15 July 2021

Kampf oder diplomatischer Ausgleich?

Der Kampf um die Vorherrschaft in Europa wird auf unterschiedlichen Ebenen ausgetragen. Auch das Recht steht dabei nicht zurück. Mit seinem Urteil vom 5. Mai 2020 hat das BVerfG den EuGH mit harschen Worten zurechtgewiesen: dieser habe in seinem auf Vorlage aus Karlsruhe ergangenen Urteil vom 11. Dezember 2018 bei der Überprüfung des Beschlusses der EZB über die Einführung des Ankaufprogramms für öffentlich-rechtliche Schuldtitel („PSPP“) vom 22. Januar 2015 grob fehlerhaft („schlechthin nicht nachvollziehbar“) gehandelt, indem er den gebotenen Maßstab der Verhältnismäßigkeit allein im Hinblick auf die intendierte Zielbestimmung angewandt habe, unter Außerachtlassung aller Nebenwirkungen in der Gesamtwirtschaft. Durch diese Verkürzung könne aber der Nachweis der Zugehörigkeit der beschlossenen Maßnahme zur Währungspolitik nicht erbracht werden: die EZB habe ultra vires gehandelt. Demgemäß hat das BVerfG dem Beschluss der EZB die sonst allen Unionsrechtsakten innewohnende Vorrangwirkung abgesprochen und allen deutschen Staatsorganen untersagt, an dessen Umsetzung mitzuwirken.

Ein Aufstand also? Bis dahin hatte ein deutsches Gericht noch niemals dem EuGH offen die Gefolgschaft verweigert. In der danach ausgebrochenen Debatte sind die rechtlichen Argumente pro und contra zur Genüge ausgetauscht worden. Die Streitpunkte haben sich klar herausgeschält. Auf der Seite der hartnäckigen Europa-Anhänger wird das verfassungsgerichtliche Urteil als schwerwiegender Bruch der Vertragstreue gebrandmarkt, aus staatsrechtlicher Sicht wird hingegen darauf hingewiesen, dass der Vertrag von Lissabon nach wie vor einen völkerrechtlichen Vertrag darstelle, der seine Legitimität aus der demokratischen Gewalt der Völker der Mitgliedstaaten schöpfe und daher in Deutschland auch nach den Vorgaben des Grundgesetzes gewürdigt werden müsse.

Nachdem nun die Europäische Kommission angekündigt hat, sie werde das Urteil des BVerfG zum Gegenstand eines Vertragsverletzungsverfahrens machen, hat der frühere Gerichtspräsident Andreas Vosskuhle in einem Interview die Vermutung geäußert, dass die Europäische Kommission und der EuGH in einem kollusiven Zusammenwirken danach strebten, die Europäische Union unter der Hand in einen europäischen Bundesstaat zu verwandeln. Wenn es nicht mehr zulässig sei, Kompetenzüberschreitungen zu rügen, seien alle checks auf dem Wege hin zu einem europäischen Überstaat beseitigt. Die Auseinandersetzung zwischen den beiden höchsten Gerichten entwickelt sich damit zu einem subkutan ausgetragenen Verfassungsdrama, das allmählich auch eine breitere Öffentlichkeit beunruhigen muss.

Der Standpunkt des EuGH ist verständlich. Ihm obliegt es, die Wahrung des Rechts „bei der Anwendung und Auslegung der Verträge“ zu sichern (Art. 19 (1) EUV). Nicht unplausibel kann er argumentieren, dass ihn Hemmnisse aus dem Verfassungsrecht einzelner Mitgliedstaaten nichts angingen. Damit stellt er sich auf den Standpunkt des internationalen Richters, der bei völkerrechtlichen Verträgen nach den Regeln der Wiener Vertragsrechtskonvention (Art. 46) grundsätzlich alle Einwände aus dem internen Recht einzelner Vertragsstaaten zu negieren hat. Aber das Konvolut der Abmachungen über die Europäische Union ist kein beliebiges Vertragswerk. Es beruht auf Verständigung und Kooperation, wie sie etwa bei einem weltweiten Übereinkommen nicht vorausgesetzt werden können. Art 4 (2) EUV gebietet der Union, die jeweilige „nationale Identität“ ihrer Mitglieder zu achten. Offensichtlich kommt nicht jeder angebliche Fall eines ultra vires-Fehlgriffs einem Verstoß gegen die gebotene Achtung der nationalen Identität gleich. Aber die enge Verknüpfung von nationaler und europäischer Ebene verlangt nach einem hohen Maß an Rücksichtnahme, auch wenn die Intensitätsstufe der Identitätsbeeinträchtigung nicht erreicht ist. Darf man aus der jetzt beschlossenen Einleitung des Verfahrens aus Art. 258 AEUV schließen, dass hier vermutlich ein Geheimbündnis erste Fühler nach der Macht ausstrecke? Eine realistische Betrachtung muss dies verneinen. Die Diagnose darf lauten: es ist der Tunnelblick der Luxemburger Richter, der ihnen den Blick auf das weitere Panorama versperrt, getragen von der Sorge, jeden Einbruch in die schöne Festung des Vorrangs verhindern zu sollen, die von anderen als beliebiger Vorwand genutzt werden könnte. Im jüngsten Beschluss des BVerfG vom 23. Juni 2021 lässt sich nachlesen, wie breit die Einbruchstelle mittlerweile geworden ist (Rdnr. 74).

Das BVerfG andererseits befindet  sich in einem konstitutionellen Dilemma. Auf der einen Seite ist es als Institution deutscher Staatlichkeit dem Grundgesetz mit seinem Wesenskern des Art. 79 (3) verpflichtet und muss darauf achten, dass die durch das Zustimmungsgesetz nach Art. 23 GG definierte Öffnung nach außen innerhalb der vorgesehenen Grenzen bleibt; auf der anderen Seite soll es in einem „vereinten Europa dem Frieden der Welt … dienen“ und ist damit von Verfassungs wegen auf die europäische Integration ausgerichtet (Präambel). In seiner bisherigen Rechtsprechung hat es immer wieder versucht, von seiner Warte her einen Ausgleich zu finden. Zu nennen sind hier insbesondere das Lissabon-Urteil (BVerfGE 123, 267), das den Versuch gemacht hat, die Kompetenzbereiche breitflächig voneinander abzugrenzen, sowie das großherzige Honeywell-Urteil (BVerfGE 126, 286). Was aber letzten Endes fehlt, ist ein Mechanismus, der definitiv entscheidet, in welchen Sektor eine bestimmte Materie fällt, wenn zur Auslegung der maßgebenden Normen unterschiedliche Meinungen mit gerichtlicher Autorität verfochten werden.

Das Vorabentscheidungsverfahren mag auf den ersten Blick als Lösung erscheinen. Aber verbindliche Interpretationen, welche der EuGH zur Auslegung des Unionsrechts abgibt, sollen nur der einheitlichen Rechtsauslegung und -anwendung auf den der Union übertragenen Sachbereichen dienen. Das Unionsrecht soll sich in allen Mitgliedstaaten in gleicher Weise entfalten können. Nicht konzipiert ist indes das Vorabentscheidungsverfahren als Schlüssel für die Kompetenzabgrenzung zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten.

Im Alltag bewährt sich das Rechtsetzungsverfahren der EU als wirksame Präventionskontrolle. Ein Rechtsakt, der vom Rat und vom Europäischen Parlament mit ihrer Anbindung an demokratische Wurzeln gutgeheißen worden ist, wird von einem nationalen Verfassungsgericht guten Gewissens nicht als ultra vires oder als Identitätsbruch ergangen qualifiziert werden können. Weniger einfach lassen sich die Dinge beurteilen, wenn ein Mitgliedstaat geltend macht, die EU habe sich eines Gebiets bemächtigt, das ihr von den Verträgen nicht zugewiesen worden sei, vor allem dann, wenn auf die Grundrechte der Charta zurückgegriffen worden ist. Durch die Entdeckung des Art. 19 (1) EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta als Maßstab für die effektive Durchführung des Unionsrechts hat sich die EU allerdings, methodisch an sich unangreifbar, ein breites Anwendungsfeld für die Kontrolle über die nationalen Justizsysteme gesichert, obwohl der Vertrag von Lissabon eine solche sachgegenständliche Hoheitsübertragung nicht vorsieht (Urteil C-619/18, Kommission gegen Polen, 2. Oktober 2018). Die jüngste Entscheidung des EuGH, eine einstweilige Anordnung vom 14. Juli 2021 mit verbindlichen Anweisungen zur sofortigen Korrektur der neuerlichen tiefgreifenden Umgestaltung der polnischen Gerichtsorganisation, wirft allerdings die rechtskonstruktive Frage auf, ob  mit dem Instrument des vorläufigen Rechtsschutzes ein Ergebnis erzielt werden kann, das im Hauptverfahren gar nicht mit der gleichen Rigorosität zu erreichen wäre. Auf keinen Fall sollte der einstweilige Rechtsschutz den Erfolg des gewünschten Rechtsschutzbegehrens antizipieren.

Im Hintergrund PSPP-Verfahrens steckt eine gewisse Reue über die Konfiguration der EZB und des ESZB, für die als Vorbild die Unabhängigkeit der Bundesbank nach Art. 88 GG gedient hat. Offensichtlich konnten sich die Schöpfer der Verträge nicht vorstellen, dass in einer Verbindung von 28 Staaten die währungspolitischen Entscheidungen in sehr viel höherem Maße politischem Druck ausgesetzt sein würden als auf rein nationaler Ebene. Das Expertenwissen der Mitglieder von Rat und Direktorium der EZB ist damit auf dem vom BVerfG erfundenen Wege über Art. 38 GG einer Kontrolle unterworfen worden, die zunächst gerade ausgeschlossen werden sollte.

Wenn Grundsatzdivergenzen auftauchen über die grundlegenden Eckpfeiler der Unionsordnung, lassen sich diese nur schwer mit richterlicher Autorität lösen. Aber die Mitgliedstaaten müssen anerkennen, dass der EuGH durch die Charta im Verbund mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zum Verfassungsgerichtshof der EU geworden ist. Für vom gemeineuropäischen Konsens über die Rechtsstaatlichkeit abweichende Auffassungen, wie sie vor allem von Polen und Ungarn vertreten werden, bleibt da kein Platz. Auch flexible Kompromisse scheiden als Mittel der Befriedung aus. Für Streitigkeiten über die Bewertung als ultra vires lassen sich andererseits Verfahren denken, die mit einer gewissen diplomatischen Flexibilität geführt werden, so wie sich die Auseinandersetzung über die korrekte Anwendung des Maßstabs der Verhältnismäßigkeit im Wesentlichen ohne viel Aufhebens erledigt hat, nachdem die im PSPP-Urteil empfohlenen Schritte von allen Seiten buchstabentreu befolgt worden waren. Die Dramatik der Gesamtperspektive entsprach nicht dem begrenzten Gewicht des streitigen Einzelfalls. Für die Rechtsstaatlichkeit verheerend wäre andererseits die Durchführung des Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland, wo dann der EuGH sein eigenes Urteil verteidigen müsste. Auch die EU kann sich nicht von dem hergebrachten Grundsatz nemo judex in re sua freisprechen.


2 Comments

  1. Claudio Franzius Fri 16 Jul 2021 at 22:00 - Reply

    mmh, ja was jetzt? Politik? Bleibt der Kommission ernsthaft eine Wahl? Mit der Verfassungsidentität ließe sich argumentieren, weil sie zumindest einen Anknüpfungspunkt in den Verträgen findet, mit ultra vires aber nicht. Das kann die EU nicht akzeptieren, nicht zuletzt weil es mit einem Vorwurf an die Unionsorgane verbunden ist, die Verträge missachtet zu haben. Der Zweite Senat muss wissen, was er tut, zumal mit Blick auf Polen und Ungarn. Insoweit bleibt die Darstellung, lieber Herr Tomuschat, etwas blass.

    • Daniel M Mon 16 Aug 2021 at 08:56 - Reply

      Wenngleich es stimmt, dass Lösungsansätze nicht wirklich geboten werden in dem Artikel, muss ich Ihnen dahingehend widersprechen, dass die ultra vires Auslegung als Argument nicht trage. Selbstverständlich ist eine entsprechende Frage nicht in den Verträgen geregelt, sowie es in kaum einem Gesetz geregelt ist, was die Folge eines Handelns durch Unzuständige – worum es sich in der ultra vires Frage doch letztlich handelt – ist, sondern immer nur die zuständigen bestimmt werden.

      Die Pflicht zur Klärung liegt m.E. jetzt bei der Politik, da die Zuständigkeitsfragen, auch für die Klärung der Zuständigkeit, nicht gerichtlich beantwortet werden können, sondern durch das demokratisch legitimierte Rechtsetzungsorgan politisch entschieden werden muss.

      Welche national konstitutionellen Fragen sich dann im Bezug auf das jeweilige Ratifikationsgesetz ergeben, steht dann wohl im nächsten Kaptiel

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