Juridifizierung von Symbolpolitik
Ein Kommentar zur Nichtzulassung einer Verfassungsbeschwerde von Mitgliedern zweier „Rocker-Clubs“
Am 14. August veröffentlichte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) einen Beschluss, der eine Verfassungsbeschwerde gegen das Verbot der Verwendung von Kennzeichen verbotener Vereine nicht zur Entscheidung zuließ (Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 9. Juli 2020 – 1 BvR 2067/17, 1 BvR 424/18, 1 BvR 423/18). Damit bestätigte die Kammer, dass die Mitglieder nicht verbotener Chapter eines Vereins Kennzeichen eines verbotenen Chapters wie die Kutte oder eine Tätowierung((Das BVerfG stellt fest, dass das Vereinsrecht nicht unmittelbar dazu auffordere, eine Tätowierung mit vereinsrechtlich verbotenen Kennzeichen zu entfernen oder zu verändern. Der Beschwerdeführer könne seine Tätowierung privat und abgedeckt weiter tragen, aber nicht in der Öffentlichkeit. Zudem stellt es fest, dass das Grundgesetz zwar garantiere, dass ein Verhalten nicht nachträglich strafbar werde; das Grundgesetz garantiere aber nicht, dass ein Verhalten hinsichtlich seiner Folgen immer legal bleibe (Rn. 23-24).)) nicht mehr tragen dürfen. Der Kern der Begründung des BVerfG: Wenn ein legaler Verein das Logo eines verbotenen Vereins benutze, identifiziert er sich auch mit dessen strafbaren Aktivitäten. Bei näherer Betrachtung erweist sich die Begründung als realitätsfremd und nicht stichhaltig.
Regeln und Ausnahmen
Im September 2017 hatten lokale Chapter des Motorradclubs Gremium Germany sowie Charter der Hells Angels Verfassungsbeschwerde gegen das Zweite Gesetz zur Änderung des Vereinsgesetzes (VereinsG) vom 10. März 2017 eingelegt. Der Gesetzgeber hatte damit das Verbot der Verwendung von Kennzeichen in § 9 Abs. 3 VereinsG sowie die damit verbundene Strafnorm in § 20 Abs. 1 Satz 2 VereinsG verändert. Gleich zu Beginn zitiert das BVerfG in seiner Entscheidung dazu den Gesetzgeber, der so „insbesondere Vereinigungen im Bereich der kriminellen Rockergruppierungen entgegentreten“ wolle; deren Kennzeichen sollen effektiv aus der Öffentlichkeit verbannt werden (Rn. 1; Hervorhebungen hier und im Folgenden vom Verfasser). § 9 VereinsG regelt als Folge eines Vereinsverbots das Verbot der öffentlichen Verwendung von Vereinskennzeichen und richtet sich an jede Person und nicht nur an Mitglieder. Absatz 2 lautet: „Kennzeichen im Sinne des Absatzes 1 sind insbesondere Fahnen, Abzeichen, Uniformstücke, Parolen und Grußformen“. Das Wort „insbesondere“ verdeutlicht, dass die Aufzählung beispielhaft und nicht abschließend ist und somit auch Patches und insbesondere Kutten umfasst sind.
Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Auch wenn die Nichtannahme einer Beschwerde eher die Regel als die Ausnahme ist, so lohnt es doch, sich damit näher zu befassen, und zwar aus mehreren Gründen.
Von den Nichtannahmebeschlüssen werden lediglich etwa 200 bis 300 mit einer Begründung versehen, mit einer sog. „Tenorbegründung“ (also einem knappen Satz) sind es rund 600. Ganz ohne Begründung bleiben um die 80 Prozent der eingegangen Verfahren. Im vorliegenden Fall erachtete das BVerfG es immerhin für notwendig, seine Entscheidung ausführlicher zu begründen. Erhard Blankenburg hatte sich bereits 1998 mit den Gründen für die Nichtannahme von Verfassungsbeschwerden beschäftigt und von der „Juridifizierung von Politik“ und dem Bundesverfassungsgericht als „Klagemauer“ gesprochen.
Vorgeschichte(n)
Das BVerfG hatte bereits 2019 Verfassungsbeschwerden gegen sechs Vereinsverbote nicht zur Entscheidung angenommen. Das Verbot von „Rocker“-Vereinigungen (Outlaw Motorcycle Gang, OMCGs) sei verfassungsgemäß, weil diese ihre Mitglieder darin fördern würden, Strafgesetze zu verletzen. Das BVerfG hatte zuvor bereits 2018 betont, dass OMCGs nicht durch eine formale Organisationsstruktur geprägt seien. Es reiche aber aus, dass sich die Mitglieder faktisch einem autoritären Willen unterwerfen, sofern sie durch eine einheitliche Willensbildung verbundensind (BVerfG, Beschluss vom 13.07.2018 – 1 BvR 1474/12, 1 BvR 57/14, 1 BvR 670/13).
In Vereinsverbotsverfahren stellt das jeweils zuständige Landesministerium in der Regel zunächst fest, dass Zweck und Tätigkeit eines Charters oder Chapters den Strafgesetzen zuwiderlaufen. Dann werden das Verbot und die Auflösung des Vereins ausgesprochen. Zugleich ergeht das Verbot, Kennzeichen des Vereins zu verbreiten und öffentlich zu verwenden. Die Verbotsbehörden stützten sich dabei auf ganz unterschiedliche Argumentationen wie z.B., dass das Charter nicht das Motorradfahren fördern wolle, sondern seine Zwecke und seine Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderliefen. Das zeige sich daran, dass bspw. Mitglieder kein Motorrad auf ihren Namen angemeldet hätten. Vereinszweck sei es vielmehr, den Mitgliedern umfassende Hilfestellung zu den von ihnen begangenen Straftaten zu bieten. Dies zeigten auch die „strafrechtlich ermittelten Kenntnisse“ (sic!) zu den jeweiligen „Rules“. Es bestehe eine „besondere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“, und da Vereinigungen als solche nicht straffähig seien, komme es auf das Verhalten ihrer Mitglieder an. Nicht erforderlich sei, dass verbotswidriges Handeln Hauptzweck der Vereinigungsei oder auf Dauer bestehe. Es genüge, wenn sich Straftaten nach außen als Vereinsaktivitäten darstellten, die Vereinigung diesen Umstand kenne und billige oder jedenfalls widerspruchslos hinnehme. In diesem Kontext wird dann auf (oftmals spektakuläre) Straftaten von Mitgliedern auch anderer OMCGs verwiesen, wobei für diese Aussagen polizeiinterne Unterlagen verwendet werden, nur selten Gerichtsentscheidungen.
Das BVerfG betont allerdings auch, dass es für das Verbot keiner (tatsächlich) begangenen Straftat bedürfe, da das Vereinigungsverbot als eigenständiges Mittel des präventiven Verfassungsschutzes gerade nicht an solche Voraussetzungen gebunden sei. Die Behörden müssten auch nicht nachweisen, dass der Verein eine Straftat in ihrer Ausführung auf der Regionalebene geplant oder befürwortet habe. Dem BVerfG reicht es, dass sich Rocker-Clubs nicht ausreichend von Straftaten distanziert hätten, die von ihren Mitgliedern begangen wurden – wonach dann doch Straftaten vorliegen müssen. Die Forderung der Distanzierung ist dabei ein entscheidender Punkt, denn es ist gerade ein wesentliches Merkmal von OMCGs, sich nicht öffentlich zum Verhalten ihrer Mitglieder zu äußern – was nicht bedeutet, dass nicht intern sehr wohl Konsequenzen (wie Vereinsausschluss) gezogen werden.
Aktionismus ohne Informationsgrundlage
2018 fragte die Abgeordnete Irene Mihalic die Bundesregierung, welche Studien dem Bundeskriminalamt vorliegen, in denen die Straffälligkeit von Mitgliedern von Rockergruppierungen untersucht wurde. In ihrer Antwort verweist die Bundesregierung darauf, dass im Rahmen der ausgesprochenen Vereinsverbote zur Straffälligkeit der bekannten Mitglieder Informationen durch das Bundeskriminalamt erhoben wurden. Und weiter:
„Das Bundeskriminalamt verfügt über weitere Informationszusammenstellungen zu sog. Rockergruppierungen, … Diese Informationszusammenstellungen dienen der Feststellung vereinsrechtlicher Verbotstatbestände. Aussagen zu den betroffenen Gruppierungen und insbesondere auch zu den vorliegenden Informationen zu Mitgliedern und deren Straffälligkeit können nicht übermittelt werden, da sie sich auf die Prüfung evtl. zukünftiger Maßnahmen der Bundesregierung beziehen und das Handeln der Bundesregierung in diesem Bereich berechenbar machen könnten. So könnten Schlussfolgerungen gezogen werden auf das ermittlungstaktische Vorgehen als auch auf die Ermessenausübung der Bundesregierung falls Verbotstatbestände festgestellt würden. Diese Informationen sind daher dem Bereich der exekutiven Eigenverantwortung der Bundesregierung zuzurechnen“. (s. BT-Drs. 19/4317, Frage 37, S. 27 f.)
Diese Antwort verschleiert ganz offensichtlich, dass es keine entsprechenden Studien gibt. Die Innenministerien, die für die Verbote zuständig sind, verweisen aber in der Regel auf die Polizei, und diese auf den sogenannten „Strukturbericht“ des Landeskriminalamtes Baden-Württemberg (vgl. dazu Feltes/Reiners, 2018). Die Behörden stützen sich maßgeblich auf diesen Bericht, wobei meine Analyse zeigt, dass er nicht als objektive Grundlage für Entscheidungen herangezogen werden kann((S. dazu auch die Beiträge in dem von Felix Rauls und mir herausgegebenen Sammelband „Der Kampf gegen Rocker. Der “administrative Ansatz” und seine rechtsstaatlichen Grenzen. Reihe „Polizieren. Polizei, Wissenschaft und Gesellschaft“. Verlag für Polizeiwissenschaft, Frankfurt.)). Vielmehr handelt es sich bei diesem „Strukturbericht“ ebenso wie bei dem sog. „Wissensprodukt“ von EUROPOL (vgl. dazu Spapens/PetersVan Daele, 2015), auf dem der Bericht im Wesentlichen basiert, um eine Zusammenstellung von Mutmaßungen, unbewiesenen Behauptungen und wissenschaftlich unseriösen Analysen, die die Bezeichnung „Strukturbericht“ bzw. „Wissensprodukt“ nicht verdienen. Es mangelt durchgängig an grundlegenden Anforderungen, die in einem objektiven, an Sachargumenten orientierten Verfahren an Beweismittel zu stellen sind – und dies betrifft sowohl das Verwaltungsverfahren selbst, als auch spätere gerichtliche Verfahren, in denen dieser „Strukturbericht“ immer wieder verwendet wird, wenn es um präventive Waffenverbote geht oder um Kuttenverbote. Bei diesem Bericht handelt es sich um interessengeleitete, einseitig an bestimmten Ergebnissen orientierte Zusammenstellungen von Meinungen, die weder geeignet sind, rechtlichen Bewertungen zugrunde gelegt zu werden, noch verwendet werden dürfen, wenn man übliche (verfahrens‐)rechtsstaatliche Standards zugrunde legt. Dies zeigt schon die Tatsache, dass es nach Schätzung des Bundeskriminalamtes in Deutschland rund 10.000 Rocker gibt, die OMCGs angehören. Im letzten verfügbaren Lagebild des BKA werden aber nur 2 Prozent aller Verfahren gegen organisierte Kriminalität den Rockerclubs zugerechnet. Die Aussage des BVerfG, dass die Kennzeichenverbote jedenfalls „als Mittel zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität und zur Durchsetzung eines Vereinsverbots (dienen), das selbst den hohen Anforderungen des Art. 9 Abs. 2 GG unterliegt, und damit wichtigen Gemeinschaftsbelangen, die eine Strafnorm rechtfertigen können“ (Rn. 41), erscheint daher realitätsfremd. Die hohen verfassungsrechtlichen Anforderungen, die das BVerfG auch in diesem Zusammenhang zitiert, dürften nicht erfüllt sein.
Die „Abwehr spezifischer, aus der organisierten Kraft einer Vereinigung entstehender Gefahren für bestimmte überragende Rechtsgüter“ (Rn. 44) mag dort berechtigt sein, wo die organisierte Kraft einer Vereinigung tatsächlich dafür verantwortlich ist, dass schwere Straftaten begangen werden. Dies trifft aber für die Mehrzahl der Charter und Chapter von OMCGs in Deutschland nicht zu. Die überwiegend gesetzestreuen Mitglieder aller anderen Gruppierungen werden so in ihren Rechten beschnitten. Dies hat das BVerfG zu wenig berücksichtigt und unterstützt somit die Symbolpolitik, die bei Rockergruppierungen ihren Anfang genommen hat und aktuell bei den sogenannten „Clans“ fortgeführt wird (vgl. Rauls/Feltes 2020). Blankenburgs These der „Juridifizierung von Politik“ kann somit in „Juridifizierung von Symbolpolitik“ umgeschrieben werden.