylG jeweils nur eine Woche betragen und in künftig eventuell einzurichtenden Einreisezentren oder Transitzonen noch verkürzt werden könnten. Grundsätzlich gilt das nachfolgend Gesagte aber auch für Anträge aus Afghanistan oder Pakistan, wo zuletzt mehr Personen herkamen und die Schutzquoten deutlich niedriger sind als für Syrien.

In Bezug auf abgelehnte Asylbewerber stehen meist Rückführungen in die Herkunftsstaaten im Vordergrund und in der Tat sieht auch die Rückführungs-Richtlinie dies als Regelfall vor. Zugleich jedoch umfasst deren Artikel 6 Absatz 3 die Ausnahme, dass Rücküberstellungen in andere EU-Staaten aufgrund bilateraler Rücknahmeabkommen möglich bleiben. Eben solche Abkommen schloss die Bundesrepublik im Laufe der 1990er-Jahre mit näheren und weiteren Nachbarstaaten, darunter Österreich. Aufgrund des Abkommens erklärt sich die Alpenrepublik bereit, bis zu sechs Monate nach der Einreise „formlos“ Drittstaatsangehörige zu übernehmen, die über Österreich nach Deutschland einreisten. Vergleichbare Abkommen gibt es mit anderen EU-Staaten entlang der Balkanroute, etwa Kroatien, die zwar grundsätzlich nur die Einreise auf dem Luftweg betreffen, jedoch auch für Asylbewerber relevant sein könnten, soweit diese in diesen Ländern nach einer Registrierung eine Aufenthaltsgestattung erhielten.

Nun kann man gegen die Rückführungsabkommen gewiss einwenden, dass diese praktisch irrelevant seien, weil das faktische Scheitern des Dublin-Regimes ja belegt, dass die anderen EU-Staaten nicht Willens sind, sich an Rücknahmepflichten zu halten. Tatsächlich dürfte niemand derzeit ernsthaft erwarten, dass künftig viele Personen nach Kroatien rücküberstellt werden, wenn das selbst bei Dublin-Fällen praktisch nicht stattfindet. Hiernach ergäben sich direkte Konsequenzen vor allem im bilateralen Verhältnis zu Österreich, weil dieses nach den Dublin-Regeln ja im Regelfall nicht zuständig ist, bei einer Aktivierung des bilateralen Abkommens für abgelehnte Asylbewerber jedoch Farbe bekennen müsste, ob es zur Kooperation bereit ist. Letztere bleibt jedoch essenziell: Gegen einen erklärten Willen kann man Österreich schwerlich zur „formlosen“ Rücknahme zwingen. Insoweit wäre der Rückgriff auf das Rücknahmeabkommen auch der Versuch, die Grenzen des österreichischen Kooperationswillens auszutesten.

Ausweitung sicherer Aufenthaltsorte

In der deutschen Diskussion ist derzeit sehr häufig von der nationalen Drittstaatenregelung die Rede, obgleich diese bei näherer Betrachtung einen nur begrenzten Anwendungsbereich besitzt: § 26a sowie Anlage I zum Asylgesetz erklären neben den EU-Mitgliedstaaten einzig Norwegen und Schweiz zu sicheren Drittstaaten. Da mithin alle sicheren Drittstaaten zugleich auch Dublin-Staaten sind, läuft die Regelung derzeit leer, weil die Regeln des EU-Asylsystems insoweit Vorrang genießen (siehe § 26a Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylG i.V.m. mit den Dublin-Regeln sowie Art. 38 f. RL 2013/32/EU). Zudem erlaubt § 27 AsylG eine Ablehnung von Anträgen bei einer anderweitigen Sicherheit vor Verfolgung, weil eine Berufung auf das Asylrecht dann ausscheidet, wenn jemand in einem „sonstigen Drittstaat“ sicher war.

Mit diesen Bestimmungen nutzt Deutschland nicht alle Spielräume, die das EU-Recht für die Festlegung sicherer Aufenthaltsorte lässt. Ausdrücklich gestattet nämlich Artikel 38 der Asyl-Verfahrens-Richtlinie 2013/32/EU die Ausweitung sicherer Drittstaaten, soweit dort eine Reihe von Rechtsgarantien bestehen und diese in der Praxis auch angewandt werden. Hiernach könnte Deutschland vermutlich auch Serbien oder Montenegro als sichere Drittstaaten einstufen. In der Praxis wäre auch durch einen solchen Schritt freilich wenig gewonnen, weil eine Rückführung nach EU-Recht nur in den sicheren Drittstaat möglich wäre, also etwa direkt nach Serbien, was in der Praxis derzeit ausscheiden dürfte. Der Schritt hätte mithin in erster Linie eine symbolische Funktion: Man machte Serbien klar, dass es nicht nur ein Transitstaat ist, sondern selber Schutz gewähren muss.

Von größerer Bedeutung könnte das Konzept der „anderweitigen Schutzgewährung“ sein, das neben § 27 AsylG auch in Artikel 35 der Asyl-Verfahrens-Richtlinie verankert ist und dort einen erweiterten Anwendungsbereich besitzt, weil die Bestimmung, anders als wohl der derzeitige Wortlaut von § 27 AsylG, nicht nur Asylanträge aufgrund des Grundgesetzes umfasst, sondern alle sonstigen Schutzgarantien des EU-Rechts. Klassischerweise ging es beim ersten Asylstaat um die Zuerkennung eines Flüchtlingsstatus nach Völkerrecht, doch stellt der EU-Gesetzgeber klar, dass auch Fälle umfasst sind, in den „anderweitig ausreichender Schutz“ gewährt wurde. Dies könnte vor allem für diejenigen relevant sein, die als Bürgerkriegsflüchtlinge nicht der Genfer Flüchtlingskonvention unterfallen und deshalb keinen Flüchtlingsstatus nach Völkerrecht beanspruchen können.

Anders als bei sicheren Drittstaaten legt die Richtlinie nicht eindeutig fest, ob bei einer anderweitigen Schutzgewährung die Rückführung nur in den betroffenen Staat möglich sein soll. Gefordert wird nur, dass letzterer prinzipiell zur Aufnahme bereit sein muss. Dies macht auch durchaus Sinn, weil der Zweck des Asylrechts die Gewährung von Schutz ist, nicht jedoch die freie Wahl des Asyllandes. Wer in einem anderen Staat bereits Schutz gefunden hatte, soll sich nicht mehr auf das Asylrecht berufen können. Sein Antrag kann aus Sicht des geltenden EU-Rechts „als unzulässig betrachtet“ werden (Art. 33 Abs. 1 RL 2013/32/EU). Dies gilt prinzipiell für alle Drittstaaten außerhalb der EU, einschließlich Serbiens und der Türkei, soweit dort ein Schutz bereitgestellt wird. Der Türkei kommt hierbei besondere Bedeutung zu, weil diese ja einen Schutz vor Bürgerkriegsgefahren auch dann gewährt, wenn sie die Genfer Flüchtlingskonvention auf Syrer nicht anwendet. Bürgerkriegsflüchtlinge, denen keine Verfolgung droht, verdienen zwar einen Schutz, können sich jedoch nicht auf die GFK berufen.

Hiernach könnte Deutschland erwägen, nicht nur die Asylanträge von Personen, die bereits im Serbien oder anderen Westbalkanstaaten einen Schutz fanden, als unzulässig zurückweisen. Auch erscheint es prinzipiell nicht ausgeschlossen, einen längeren Aufenthalt in der Türkei als Grund für eine Unzulässigkeit von Asylanträgen anzunehmen, jedenfalls in Fällen des subsidiären Schutzes, der nicht der Flüchtlingskonvention unterfällt. Tatsächlich entschied der EGMR vor zwei Jahren, dass der dem subsidiären Schutz verwandte Artikel 3 EMRK seinerzeit einer Abschiebung nach Kurdistan nicht im Wege stand. Entsprechend könnten Bürgerkriegsflüchtlinge, die anderweitig Schutz erhielten, nach Serbien oder in die Türkei zurückgeführt werden oder, soweit man Artikel 35 RL 2013/32/EU so auslegt, dass nur die prinzipielle Aufnahmebereitschaft gewährleistet sein muss (was aufgrund von Rücknahmeabkommen bei Türkei und Serbien prinzipiell der Fall ist), aufgrund des bilateralen Rücknahmeabkommens nach Österreich. Österreich seinerseits könnte dann bilaterale Abkommen mit Nachbarstaaten nutzen, um diese entlang der Reiseroute weiterzuschieben.

All diese Überlegungen dürften in der nahen Zukunft wohl nur eine geringe rechtspraktische Bedeutung erlangen. Selbst wenn man das Asylgesetz anpasste und das Bundesamt bei der Prüfung eine neue Gründlichkeit an den Tat legte, müsste in einem zweiten Schritt eine effektive Zusammenarbeit mit den Transitstaaten im westlichen Balkan und der Türkei sichergestellt werden. All dies ist nicht über Nacht zu erreichen. Dennoch zeigt der Verweis auf sichere Aufenthaltsorte einen möglichen Lösungsweg, weil er den internationale Charakter der Schutzgewährung betont. Asylrecht bietet Schutz und keine freie Wahl des Asyllandes.

Faktische Abschaffung des subsidiären Schutzes

Eine wesentliche Errungenschaft des europäischen Asylrechts war die großzügige Definition des Schutzstatus. Es geht, anders als beim Grundgesetz, nicht nur um politische Verfolgung, sondern auch um sonstige Gründe unter Einschluss des Geschlechts sowie nichtstaatlicher Akteure. Diese großzügige Sicht wurde im Jahr 2004 in der Asyl-Qualifikation-Richtlinie niedergelegt, die zwischenzeitlich durch eine Neufassung abgelöst und in den Wortlaut des Asylgesetzes überführt wurde. Die alte Kritik an der restriktiven deutschen Asylpraxis stimmt seither nicht mehr. In Europa gilt eine überaus liberale Sichtweise der Genfer Flüchtlingskonvention.

Darüber hinaus errichtete die EU ein zweites Sicherungsnetz namens „subsidiärer Schutz“, der, über die Flüchtlingskonvention hinaus, vor einer „individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson“ in Bürgerkriegen schützt (Art. 15 Buchst. c RL 2011/95/EU). Diese Schwelle soll nach der großzügigen EuGH-Rechtsprechung ausnahmsweise bereits dann überschritten sein, wenn ohne individualisierte Lebensgefahr ein gravierender Bürgerkrieg herrscht. Bereits ein unbefangener Blick auf diese Vorschriften zeigt, dass ein Teil der Antragsteller aus Syrien, der nicht von einer Kriegspartei aus politischen oder religiösen Gründen angegriffen wurde, derzeit subsidiären Schutz bekommen müsste.

Tatsächlich ist dies auch in vielen EU-Mitgliedstaaten der Fall (hier, S. 25 f.). In Deutschland allerdings änderte sich zuletzt die Praxis, weil inzwischen nahezu alle Syrer den „besseren“ Flüchtlingsstatus erhalten, der eigentlich nur bei einer Verfolgung gewährt werden dürfte, nicht jedoch bei Flucht vor Bürgerkriegsgefahren. Hintergrund hierfür ist der Verzicht auf eine persönliche Anhörung, wenn das Bundesamt laut des im Internet von Hilfsorganisationen informell bereitgestellten Fragebogens direkt danach fragt, ob der Antragsteller nach seiner Selbsteinschätzung einen Flüchtlingsstatus verdient. Hierbei scheint sich das BAMF nicht einmal mehr die Mühe zu machen, nach einer Begründung zu fragen. Auch die alternative Option eines subsidiären Schutzstatus zieht das Formblatt nicht einmal in Erwägung. Dies scheint Gründen der Verfahrenseffizienz zu folgen, weil andernfalls die Bearbeitungsfristen noch länger würden.

Diese faktische Abschaffung des subsidiären Schutzes für Syrer hat Schattenseiten. Eine formalisierte Prüfung macht Asylanträge in Deutschland gerade für die Minderheit an Antragstellern attraktiv, die die Befürchtung haben, dass ihnen andernorts kein Flüchtlingsstatus gewährt würde, weil sie etwa gefälschte syrische Pässe benutzen oder als Bürgerkriegsflüchtlinge „nur“ subsidiären Schutz erhielten. Ebenso wie Sozialleistungen kann auch eine (zu) großzügige Anerkennungspraxis ein Pull-Faktor für die Einreise nach Deutschland sein. Vor allem jedoch verzichtet Deutschland durch die faktische Abschaffung des subsidiären Schutzes auf Handlungsspielräume, die das EU-Recht lässt. So könnte man den Familiennachzug strenger handhaben und eine Residenzpflicht bei Sozialhilfebezug vorsehen. Und der oben dargelegte Verweis auf eine anderweitige Schutzgewährung dürfte bei der Türkei wohl nur für Bürgerkriegsflüchtlinge möglich sein. Die deutsche Politik mag aus guten Gründen über die Nachbarn schimpfen, vergibt gleichzeitig aber auch eigene Handlungsmöglichkeiten.

Auf dem Weg zu einem erneuerten EU-Asylsystem

Gewiss sind die aufgeführten Handlungsoption keine Patentlösung und setzen eine Kooperationsbereitschaft der anderen EU-Staaten voraus, die derzeit ausweislich des faktisch ausgesetzten Dublin-Regimes nicht wirklich besteht. Dennoch zeigen die Überlegungen, dass das geltende Europarecht noch Handlungsspielräume belässt, die genutzt werden könnten, so die deutsche Politik dies will. Dies gilt für die Rückführung abgelehnter Asylbewerber nach Österreich ebenso wie für die Unzulässigkeit von Asylanträgen durch Bürgerkriegsflüchtlinge, die sich längere Zeit in Serbien oder der Türkei aufhielten. Letzteres gilt übrigens für die EU als Ganzes, wenn künftig Hotspots an den Außengrenzen errichtet werden. Es gibt Spielräume, die man nutzen kann, ohne die Idee eines wirkungsvollen Flüchtlingsschutzes aufzugeben. Schutz kann man nicht nur in Deutschland, Schweden oder Österreich erhalten. Andere Staaten sind ebenso gefordert und die Zurückweisung von Asylanträgen bei anderweitiger Schutzgewährung zeigt, dass das überstaatliche Recht dies prinzipiell ebenso sieht.

Die Königsfrage besteht mithin darin, wie man in der Zusammenarbeit mit anderen Ländern mittelfristig wieder ein funktionierendes Asylsystem in Europa und darüber hinaus etabliert. Hierzu könnten eine Aktivierung des bilateralen Rückführungsabkommens mit Österreich oder die Ausweitung sicherer Aufenthaltsorte zwei (kleine) Zwischenschritte sein, indem man im geltenden deutschen Recht die Verantwortung anderer Staaten betont. Ein Vorteil einer solchen Lösung wäre auch, dass Deutschland durch diese Änderungen nicht das Europarecht verletzte. Letzteres ist nicht nur ein Selbstzweck, sondern entfaltet eine Vorbildfunktion, wenn man von anderen Ländern eine Kooperationsbereitschaft einfordert. Auf Dauer wird ein funktionierendes Asylsystem nur gemeinsam möglich sein. Eben dies muss jedoch unser Ziel sein, weil nicht nur die geschützt werden sollen, die aktuell schon den Weg nach Deutschland gefunden haben.


5 Comments

  1. Peter Camenzind Sun 1 Nov 2015 at 20:29 - Reply

    Es könnte sich nicht rein um “Repressalien” handeln: es könnte ein jedermannsrecht bestehen, verhältnismäßig nichts mehr als erforderlich “überbürokratisch zu belasten”. Das könnte so sein, je mehr man in unsicheren Übergangsituationen in Massenunterkünften mit teils angestrebter gewaltsamer Zurückweisung verweilen lassen muss o.ä.

  2. Anna Lübbe Sat 7 Nov 2015 at 13:16 - Reply

    Einmal abgesehen von der Frage, ob Europa und Deutschland im internationalen Vergleich tatsächlich so belastet sind, dass Anlass bestünde, die Mitverantwortung derjenigen Staaten einzufordern, die näher an den Fluchtquellen liegen: Der Weg zu der in der Tat notwendigen europäischen und internationalen Kooperation und Lastenteilungsverständigung kann nicht so aussehen, dass die Menschen schlicht entlang des Fluchtweges zurückgeschoben werden. Wo sollen sie denn landen, alle in den unmittelbaren Nachbarstaaten der Problemstaaten? Der Versuch, auf solche Weise Lasten loszuwerden, führt sich gottlob selbst ad absurdum: Derjenige Staat, der bei der Verschieberei im letzten Wagen sitzt , wird die Rückübernahme aufkündigen (es hätte vielleicht erwähnt werden sollen, dass die Rückübernahmeabkommen voraussetzungslos und relativ kurzfristig kündbar sind), dann hat der vorletzte Staat die Last, kündigt usw.. Das ist doch kein Lösungskonzept!

  3. Anna Lübbe Sat 7 Nov 2015 at 17:26 - Reply

    Nein, auch das ist keine lastenteilige Asylkooperation und ich schlage es nicht vor. Sie schlagen vor, Rückübernahmeabkommen zu aktivieren. Und ich meine, dass das die – sowohl innereuropäisch als im Ansatz auch mit Drittstaaten ja bereits in Gang befindlichen – Bemühungen und Verhandlungen um Kooperation und Lastenteilung nicht in eine konstruktive Richtung voran bringt. Als Druckmittel taugt es nicht, weil die Abkommen kündbar sind. Und als Maßnahme, die zu Ende gedacht nicht mit einem fairen Lastenteilungskonzept einhergeht, sondern einseitig dem Entlastungsinteresse der fluchtquellferneren Staaten dient (wie berechtigt auch immer, soweit diese tatsächlich übermäßig belastet sind), bleibt der Vorschlag im “St. Florians-Modus” und befördert damit Konkurrenz und Eskalation. Sagt die Mediatorin. Das ist nicht ratsam, wenn man, wie Sie selbst sagen, auf Kooperation angewiesen ist. Sachdienlich sind Vorschläge, die nicht nur das nationale Entlastungsinteresse im Blick haben.
    Viele Grüße AL

  4. Peter Camenzind Tue 10 Nov 2015 at 12:50 - Reply

    Von einem Entlastungsinteresse ausgehend den Druck auf Kooperationsunwillige zu erhöhen, scheint nicht absolut ungangbar.

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