10 September 2020

Kooperation statt Kräftemessen

Der Konflikt zwischen Untersuchungsausschuss und OLG Frankfurt im Fall Walter Lübcke

Der Untersuchungsausschuss zur Tötung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke droht mit einer Klage gegen das Oberlandesgericht Frankfurt. Grund dafür ist, dass das Gericht und der Generalbundesanwalt sich weigern, die Akten zum Fall herauszugeben. In diesem Konflikt zwischen parlamentarischem Untersuchungsrecht und dem Recht des Angeklagten auf ein faires, rasches Verfahren, sollten beide Seiten auf ein Kräftemessen verzichten und stattdessen miteinander kooperieren.

Parlamentarische Kontrolle und gerichtliche Verfahren sind gleichrangig

Der Lübcke-Ausschuss wurde auf Initiative der Oppositionsfraktionen SPD, FDP und Linkspartei im Hessischen Landtag eingesetzt. Sie halten der Regierung vor, die Gefahr von Rechts unterschätzt zu haben und möchten nun die (politischen) Hintergründe und Verantwortlichkeiten für die Tat aufklären. Einer solchen Aufklärung eines Sachverhalts durch Untersuchungsausschüsse komme keine geringere Bedeutung zu als der Tatsachenermittlung in einem Prozess, urteilte das Bundesverfassungsgericht bereits im so genannten Flickurteil aus dem Jahre 1984. 2009 ergänzte das Gericht in seiner BND-Entscheidung, dass es die rechtliche Verantwortung sei, die vor den Gerichten geklärt werde, während die Parlamente politische Verantwortung einfordern. Beide Aufgaben sind daher als gleichrangig anzusehen. Diese Parallelität ist auch landesverfassungsrechtlich abgesichert, wie beispielsweise Entscheidungen des Sächsischen Verfassungsgerichtshofs aus dem Jahr 2007 und des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs aus 2014 zeigen.

Akten sind die „besseren Zeugen“

Untersuchungsausschüsse können auf alle Beweismittelarten zurückgreifen, die auch im strafprozessualen Verfahren notwendig sind. Dazu zählen neben dem Zeugen- und Sachverständigenbeweis auch der Urkundsbeweis. Letzterem dient die Vorlage von Akten. Die Aktenvorlagepflicht ergibt sich daher unmittelbar aus dem parlamentarischen Untersuchungsrecht. Soweit es allerdings um Akten aus den Ländern geht, die ein Untersuchungsausschuss des Bundestages herausverlangen möchte, sind Rechtsgrundlage die Grundsätze der speziellen Amtshilfe, die in Artikel 44 Abs. 3 GG ausdrücklich verfassungsrechtlich festgeschrieben sind. Die Untersuchungsausschüsse von Landesparlamenten können sich gegenüber Bundesbehörden und den Behörden anderer Länder auf die allgemeine Amtshilfe stützen, die Artikel 35 GG ebenfalls verfassungsrechtlich absichert.

Die Bedeutung der Akten für parlamentarische Untersuchungsausschüsse hat das Bundesverfassungsgericht selbst in der Flick-Entscheidung auf den Punkt gebracht. Die Aktenvorlage habe eine besondere Qualität, so die Richterinnen und Richter, denn ihrem Inhalt komme im Vergleich zu Zeugenaussagen ein höherer Beweiswert zu, weil das Gedächtnis eines Zeugen „aus mancherlei Gründen unergiebig werden kann“. Aus Sicht der Parlamentarierinnen und Parlamentarier kommt dem Aktenherausgabeanspruch noch aus einem anderen Grund eine besondere Bedeutung zu: In der Staatspraxis der Bundesrepublik sind die Regierungen im Bund und in den Ländern die „informierte Staatsgewalt“. Parlamentarierinnen und Parlamentarier müssen die Regierung „fragen“, wenn sie etwas wissen wollen. Insoweit wird von einem Fremdinformationsrecht des Parlaments gesprochen. Parlamentarische Untersuchungsausschüsse haben dagegen ein Selbstinformationsrecht, das heißt sie müssen sich nicht mit den Antworten der anderen Staatsgewalten, insbesondere der Regierung, zufriedengeben, sondern können sich durch einen Blick in die Akten selbst davon überzeugen, „was Sache ist“. So kann verhindert werden, dass amtliche Stellen den Parlamentariern etwa durch Auslassungen ein „geschöntes Bild“ vermitteln. Diese Gefahr besteht insbesondere, wenn der Untersuchungsausschuss ein mögliches Fehlverhalten oder Versäumnisse der Regierung untersuchen soll. Daher muss sich ein Untersuchungsausschuss auch nicht mit bloßen Aktenauskünften oder -auszügen zufriedengeben. Ebenso wenig muss nicht bereits bei der Aktenanforderung feststehen, dass diese beweisrelevantes Material enthalten. Es genügt, wenn die Möglichkeit dazu besteht.

Regierung muss sich notfalls auch selbst belasten

Die Aktenauswahl liegt zwar zunächst in der Hand der Regierung, aber sie darf nicht allein und abschließend entscheiden, was sie vorlegen möchte. Andernfalls könnte die Regierung als Partei des Untersuchungsverfahrens versucht sein, dem Untersuchungsausschuss belastende Schriftstücke vorzuenthalten. Die Regierung muss Akten an den Untersuchungsausschuss also auch dann herausgeben, wenn sie weiß, dass sie sich damit selbst belastet, weil Versäumnisse und Fehler deutlich werden. Auf den rechtsstaatlichen nemo tenetur-Grundsatz, nach dem niemand sich selbst belasten muss und der jedes Strafverfahren prägt, kann die Regierung sich gegenüber einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss nicht berufen. Nur wenn einzelne Personen sich mit wahrheitsgemäßen Auskünften selbst einer Straftat bezichtigen müssten, dürfen sie Auskünfte und Aussagen gegenüber dem Untersuchungsausschuss verweigern. Darüber hinaus können amtliche Stellen Akten grundsätzlich nur dann verweigern, wenn offensichtlich ist, dass die angeforderten Akten mit dem Untersuchungsauftrag in keinem Zusammenhang stehen.

Rechtshilfepflicht der Gerichte

Der Aktenvorlageanspruch – und hier liegt die Brisanz des Streits zwischen dem Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags und dem Oberlandesgericht Frankfurt – besteht grundsätzlich auch gegenüber den Gerichten. Denn auch diese sind Untersuchungsausschüssen gegenüber zur Rechtshilfe verpflichtet. Doch ganz so einfach, wie dies gegenüber der Regierung und den Behörden möglich ist, erweist sich die Sache hier nicht. Denn die Unabhängigkeit der Gerichte wird – wie das parlamentarische Kontrollrecht – im Grundgesetz und in allen Landesverfassungen garantiert. Damit wird der Grat zwischen der Arbeit eines Untersuchungsausschusses und der Arbeit der Gerichte sehr schmal.

Untersuchungsausschüsse dürfen sich nicht mit der Arbeitsweise eines Gerichts beschäftigen. Insbesondere ist die richterliche Unabhängigkeit tangiert, wenn auf ein konkretes Verfahren Einfluss genommen wird. Dagegen kann ein Untersuchungsausschuss durchaus Aufsichtsmaßnahmen des Justizministeriums unter die Lupe nehmen. Adressat des Aktenvorlageanspruchs ist in diesem Fall die Regierung. Dies gilt auch, soweit die Gerichtsverwaltung betroffen ist, für deren Funktionsfähigkeit der Justizminister die politische Verantwortung trägt.

Vermutet ein Untersuchungsausschuss, wie in Hessen, beweisrelevantes Material in gerichtlichen Prozessakten, das er für seine Untersuchungen benötigt, folgt die Verpflichtung der Gerichte, diese Akten vorzulegen entweder aus den entsprechenden Regelungen in der jeweiligen Landesverfassung oder aus dem Untersuchungsausschussgesetz. In Hessen sind die Gerichte nach § 15 Abs. 4 des Untersuchungsausschussgesetzes zur Rechtshilfe verpflichtet. Dazu gehört auch die Vorlage von Akten als „sächliche Beweismittel“. Allerdings müssen Gerichte die Akten nicht „blindlings“ herausgeben, sondern haben ein eigenes Prüfungsrecht hinsichtlich der Rechtmäßigkeit des Herausgabeverlangens.

Keine Verzögerungen von Gerichtsverfahren über Gebühr

Inhaltlich bezieht sich dieses Prüfungsrecht zunächst auf die Frage, ob die angeforderten Akten mit dem Untersuchungsauftrag in Zusammenhang stehen. Daran dürfte in Hessen wohl kein Zweifel bestehen. Darüber hinaus können die Gerichte prüfen, ob die Aktenvorlage die Effektivität des gerichtlichen Verfahrens beeinträchtigt. Dies gilt insbesondere, wenn es hierdurch zu Verfahrensverzögerungen kommen sollte. Denn im Interesse der Angeklagten gebietet das Rechtsstaatsprinzip, dass ein Strafverfahren zügig durchgeführt und entschieden wird. Ein Strafverfahren so lange auszusetzen, bis ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss seine Arbeit beendet hat oder angeforderte Akten zurückgibt, dürfte rechtsstaatlich nicht vertretbar sein.

Ferner ist im Interesse von Angeklagten auch der in Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention normierte Grundsatz des fairen Verfahrens einzubeziehen. Die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses darf nicht dazu führen, dass das zuständige Gericht gehindert wird, das Verfahren entsprechend den geltenden prozessrechtlichen Vorschriften durchzuführen. Insbesondere müssen den Angeklagten die ihnen zustehenden Rechte und Verteidigungsmöglichkeiten ungehindert gewährt sein. Auf diese Gesichtspunkte hat auch der Bayerische Verfassungsgerichtshof in seiner Entscheidung aus dem Jahre 2014 ausdrücklich hingewiesen.

Parallele Verfahren bergen schließlich die Gefahr, dass ein Untersuchungsausschuss gezielt auf den Ablauf eines Strafprozesses einwirkt und eigene Bewertungen vornimmt, welche die Strafbarkeit des Angeklagten betreffen. Das darf er nicht. Allerdings können Äußerungen einzelner Ausschussmitglieder zur Strafbarkeit bestimmter Personen als individuelle Meinung weder dem Untersuchungsausschuss noch dem Parlament zugerechnet werden.

Nicht nur den Gerichten, sondern auch der Arbeit eines Untersuchungsausschusses kommt eine wichtige verfassungsrechtliche Aufgabe zu. Dazu zählt die effektive Kontrolle der Regierung und der ihr nachgeordneten Stellen. Wegen seines Selbstinformations- und Beweiserhebungsrechts, einschließlich der strafrechtlich sanktionierten Wahrheitspflicht ihm gegenüber, wird der Untersuchungsausschuss auch als „schärfstes Schwert“ der parlamentarischen Kontrolle beschrieben. Daher gilt es, dem Verfassungsauftrag des Gerichts ebenso gerecht zu werden wie dem des Untersuchungsausschusses.

So könnte es beispielsweise ausreichen, wenn der Untersuchungsausschuss die Möglichkeit hat, die Akten zu sichten und Kopien anzufertigen oder Akten einzuscannen. Diesen Weg hat beispielsweise schon im Dezember 1995 das Oberlandesgericht Stuttgart vorgeschlagen. Ob das praktisch umsetzbar ist, dürfte natürlich vom Umfang der Akten abhängen. Ein Gericht darf jedoch nicht pauschal behaupten, die Akten wegen des laufenden Prozesses nicht herausgeben zu können. Vielmehr muss es dies plausibel darlegen und auch belegen.

Staatswohl ist auch dem Parlament anvertraut

Der Generalbundesanwalt argumentiert, die Arbeit des Untersuchungsausschusses könnte laufende Ermittlungen zu rechtsextremen Strukturen gefährden. Das rechtfertigt allerdings nicht per se die Verweigerung der Aktenvorlage. Im Flick-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht unmissverständlich klargemacht, dass das Staatswohl in einer parlamentarischen Demokratie nicht allein der Exekutive, sondern auch dem Parlament anvertraut ist. Berufen sich staatliche Stellen gegenüber dem Parlament auf das Wohl des Staates, so könne die Konsequenz nicht eine Verweigerung der Aktenvorlage sein. Vielmehr sei das Parlament in einem solchen Fall verpflichtet, die notwendigen Geheimschutzvorkehrungen zu treffen. Das gleiche gelte für Untersuchungsausschüsse, weshalb die Akten vorzulegen seien, wenn der Untersuchungsausschuss entsprechende Sicherungsvorkehrungen treffe.

Sofern der Generalbundesanwalt meint, seine Ermittlungen würden durch die parlamentarische Untersuchung behindert, hat auch er dies substantiiert dazulegen und zu belegen. Der Untersuchungsausschuss, so das Bundesverfassungsgericht in der BND-Entscheidung aus dem Jahre 2009, muss die Weigerungsgründe nachvollziehen können.

Eine Lösung im Sinne der praktischen Konkordanz

Abstrakt überwiegt in diesem Konflikt weder das parlamentarische Untersuchungsrecht noch das gerichtliche Verfahren. Die verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgüter müssen deshalb, ganz im Sinne der „praktischen Konkordanz“, möglichst schonend in Ausgleich miteinander gebracht werden. Der Untersuchungsausschuss zur Tötung von Walter Lübcke und das Oberlandesgericht Frankfurt werden ihre Auseinandersetzung letztlich nur mit gutem Willen zufriedenstellend lösen können. Dafür ist es notwendig, dass beide Seiten sich kompromissbereit zeigen und auf die berechtigten Interessen des Konfliktpartners Rücksicht nehmen.

Der Beitrag gibt die persönliche Auffassung des Autors wieder.


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