Karlsruhe ist kein Schiedsrichter: Warum der Normenkontrollantrag gegen § 219a StGB ein Fehler ist
Eine mögliche, aber wenig sinnvolle Klage…
Im Anschluss an eine breite öffentliche Debatte hat sich der Bundestag in der letzten Woche auf eine Reform des § 219a StGB geeinigt. Für demokratische Prozesse typisch fand man einen Kompromiss, bei dem sich keine der beiden “radikalen” Seiten innerhalb der Großen Koalition (Abschaffung einerseits, völlige Beibehaltung andererseits) vollständig durchsetzen konnte. Anstatt diese partielle politische Niederlage zu akzeptieren, wollen die allesamt für eine Abschaffung eintretenden Oppositionsparteien (FDP, Grüne und Linke) nun das Bundesverfassungsgericht anrufen. Das Grundgesetz ermöglicht dies, weil die abstrakte Normenkontrolle als Minderheitenrecht ausgestaltet ist. Gleichwohl zeugt der Schritt von einem verfehlten Verständnis parlamentarischer Prozesse und trägt zudem zu einem weit verbreiteten Misstrauen gegen das Parlament bei.
Der Streitraum der Politik
Den zentralen politischen Streitraum((Die folgenden Ausführungen entstammen teilweise A. Thiele, Verlustdemokratie, 2. Aufl. 2018, S. 160 ff.)) bildet im parlamentarischen Regierungssystem das Parlament selbst. Für die allgemeine Anerkennung politischer Entscheidungen ist es von daher entscheidend, dass der politische Streit nicht nur im Wesentlichen innerhalb dieses Streitraumes geführt wird, sondern vor allem, dass er dort auch sein Ende findet. In der dort gefundenen Form ist die Entscheidung dann für alle Mitglieder des Gemeinwesens und damit auch für die unterlegene Minderheit verbindlich. Sie bleibt damit zwar reversibel, aber nur wenn sich die politischen Mehrheitsverhältnisse – aus welchen Gründen auch immer – ändern sollten. Die Anerkennung der Tatsache, dass der politische Diskurs mit der getroffenen Entscheidung zunächst einmal seinen Abschluss gefunden hat, ist als Ausdruck der politischen Gleichheit insofern notwendiger Bestandteil demokratischer Streitkultur.
Vor diesem Hintergrund erscheint es generell nicht unproblematisch, wenn die in der politischen Arena unterlegene Minderheit (so wie vorliegend) versucht, den politischen Streit auf der Bühne des Rechts fortzuführen und durch ein Urteil eines Verfassungsgerichts doch noch für sich zu entscheiden. In den USA ist dieser Weg vor allem aufgrund der “political-question-doctrine” des Supreme Court (allerdings keineswegs immer) versperrt, insbesondere in Deutschland ist der Weg zum Bundesverfassungsgericht, der berühmte „Gang nach Karlsruhe“, hingegen auch in politischen Fragen nicht von vornherein ausgeschlossen. Wie hier wird er denn auch von Seiten der Opposition immer häufiger genutzt, um Gesetzesbeschlüsse der Mehrheit doch noch scheitern zu lassen. Dieses besondere Recht der Opposition ist eine deutsche Besonderheit und in praktisch keiner anderen der westlichen Demokratien in dieser Form vorhanden. Das hat freilich nicht verhindert, dass es von einigen Stimmen geradezu als das „vornehmste Recht“ parlamentarischer Oppositionen bezeichnet worden ist, dessen Beschränkung daher nur unter engen Voraussetzungen – wenn überhaupt – zulässig sein soll.
Verfehlte Überhöhung der abstrakten Normenkontrolle
Tatsächlich erscheint diese Überhöhung der Bedeutung der abstrakten Normenkontrolle gerade aus demokratietheoretischer Sicht jedoch verfehlt – ein solches Verfahren gehört daher auch zu Recht (und entgegen dem auch medial verbreiteten Eindruck) keineswegs zu den Standardkontrollinstrumenten einer parlamentarischen Opposition. Denn die bestehende Ausgestaltung der demokratietheoretisch ohnehin nicht unproblematischen abstrakten Normenkontrolle als Minderheitenrecht lädt die Opposition geradezu dazu ein, politische Niederlagen im Primärstreitraum anschließend nach Karlsruhe zu tragen. Das erscheint auf den ersten Blick unproblematisch – das Bundesverfassungsgericht wacht doch lediglich über die Einhaltung der verbindlichen Vorgaben der Verfassung. Tatsächlich ist diese politische Instrumentalisierung eines rechtlichen Verfahrens jedoch aus verschiedenen Gründen bedenklich.
Abgesehen davon, dass es auf einem verfehlten Verständnis der Funktion der (politischen) parlamentarischen Opposition beruht, dieser eine Art „Rechtsaufsicht“ über die parlamentarische Mehrheit zuzuweisen, wird dadurch zum einen ein formeller Abschluss des politischen Streits verhindert – das laufende gerichtliche Verfahren schwebt wie ein Damoklesschwert über der getroffenen Entscheidung und verhindert damit den eigentlich angestrebten Rechtsfrieden, gerade auch innerhalb der Bevölkerung. Immerhin sind es (wie auch in diesem Fall) vor allem harte politische Konflikte, die auf diesem Weg ihre Fortsetzung finden sollen. Das Bundesverfassungsgericht wird dadurch nolens volens in politische Konflikte involviert und zu einem politischen Akteur. Als ein solcher wird es daher auch in der Öffentlichkeit zunehmend wahrgenommen, worin sich zugleich ein unangemessenes Misstrauen gegenüber den eigentlichen politischen Protagonisten spiegelt. Der politische Prozess, so scheint es, ist erst abgeschlossen, wenn das Bundesverfassungsgericht als politisch unverdächtiger Akteur, gewissermaßen als „moralische Autorität“ (Volkmann, Jura 2015, 1083 (1092)), seinen Segen gegeben hat. Bis dahin ist es dann aber auch legitim, die getroffene parlamentarische Entscheidung weiterhin als noch nicht endgültig in Frage zu stellen – notwendig anzuerkennen ist erst das abschließende Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Damit entwertet sich der politische Prozess selbst, zudem wird dem Bundesverfassungsgericht eine Verantwortung zugewiesen, mit der es nur schwer umzugehen vermag, denn nicht jede politische Frage lässt sich in eine einfache Rechtsfrage umformulieren. So ist es auch hier: Die Frage der Änderung des § 219a StGB und der gefundene Kompromiss dürfte gerade keine sein, die durch das Grundgesetz in irgendeiner Weise determiniert wird. Anders als in anderen Debatten spielten normative Argumente in diesem Fall daher auch nur – wenn überhaupt – eine untergeordnete Rolle. Für die Klage kommt es nun aber allein auf solche verfassungsrechtlichen Erwägungen an. Auch angesichts der bereits auf Urteilen des Bundesverfassungsgerichts beruhenden (politisch gewiss weiterhin umstrittenen) Konzeption des § 218 StGB und der komplexen Abwägungen im Hinblick auf die Ausgestaltung des „richtigen“ Lebensschutzes: Wäre es eigentlich ratsam, wenn das Grundgesetz sich hier eindeutig für die eine oder andere Seite positionieren würde? Könnte die unterlegene Seite ein solches Urteil akzeptieren? Und ist es nicht sinnvoll, dass beide Seiten im Wege des politischen Prozesses aufeinander zugehen und einen für beide Seiten tragfähigen Kompromiss erarbeiten?
Nun dürfte die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in diesem Fall ziemlich klar gegen eine Nichtigkeit ausfallen (Hans Michael Heinig hat die angestrebte Klage bereits als aus der Rubrik “abwegig” stammend bezeichnet). Insofern könnte man die Oppositionsklage zumindest insofern gelassen zur Kenntnis nehmen. Problematisch ist aber, dass auch eine solche Abweisung der Klage sich in der Regel ungünstig auf den weiteren politischen Prozess auswirkt. Denn die nachfolgende Urteilsanerkennung erscheint oftmals geradezu überschießend, wenn dem Urteil nämlich eine Verbindlichkeit zugemessen wird, die ihm gerade für den politischen Prozess an sich überhaupt nicht zukommt. Und das gilt vor allem für solche Urteile, die die politisch getroffene Entscheidung bestätigen – wie es auch hier mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sein dürfte. Aus rechtlicher Perspektive bringen solche Urteile nämlich lediglich zum Ausdruck, dass die politische Entscheidung mit der Verfassung vereinbar war, ohne damit irgendein Werturteil zu verknüpfen – sie ist folglich weder gut noch schlecht, sondern lediglich erlaubt, hätte aber auch anders ausfallen können. Im politischen Raum und auch in der Öffentlichkeit werden solche Urteile jedoch regelmäßig dahingehend interpretiert, dass das Bundesverfassungsgericht die jeweilige Entscheidung auch für inhaltlich richtig und gut befunden hat. Die Opposition hält sich daher aus (verfehltem) Respekt vor dem Bundesverfassungsgericht nicht selten stark zurück, die durch das Bundesverfassungsgericht bestätigte politische Entscheidung zukünftig im Parlament in Frage zu stellen und diesbezüglich für andere parlamentarische Mehrheiten zu kämpfen, während sich die Mehrheit auf eben dieses rechtliche Urteil beruft, um die Entscheidung politisch zu rechtfertigen. Das rechtliche Urteil übt auf diesem Weg erheblichen Einfluss auf den politischen Diskurs aus, indem es diesen in seiner Intensität hemmt oder sogar ganz ausfällen lässt.
Probleme entstehen freilich auch und gerade dort – das sei der Vollständigkeit leidlich noch erwähnt –, wo das Bundesverfassungsgericht eine Entscheidung für unvereinbar mit der Verfassung erklären sollte. Denn damit wird eine hochpolitische Frage tatsächlich vom Bundesverfassungsgericht und nicht vom Parlament entschieden. Will man den Vorrang der Verfassung nicht leerlaufen lassen, wird man das zwar im Grundsatz anerkennen müssen. Gefährlich wird es aber dann, wenn der Verfassung auf diesem Wege immer mehr Vorgaben entnommen werden und die Verfassung durch das Bundesverfassungsgericht zunehmend materiell aufgeladen wird. Jede Verfassung tut gut daran, hochpolitische Fragen nicht selbst zu entscheiden, sondern dem demokratischen Diskurs und dem Spiel der Mehrheiten zu überlassen. Auch die Normen des Grundgesetzes sind offen gehalten und lassen Raum für unterschiedliche Interpretationen. Das Bundesverfassungsgericht kann jedoch durch seine „Herrschaft über die Interpretation der Verfassung“ (Volkmann, Jura 2015, 1083 (1091)) die Reichweite seines Zugriffs auf zu kontrollierende Gesetze selbst steuern, indem es den Entscheidungsmaßstab selbst setzt. In dem Maße, in dem das Bundesverfassungsgericht im Rahmen dieses Steuerungsprozesses eine der denkbaren Interpretationen für normativ verbindlich erklärt, entzieht es die jeweilige Frage damit zugleich dem parlamentarischen Diskurs. Will das Parlament das Problem anders lösen, bleibt diesem nur noch der Weg der Verfassungsänderung – und selbst dieser ist verschlossen, wo das Bundesverfassungsgericht sein Urteil auf die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG gestützt haben sollte. Der politische Gestaltungsspielraum des Parlaments wird dadurch zunehmend eingeengt und es entsteht der Eindruck, dass politische Entscheidungen durch das Grundgesetz bereits umfassend vorgegeben sind. Politik verkommt zum bloßen Verfassungsvollzug unter Aufsicht des Bundesverfassungsgerichts, bei dem politischer Streit nur noch bedingt oder gar nicht mehr angezeigt erscheint. Tatsächlich hat der politische Raum vereinzelt bereits auf anstehende Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und die darin enthaltenen “Vorgaben aus Karlsruhe“ verwiesen: Der demokratische Primärstreitraum gibt sich auf.
Keine Abschaffung der abstrakten Normenkontrolle
Sollte die abstrakte Normenkontrolle also abgeschafft werden? So weit muss man nicht gehen, auch wenn aus meiner Sicht viel dafür spricht, sie jedenfalls nicht mehr als Minderheitenrecht auszugestalten. Wichtig ist aber, dass auch die Opposition mit diesem bestehenden Klagerecht verantwortungsbewusst umgeht und nicht versucht, eindeutig politische Niederlagen in rechtliche Verfahren umzucodieren. Es ist auch nicht so, dass jede gesellschaftspolitisch bedeutende Frage irgendwann nach Karlsruhe gehört. Es ist vielmehr der politische Primärstreitraum, der über solche Fragen zu befinden hat. Das Grundgesetz setzt hier – durchaus zu Recht – einen weiten Rahmen für politische Debatten. Mit der hier angestrebten Klage macht sich die parlamentarische Opposition insofern kleiner, als sie ist, und trägt zudem zu einem Misstrauen gegen politische Prozesse bei. Sie sollte ihre Ressourcen lieber darauf verwenden, für andere politische Mehrheiten zu kämpfen.
Das eigentliche Problem besteht doch darin, dass ein wesentlicher Teil der Bevölkerung denkt/behauptet, die 218 ff StGB wären verfassungswidrig. Die einen, weil sie das Recht nicht verstanden haben und die anderen, weil sie bewusst wahrheitswidrig behaupten, das ungeborene Kind habe keine Rechte. Die Diskussionen auf Twitter zeugen davon, dass den (wohl) meisten Frauen die Rechte des Kindes – ich zitiere: Scheiß egal sind. Die Parole, “Mein Bauch gehört mir.” beweist eindeutig die Auslassung der Rechte des Kindes.
Ich finde es daher gut, wenn das BVerfG hier noch mal ein klärendes Wort spricht. Die abstrakten Normenkontrolle sollte mAn nicht erschwert werden. Das BVerfG gibt selbst darüber Auskunft, es “werden in der Regel nur wenige abstrakte Normenkontrollverfahren pro Jahr eingereicht.” Und solange Politiker offensichtlich menschenwürdewidrige Gesetze wie den § 1631d BGB erlassen, darf die Wiederherstellung von Menschenrecht nicht auch noch zusätzlich behindert werden.
@Steffen Wasmund
Warum braucht es ein klärendes Wort aus Karlsruhe? Genau darin sehe ich ja die Gefahr: Dass der politische Diskurs in eine normative Urteilsexegese abdriftet und dadurch an ein Ende gelangt, dass es in politischen Fragen aber gerade nicht geben kann. Es ist nicht die Aufgabe Karlsruhes politischen Entscheidungen jeweils noch seinen Segen zu erteilen – nicht jede Frage muss immer auch einer rechtlichen Bewertung unterzogen werden. Für den politischen Prozess ist ein solches Urteil schlicht wertlos. Die Entscheidung kann danach nicht weniger in Frage gestellt werden, als zuvor, was aber meistens die faktische Konsequenz ist. Richtigerweise steht der politische Prozess hingegen zunächst einmal für sich und findet mit der Mehrheitsentscheidung seinen vorläufigen Abschluss. Natürlich kann und muss ein Verfassungsgericht Entscheidungen auch überprüfen können. Gerade da, wo es um große politische Fragen geht, erscheint mir hier aber Vorsicht angebracht, um schlicht nicht den Eindruck zu erzeugen, dass der politische Raum diese Selbständigkeit nicht genießt und alles irgendwie bereits im Grundgesetz steht. Das ist schlicht nicht der Fall (zu Recht).
“Anstatt diese partielle politische Niederlage zu akzeptieren, wollen die allesamt für eine Abschaffung eintretenden Oppositionsparteien (FDP, Grüne und Linke) nun das Bundesverfassungsgericht anrufen.”
Ja, ein Skandal, oder? Aber könnte es nicht sein, dass die angesprochenen Fraktionen im Mehrheitsbeschluss tatsächlich eine Grundrechtsverletzung erkennen? Warum sollte denn dann darüber nicht das BVerfG befinden?! Leuchtet mir nicht ein. Die hier durchscheinende Konzeption des demokratischen Prozesses als Mehrheitsprozess mit Winner-Takes-All-Prinzip hat mit konstitutioneller Demokratie aus meiner Sicht nicht so viel zu tun. Es geht hier doch nicht um eine pure Policy-Entscheidung (wie vielleicht bei der Finanzierung von Bundesautobahnen), sondern grundrechtlich um deutlich mehr. Oder sehe ich da etwas falsch?
Im Übrigen: Sind Sie sicher, dass abstrakte NK “immer häufiger” von der Opposition genutzt werden? Das scheint mir empirisch nicht zu stimmen.
@Law as Integrity
Natürlich kann die Opposition hier klagen. Mir ging es allein darum aufzuzeigen, dass verfassungsrechtliche Fragen diese Debatte bisher nicht geprägt haben. Es handelte sich vielmehr um eine wahrlich politische Diskussion, die das Grundgesetz ermöglichen und nicht determinieren will. Der bisherige § 219a StGB wurde von den Parteien denn auch nicht angegriffen. Warum? Vermutliche, weil rechtliche Bedenken nicht bestanden, sondern allein eine andere politische Auffassung vertreten wurde. Warum die Abschwächung des § 219a StGB nun plötzlich anders zu beurteilen sein soll, leuchtet nicht ein und wirkt auch vorgeschoben. Es ging materiell eben immer um Politik und richtigerweise nicht um Recht. Ich wollte darauf hinweisen, welche Folgen ein solcher Wechsel des Diskursrahmens dabei für die Demokratie haben kann – das Recht zu klagen, wird davon, wie gesagt, nicht berührt. Ich halte es schlicht für verfehlt, hier Klage zu erheben. Der Umstand, dass man klagen kann, bedeutet jedenfalls nicht, dass man auch klagen muss. Insofern sollten bei der Klageerhebung auch andere Gesichtspunkte eine Rolle spielen – und die Auswirkungen für die demokratische Streitkultur gehören bei Klagen der Opposition gewiss dazu.
Und wenn die Regelung nun verfassungswidrig ist, dann soll es gut sein, nie zu fragen, um den faulen politischen Kompromiss nicht in Frage zu stellen?
(vgl. die glorreichen Wahlrechtsreformen derVergangenheit) Wenn die Regelung dagegen nicht zu beanstanden ist, dann wird der politische Prozess auch nicht ueber Gebuehr belastet, indem eine re htliche Pruefung erfolgt. Im Fall von §219a StGB wird ja ohnehin die Individualverfassungsbeschwerde kommen, was ja heutzutage bei fast jedem eingriffsrelevanten Gesetz der Fall ist (vgl. tausende Verfassungsbeschwerden gegen jedes beliebige Sicherheitsgesetz).
Im Hinblick auf die mögliche Verfassungswidrigkeit (die aus meiner Sicht ziemlich eindeutig nicht besteht) macht es eben im Hinblick auf die Beeinträchtigung der parlamentarischen Streitkultur einen Unterschied wer klagt – die politische Opposition direkt oder sich betroffen fühlende Grundrechtsträger. Ich mahne insofern ja auch lediglich dazu, gerade hochpolitische Fragen und zustande gekommene (notwendig nicht immer völlig rationale) Kompromisse von politischer Seite umgehend nach Karlsruhe zu tragen.
…nicht nach Karlsruhe zu tragen natürlich.
Es kann rechtsstaatlich nur zweifelhaft genügend widerspruchsfrei wirken, wenn ein unmittelbar beeinträchtigendes Verhalten straflos und ein nur mittelbar entfernteres Informieren darüber dagegen stets strafbar sein können soll.
Das kann weniger nur rein politische, denn rechtliche Frage sein.
Lieber Alexander,
ein schöner, treffender Kommentar, dem ich voll zustimme, allerdings mit einer Einschränkung: Die Aussage, die abstrakte Normenkontrolle als Oppositionsrecht sei “eine deutsche Besonderheit und in praktisch keiner anderen der westlichen Demokratien in dieser Form vorhanden” ist m.E. schlicht falsch. Vielmehr findet man sie heute in vielen Staaten mit konzentrierter Verfassungsgerichtsbarkeit. In Europa sind das heute nicht nur alle (!) mittel- und osteuropäischen Staaten, sondern zumindest auch Frankreich, Österreich, Portugal und Spanien.
Beste Grüße
Michael
Danke für den Hinweis. Mir ging es vor allem um das Westminster Modell, trotzdem ist meine Aussage allzu pauschal.
Ich sehe den Punkt, kann mich dem aber nur bedingt anschließen.
Es gibt eine offensichtliche Diskrepanz zwischen den materiell anspruchsvollen theoretischen Konzepten, die wir vom “politischen Prozess” haben, und den diesen Prozess tatsächlich bestimmenden Logiken. Parlamentarische Entscheidungen sind wesentlich die Folge strategischer Überlegungen in einem auf geradezu absurde Weise medial überformten Diskurs. Mit einem offenen, auf Rationalität und Austausch guter Argumente bedachten Verfahren hat das kaum etwas zu tun. Oder glaubt irgendjemand, dass sich ein Abgeordneter der CDU mal hinstellen und sagen würde, dass die Argumente der Grünen oder der Linken in überzeugt haben (oder umgekehrt)?
Diese Realität des politischen Diskurses lässt sich nicht ändern. Ich halte es angesichts dessen aber grundsätzlich für richtig, wenn kontroverse Entscheidungen ins Rechtssystem gespielt wenn. Auch dort gelten zwar ohne Frage keine substanziell überlegenen Handlungslogiken; aber so lange wir davon ausgehen, dass es in gewissen Grenzen doch so etwas wie materiell gute und weniger gute Entscheidungen gibt, sollte der Ball zwischen Recht und Politik doch zumindest eine Weile in Bewegung gehalten werden.
Sicher muss die Politik ihre Knie nicht gegenüber dem Recht beugen. Umgekehrt aber auch nicht.
Lieber Herr Thiele, herzlichen Dank für Ihren spannenden Beitrag! Das von Ihnen zutreffend beobachtete Misstrauen gegenüber parlamentarischen Entscheidungen scheint mir umso größer zu sein, je weiter diese in den ethischen Bereich hineinreichen. Ihre Ursache hat dies wohl in der allgemeinen gesellschaftlichen Verunsicherung darüber, was nun, nach der Selbstentmachtung der Kirche, richtig ist und was falsch. Plakativ ausgedrückt: Was man sich selbst nach den dramatischen gesellschaftlichen Veränderungen der letzten zwei Jahrzehnte kaum mehr zu beurteilen vermag (Ehe für alle geben, 219a …), traut man auch den Parlamentariern nicht zu. Auf der Suche nach einer rettenden Autorität blickt die Öffentlichkeit auf das BVerfG, das aus dem Grundgesetz, das allein die Werte vorzugeben scheint (vgl. die Wertediskussion im Zusammenhang der Integration), schon irgendwie die richtige Entscheidung herausdestillieren wird. Den Oppositionsparteien bleibt in diesem Szenario nichts anderes übrig als “eine Instanz weiterzugehen” – wollen sie nicht noch mehr Mitglieder verlieren und bei den nächsten Wahlen in Bedeutungslosigkeit versinken. Sie sind letztlich nur Marionetten im Spiel des demoskopischen Politbarometers. Problematisch ist es m.E. aber, wenn mit einer Anrufung des BVerfG nach einem Beschluss des Bundestags quasi standardmäßig gedroht wird. Ich würde also nicht soweit gehen, das Instrument der abstrakten Normenkontrolle in der Hand der Opposition als solches in Frage zu stellen. Dieser Weg sollte aber die absolute Ausnahme bleiben. Immerhin hat es das BVerfG in der Hand, durch Betonung des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums und eigene Beschränkung auf die Prüfung einer evidenten Sachwidrigkeit, derartigen Automatismen in vielen Politikfeldern entgegenzuwirken. Realistischer als eine Zurückhaltung der Oppositionsparteien zu erwarten ist es m.E. daher, auf das demokratische Verantwortungsbewusstsein des BVerfG zu hoffen. Herzliche Grüße, Anna Leisner-Egensperger
Lieber Alexander,
ein schöner, nachdenkenswerter Kommentar. Wir beide sind offenbar in der Frage der Steuerung politischer Prozesse durch ubiquitär wirkende Grundrechte fundamental anderer Ansicht. Rein politisch kann eine solche Entscheidung nie sein. Die Frage ist nur, ob das Vertrauen an die Richter weiter gehen soll als das an unsere Politiker. Und mit Dworkin, Alexy et. al. meine ich, dass unseren Richtern diese Aufgabe zukommt.
Zur Frage der Normenkontrolle in anderen Ländern gab es schon den Hinweis von Michael.
MhG
Peter.
@Anna Leisner-Egensperger
Liebe Frau Egensperger,
vielen Dank für Ihre Anmerkung. Ich sehe das im Ergebnis ja ähnlich wie sie. Ihre Beobachtung, dass es vor allem um ethisch umstrittene Bereiche geht ist interessant und würde eine nähere Untersuchung verdienen. Ähnliches hat sich indes aus meiner Sicht auch bei der Eurorettung gezeigt – auch hier wurde allzu schnell allzu rechtlich argumentiert, obwohl es im Kern um ökonomische und politische Fragen ging.
Auf das demokratische Verantwortungsbewusstsein des BVerfG zu hoffen ist daher riskant: Wenn man das BVerfG schon fragt, muss man auch mit der Antwort leben – und wer gefragt wird, ist allzu schnell geneigt, vielleicht etwas viel zu antworten. die bereits erreichte materielle Aufladung der Verfassung geht ja gewiss auf diesen Effekt zurück – auch hier würde ich wieder auf die Eurorettung verweisen. Noch lieber wäre es mir insofern, wenn das BVerfG nicht immer gefragt würde…
@Peter
Da können und müssen wir dann beim nächsten Treffen einmal ausführlich drüber sprechen. Vielleicht bin ich da durch meine Chef auch ein wenig einseitig geprägt…;-)
Interessanter Ansatz, den man im Hinterkopf behalten sollte.
Allerdings finde ich gerade den Streit um 219a StGB ein schlechtes Beispiel. Schließlich fußt die Gesetzgebung zum Spannungsfeld Recht der Frau – Recht des ungeborenen Lebens überwiegend auf 2 Urteilen aus Karlsruhe. Eine Änderung nochmals dem Gericht vorzulegen empfinde ich als sinnvoll.
@Isabell Schwiering
Die Frage bleibt aber: Sinnvoll wofür? Insofern ist dieser Wunsch vielleicht ja schon von einem allzu normativen Verständnis politischer Prozesse geprägt (das natürlich zulässig ist). Wem nützt es, wenn das BVerfG dem Kompromiss nun noch seinen Segen erteilt. Und wem nützt es, wenn es das unter materieller Aufladung der Verfassung dann nicht tut…
Ich bin nicht sicher, ob die Rechte marginalisierter Gruppen auf dem Altar der demokratischen Streitkultur geopfert werden sollten.
Klingt arg nach “Close your eyes and think of England”…
Ich möchte das, was @Isabell Schwiering geschrieben hat nochmal verstärken. Die Debatte um §219a und auch §218 wird auch deshalb genau so geführt, weil das Bundesverfassungsgericht die im Rahmen der Wiedervereinigung politisch ausgehandelten Kompromisse kassiert und dem klare (eigene) Wertvorstellungen entgegen gesetzt hat. Daher stehen hinter dem Konflikt historische Entscheidungen des BVerfG, die es als von Verfassungs wegen geboten erklären, Abtreibungen als Unrecht zu betrachten. Vielleicht war das
Angesichts des Wandels in der Zusammensetzung der Richter*innen wie auch gewandelten Moralvorstellungen in der Gesellschaft ist es vielleicht ganz gut, dem Gericht Gelegenheit zu geben, sich nochmal dazu zu äußern.
Die Verrechtlichung eigentlich politischer Debatten ist allgemein sicher ein sehr diskussionswürdiges Thema. Andererseits ist es auch eine politische Entscheidung, das genau so zu machen.
Bei Sicherheitsgesetzen ist es ja schon Brauch, erstmal alle Wünsche ins Gesetz zu schreiben und dann zu schauen, was in Karlsruhe davon übrig bleibt. Vielleicht muss man diese Entscheidung auch ein Stück weit respektieren.
Sehr geehrter Herr Thiele,
meines Erachtens verkennen Sie in Ihrem Beitrag zwei essentielle Dinge:
1. Zum einen sind Ihre Zweifel mit Blick auf die Funktion der abstrakten Normenkontrolle nicht gerechtfertigt.
2. Zum anderen klammern Sie die durch das Dritte Reich hervorgerufene Notwendigkeit eine oppositionellen Antragsberechtigung völlig aus.
Für mich weist Ihr Beitrag leider feuilletonistische Züge auf – eine gekonnte Verpackung eigener politischer Ansichten im Mantel eines juristischen Arguments.
Sehr geehrte Frau Mauer,
inwiefern das “Dritte Reich” hier nun eine Rolle spielen soll ist mir nicht klar, aber vielleicht könnten Sie noch näher erläutern, warum meine Zweifel ihrer Ansicht nach nicht gerechtfertigt sind. Und zudem: feuilletonistisch finde ich nun nicht zwingend problematisch, aber eines müssten Sie mir dann doch noch erklären: Welche “politische Ansicht” habe ich hier denn “gekonnt” verdeckt?
Lieber Herr Thiele,
Ihren Beitrag habe ich mit Befremden gelesen. Allein dass Sie eingangs von zwei „radikalen“ Seiten innerhalb der Großen Koalition sprechen, scheint mir völlig verfehlt. Sie setzen den Begriff zwar in Anführungszeichen, das macht es mE nicht besser. Es handelt sich lediglich um gegensätzliche Positionen der politische Debatte, die mglw. polarisieren. Inwiefern die eine oder andere Position „radikal“ – wenngleich in Anführungszeichen – sein soll, leuchtet mir nicht ein, und die Bezeichnung als solche gibt der politischen Debatte einen mE falschen Rahmen und erschwert i darüber hinaus eine sachliche und objektive juristische Auseinandersetzung.
Zudem setzen sie das Gebrauchmachen der aN in den Kontext der Nicht-Anerkennung einer politischen Niederlage und unterstellen damit, dass allein dies Motivation der aN sein. Die Klagebefugnis erfordert immer noch Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes, die vorliegend – wenngleich das Verfahren nicht wohl nicht erfolgsversprechend erscheint – nicht absolut auszuschließen ist. Somit spiegelt auch vorliegend das Gebrauchmachen der aN weniger ein „verfehlte[s] Verständnis parlamentarischer Prozesse“ wieder; vielmehr bleibt es im Falle verfassungsrechtlicher Zweifel ein legitimes Kontrollinstrument im verfassungspolitischen Diskurs. Eine politische Debatte endet grundsätzlich nicht mit dem Finden eines Kompromisses, sondern geht regelmäßig darüber hinaus, insbesondere in gesellschaftspolitisch sensiblen Bereichen – im Zweifel (über dessen Verfassungsmäßigkeit) eben unter Einbeziehung gerichtlicher Kontrolle. Daher halte ich es auch für grundsätzlich falsch, hier Parallelen zur political-question-doctrine zu ziehen. Diese ist grundsätzlich nicht einschlägig, sofern ein Gericht Anknüpfungspunkte hat, um zu erklären „what the law is“ (Marbury v Madison). Diese sind hier mit Blick auf etwaige Grundrechtsverstöße unstrittig gegeben.
Ich würde ja noch weitere Kritikpunkte ausführen, muss aber jetzt (!) in die Vorlesung ;) Ich möchte aber noch eines betonen: aN vor dem Bundesverfassungsgericht haben notwendigerweise immer auch eine politische Dimension, was zu diskutieren sein mag. Der derzeitigen Opposition allerdings ein „verfehlte[s] Verständnis der Funktion der (politischen) parlamentarischen Opposition“ zu unterstellen, halte ich wiederum für verfehlt, insbesondere wenn das Gebrauchmachen der aN schlicht ein legitimes Mittel darstellt. Das BVerfG wird schon wissen, wie es damit umgeht.
Es handelt sich in der Tat um zwei gegensätzliche Positionen, die in Bezug auf die Regelung des § 219a StGB allerdings nicht gegensätzlicher sein könnten: völlige Beibehaltung oder völlige Abschaffung. Mit dem Wort “radikal” war insofern keine inhaltliche Positionierung verknüpft,sondern lediglich gemeint, dass es um die beiden Extrempositionen geht, die hier vertreten wurden.
Zur abstrakten Normenkontrolle: Diese setzt ja gerade keine Klagebefugnis voraus, da sie als objektives Beanstandungsverfahren konzipiert ist. Und natürlich ist die Einlegung einer solchen Klage legitim. Mir ging es allein darum aufzuzeigen, welche Konsequenzen die Wahrnehmung dieses Klagerechts für den politischen Diskurs haben kann. Viel Spaß in der Vorlesung…
Es geht um Rechtsfolgen bei Schwangerschaftsabbrüchen, mithin ebenfalls um Rechtsfragen.
Dass solche allein politisch parlamentarisch entscheidbar sind, sollte sonst weniger verbreitet sein.
Dies scheint Gewaltenteilung aushöhlen zu können und damit kaum hinter Ansinnen von Rechtspopulisten zurückzustehen.
Schlicht abwegig
Den Beitrag Von Alexander Thiele halte ich für fragwürdig, teils unschlüssig:
1. Unschlüssig, weil durch das Normenkontrolloverfahren eine Zeit der Rechtsunsicherheit eher verringert wird; denn in diesem Verfahren wird meist schneller über die verfassungsrechtliche Bedenken gegen ein Gesetz entschieden und Rechstklarheit geschaffen als in den sonst zu erwartenden konkreten Normenkontrollverfahren oder Verfahren über Grundrechtsbeschwerden von dem Gesetz Betroffener.
2. Rechtsunsicherheit besteht doch eindeutig. Verfassungsrechtliche Bedenken wurden von mehreren kompetenten Experten bei den Anhörungen geäußert. Sie wurden bei dem durch das Parlament “gepeitschten” Koalitionsentwurf weder gewürdigt noch gar widerlegt.
3. In verfassungsrechtlichen Zweifelslagen ist es nicht anrüchig, wenn Pasrlamentarier von dem durch das GG ermögluichten Normenkontrollverfahren Gebrauch machen.
4. Wie wollen sich die Kritiker am Normenkontrollverfahren und Verfechter der Meinung, dieses Verfahren sei konkret aussichtslos, folgendem verfassungsrechtlichen Manko stellen? Die neugefasste Vorschrift des § 219a soll weiterhin unter Strafe stellen, dass eine Sachinformation auf einer ärztlichen Homepage im Anschluss an die erlaubte Ankündigung, zulässige Schwangerschaftzsabbrüche durchzuführen, gegeben wird, eine Information, auf die aber über einen Link auf eine offizielle Informationsplattform verwiesen werden darf: Sachinformation als Straftat? Jegliches Kriterium einer Straftat fehlt; das Verhältnismäßigkeitsgebot ist verletzt (Strafrecht als ultima ratio); es fehlt ein denkbarer Bezug zum Rechtsgüterschutz; Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit sind zu verneinen; werbende Information hätte man durch vorangehende Prüfung durch eine Ärztekammer verhindern können oder als Ordnungswidrigkeit ahnden können.