Kritik ja, Verfassungskrise nein
Das staatliche Pandemiemanagement im Lichte des Verfassungsrechts
I.
Seit Beginn der Pandemie wird darum gestritten, was aus den demokratischen, rechts-, bundes- und sozialstaatlichen Gewährleistungen des Grundgesetzes für das Pandemiemanagement folgt. Da liegt es nicht fern, neben den Krisen von Gesundheits-, Wirtschafts- und anderen gesellschaftlichen Systemen auch eine Verfassungskrise zu diagnostizieren. Wird der Alltags-Lockdown von einer Art verfassungsrechtlichem Lockdown begleitet? Die entsprechenden Diagnosen, Warnungen und Mahnungen begleiten den öffentlichen Diskurs seit einem Jahr– gerade auch von Seiten der Verfassungsrechts- und Politikwissenschaft. Von einer „Verfassungskrise, wie die Bundesrepublik sie noch nicht erlebt hat“, war die Rede. Das staatliche Pandemiemanagement führe mit seinen nie dagewesenen Freiheitseinschränkungen in einen „quasi-grundrechtsfreien Zustand“, die Grundrechte würden suspendiert, „außer Kraft gesetzt“. Neben der „Erosion des Rechtsstaats“ wurde die „Zäsur der staatsrechtlichen Moderne“ auch in den „exekutiven Selbstermächtigungen im Großen und Kleinen“ und einem Aushebeln der Gewaltenteilung in horizontaler und vertikaler Hinsicht gesehen; durch Bezugnahmen auf die „Hindenburg-Klausel“ oder die „Notverordnungen“ wurden Parallelen zum Niedergang des parlamentarischen Verfassungssystems von Weimar hergestellt. Vor nicht allzu langer Zeit bezeichneten Verfassungsrechtler die aktuelle Verlängerung des Lockdowns als „Verfassungsbruch“ und „Aufkündigung der Moderne“, die in der eigenen Wissenschaftlergemeinde wahrgenommene „Kritiklosigkeit“ angesichts der staatlichen Pandemiebekämpfungsmaßnahmen gar als „Krise des Verfassungsdenkens“.
Es steht außer Zweifel, dass diejenigen, die mit ihren öffentlichen Wortmeldungen „Engagement im juristischen Ernstfall“ beweisen, in Sorge um die freiheitlich-demokratische Grundordnung handeln. Dennoch kann der Analyse, die pandemiebedingte Krise habe eine Verfassungskrise ausgelöst, nicht zugestimmt werden. Ganz im Gegenteil hat sich das Grundgesetz in seinen Inhalten wie in seinen Institutionen als erfreulich robust und resilient erwiesen.
Doch kann eine Verfassungskrise auch herbeigeschrieben werden. Dies gilt besonders bei Stellungnahmen renommierter Verfassungsexperten, die sich an eine breite, überwiegend nicht juristisch vorgebildete Öffentlichkeit richten. Das Expertenwissen der Verfassungsrechts- und Politikwissenschaftler verpflichtet diese in gesteigerter Weise zum Maßhalten in der Ausdrucksweise, gerade angesichts der derzeit besonders ausgeprägten Dünnhäutigkeit und Kurzatmigkeit des öffentlichen Pandemie-Diskurses. Die Wissenschaft sollte zwar keineswegs auf sachliche Kritik verzichten – selbst nicht um den Preis, von der „falschen Seite“ dafür Beifall zu erhalten. Aber sie sollte in dieser Debatte, die allzu leicht in der Gefahr populistischer Vereinnahmung steht, ihre Worte sorgsam und umsichtig wählen.
II.
Besonders in der Kritik stand und steht die bereits im März 2020 erfolgte und inzwischen abgeschwächte Neufassung des Infektionsschutzgesetzes. Sie weist dem Bundesgesundheitsminister sogar die Befugnis zu, mit von ihm erlassenen Rechtsverordnungen von bestimmten Parlamentsgesetzen abzuweichen. Man kann mit Fug und Recht die Frage aufwerfen, ob der Bundesgesetzgeber, gemessen an Art. 80 GG, derlei weitreichende Ermächtigungen an die Exekutive vorsehen durfte. Aber wer in diesem Kontext an die Notverordnungsermächtigung von Artikel 48 Abs. 2 der Weimarer Reichsverfassung erinnert, muss sich den Vorwurf mangelnder Seriosität gefallen lassen. Denn keines der Charakteristika des berüchtigten Weimarer Diktaturartikels – Freistellung vom Erfordernis gesetzlicher Ermächtigung, Befugnis zum Einsatz der „bewaffneten Macht“ sowie zur Suspendierung von Grundrechten – findet sich im Infektionsschutzgesetz wieder. Dieses zielt – im Gegensatz zu den Maßnahmen des Reichspräsidenten – weder darauf, noch hat es die Rechtsmacht, die regulären verfassungsrechtlichen Bindungen abzustreifen oder doch wenigstens abzusenken. Eine sachliche verfassungsrechtliche Kritik wird des Weiteren nicht daran vorbeigehen können, dass die Befugnisse des Bundesgesundheitsministers nur gelten, wenn und solange der Bundestag den Gesundheitsnotstand feststellt, also die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“. Das Parlament hat es damit jederzeit in der Hand, die Befugnisse des Ministers entfallen zu lassen. Nach der neuesten Novelle muss das Parlament über das Fortbestehen des Gesundheitsnotstands zumindest alle drei Monate abstimmen. Und ändern kann es das Infektionsschutzgesetz ohnehin stets, was es mit den jüngsten Reformen im November 2020 und März 2021 unter Beweis gestellt hat.
Doch auch die Änderung des Gesetzes, die den Kreis der zulässigen Schutzmaßnahmen wie Abstandsgebot, Maskenpflicht, Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen, Betriebsschließungen usf. nach immer lauter werdender Kritik im November 2020 endlich gesetzlich verankert hat, wurde als Zeichen parlamentarischer Selbstverzwergung gedeutet. Der Bundestag sei in der „Stunde der Exekutive“ zu einer „rubber-stamping institution“ verkommen. Auch hier gilt: Es lässt sich mit guten Gründen darüber streiten, ob diese Änderung in all ihren Regelungsgehalten den vom Bundesverfassungsgericht fein ausziselierten verfassungsrechtlichen Anforderungen Genüge tut. Doch es ist nicht nur eine unnötige polemische Zuspitzung, sondern nachgerade abwegig, diese – dazu noch offene – verfassungsrechtliche Detailfrage zu einem systemischen, die parlamentarische Demokratie des Grundgesetzes unterminierenden Angriff zu stilisieren.
Dazu taugt noch nicht einmal die Frage, ob die Impfpriorisierung nicht durch eine Entscheidung des Bundesgesetzgebers statt durch eine bloße Rechtsverordnung hätte getroffen werden müssen. Zwar erschließt sich nicht, warum der Bundesgesundheitsminister mit den Coronavirus-Impfverordnungen die Grenzen seiner Befugnisse so strapaziert. Gleichwohl kann hier schon deshalb nicht von einem „demokratischen Dammbruch“ oder Ähnlichem die Rede sein, weil der Bundesgesetzgeber unbestrittenermaßen jederzeit die Priorisierungsfrage an sich ziehen und gesetzlich regeln kann – in inhaltlicher Übereinstimmung mit der Coronavirus-Impfverordnung oder eben auch in Abweichung von ihr. Das sollte er allerdings auch tun – nicht zuletzt, um die verfassungsrechtliche Grauzone zu verlassen.
III.
Wurde aus Anlass des ersten Lockdowns noch verbreitet von einer Grundrechtssuspension geredet, ist der Kreis derer, die nach wie vor von Außerkraftsetzung der Grundrechte oder Vergleichbarem sprechen, mittlerweile deutlich kleiner. Diese Tendenz ist sehr zu begrüßen, hat doch das Gerede von der Grundrechtssuspension keinerlei Basis im geltenden Verfassungsrecht: Erstens kennt das Grundgesetz – anders Art. 48 Abs. 2 der Weimarer Reichsverfassung und just in Abkehr davon – keine Grundrechtssuspension. Und zweitens verdeckt die Bezugnahme auf eine angebliche Grundrechtssuspension, dass die Grundrechte des Grundgesetzes – jenseits der verfassungstextlich vorgesehenen Gesetzesvorbehalte – keinem Ausnahme- oder Notfallvorbehalt unterliegen. Es gehört zum Credo des Grundgesetzes, dass der Staat auch in der „Krise“ den „normalen“ grundrechtlichen Anforderungen an sein Tun vollauf Genüge leisten muss. Die „Krise“, der „Ausnahmefall“ oder die „Notlage“ sind keine grundrechtsrelevanten Verfassungsbegriffe.
Doch wie steht es mit dem in der Sache wichtigsten Bollwerk gegen staatliche Grundrechtseinschränkungen, dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz? Fällt dieser denn nicht, wie so mancher Beobachter meint, gerade in der Krise pandemischen Ausmaßes aus? Paralysiert nicht die Pandemie den Wirkmechanismus des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und höhlt damit den Grundrechtsschutz prinzipiell aus? Statt der Regel „je gravierender die Einschränkungen, desto eher ergibt sich das Verdikt der Unverhältnismäßigkeit“ scheint in der Corona-Pandemie das Umgekehrte zu gelten: „je härter der Lockdown, desto unwahrscheinlicher ein Unverhältnismäßigkeitsverdikt“. Doch das Narrativ von dem in der allgemeinen Krise suspendierten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beruht ganz wesentlich darauf, dass darunter lediglich der Vier-Schritt – legitimer Zweck, Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit – verstanden wird. Damit aber wird die juristisch zentrale Frage ausgeblendet, welcher Akteur die letztverbindliche Feststellung darüber zu treffen hat, ob die Verhältnismäßigkeitsvoraussetzungen in concreto erfüllt sind oder nicht. Diese Zuständigkeitsfrage spielt just dann eine herausragende Rolle, wenn – wie in der Corona-Pandemie – die Situation dadurch gekennzeichnet ist, dass die Tatsachenlage ungewiss (Stichwort: diffuses Infektionsgeschehen) oder aber die Bewertungsfrage infolge ihrer Komplexität (Stichwort: Vielzahl konkurrierender Grundrechte) offen ist. Wenn und soweit den kontrollierenden Gerichten keine verlässlicheren Erkenntnis- und Bewertungsquellen als den beiden anderen Gewalten offenstehen, können exekutive oder legislative Bewertungsentscheidungen, zumal in Eilverfahren, nur einer Plausibilitätsprüfung unterzogen werden. Diese epistemische Nicht-Überlegenheit der Judikative führt indes gerade nicht dazu, dass Exekutive und Legislative bei der Wahl der Bekämpfungs- und Eindämmungsstrategie die Verhältnismäßigkeitsanforderungen nicht zu erfüllen hätten. Eine derartige Freistellung – sozusagen ein pandemiebedingtes Sondergrundrechtsregime – sieht das Grundgesetz schlicht und ergreifend nicht vor.
IV.
Deutschland ist nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 schon einmal erfolgreich den Weg gegangen, einer Bedrohung des Gemeinwesens nicht mit der Ausrufung eines verfassungssuspendierenden Ausnahmezustandes à la Carl Schmitt oder dem Mittel eines Krisensonderverfassungsrechts zu begegnen. Vielmehr wurde die Gefahrenabwehr ohne Absenkung der regulären verfassungsrechtlichen Sicherungen im Wesentlichen im Wege der „normalen“ Gesetzgebung betrieben. Und nicht nur das: Kaum eines der Sicherheitsgesetze hat das Normenkontrollverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht gänzlich unbeschadet überstanden. Dass der Gesetzgeber den Karlsruher Erwartungen wiederholt nicht vollauf entsprochen hat, hat jedoch keine Verfassungskrise ausgelöst. Der Streit um die Verfassungsmäßigkeit staatlicher Maßnahmen ist in einem offenen und pluralen Gemeinwesen für sich genommen eben kein Symptom einer Verfassungskrise. Hält sich der Streit in den vorgezeichneten Bahnen des Rechts, ist er genau umgekehrt ein Zeichen für das Funktionieren, ja die Vitalität des Verfassungsstaates. Darin erweist sich der freiheitliche Verfassungsstaat als ein ausgeklügeltes Problemverarbeitungssystem der checks and balances, in welchem offen, fair und fruchtbar über Sinnhaftigkeit und Rechtmäßigkeit staatlichen Handelns gestritten werden kann.
Ein alles in allem überzeugendes Beispiel verfassungsstaatlicher Resilienz hat in der Corona-Pandemie die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte geliefert. Natürlich gab es Judikate, die berechtigte Kritik auf sich gezogen haben. Doch aufs Ganze gesehen haben die Verwaltungsgerichte ihren Kontrollauftrag mit Augenmaß, Professionalität, Unaufgeregtheit und insbesondere ohne Rekurs auf eine kriseninduzierte Absenkung verfassungsrechtlicher Standards wahrgenommen. Es wäre wünschenswert, wenn die Verfassungsrechts- und Politikwissenschaft gerade angesichts der Erosion gesamtgesellschaftlich geteilter Gewissheiten bei aller unvoreingenommenen Kritik Zuversicht ausströmte – nämlich die Zuversicht, dass die Corona-Krise keine Verfassungskrise ausgelöst hat, sondern dass das verfassungsrechtliche Immunsystem (jedenfalls derzeit noch) hinreicht, einer Infizierung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung entgegenzuwirken.
Lieber Professor Jestaedt, liebe Professorin Kaiser,
herzlichen Dank für diesen besonnenen Beitrag zur Sache!
Was die Verhältnismäßigkeitsprüfung angeht, so kann ich Ihren Punkt nur unterstreichen: Es geht v.a. darum, welcher Akteur letztverbindlich feststellt, ob die Verhältnismäßigkeitsvoraussetzungen erfüllt sind. Die Weichen werden dabei m.E. bereits auf der ersten Stufe, also bei der Festlegung des legitimen Zwecks, gestellt: Zielt man auf ein Abflachen der Kurve, um die Kapazität des Gesundheitssystems aufrechtzuerhalten? Will man stattdessen durch “Laissez faire” eine natürliche Herdenimmunität erreichen, uneingedenk der tragischen Todeszahlen? Oder strebt man, konträt zum letzteren Ansatz, nach “Zero Covid”, also nach einer völligen Eliminierung jeglicher Neuinfektionen auf dem jeweiligen Territorium?
Diese Frage kann im Endeffekt nur die Politik beantworten. Sie ist es uns Bürgern aber auch schuldig, dass sie hierzu klare Aussagen trifft, wie z.B. in Australien nach breiten öffentlichen und wissenschaftlichen Beratungen geschehen. Je nach Zielsetzung erscheinen nämlich ganz andere (im Fall der natürlichen Herdenimmunität versus “Zero Covid” sogar diametral entgegengesetzte) Maßnahmen geeignet sowie erforderlich.
Herzliche Grüße,
Philipp Renninger
Der Betonung der Prärogative von Legislative und Exekutive auch in Fragen der Verhältnismäßigkeit kann ich mich nur anschließen.
Darüber hinaus: Die Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme, die in normalen Zeiten an in der Gegenwart liegende Tatsachen anknüpfen kann, muss (oder: müsste) heute ganz überwiegend anhand einer mehrere Wochen oder gar Monate in die Zukunft gehenden Prognose bestimmt werden. Würde man die Erforderlichkeit einer Maßnahme immer nur an bereits registrierten Infektionszahlen (also 10-14 Tage in der Vergangenheit liegenden Ansteckungen) messen, könnte man das Virus nie eindämmen.
Hinzu kommt aber auch, dass Maßnahmen, die aufgrund zu zurückhaltender Verhältnismäßigkeitserwägungen zu milde ausfallen, geeignet sind, kurze Zeit später viel einschneidendere und/oder länger anhaltende Grundrechtseingriffe nötig zu machen. Das heißt: Eine Maßnahme kann im Ergebnis weniger verhältnismäßig sein, gerade weil sie nicht genug Infektionen verhindert. Ich finde nicht, dass die deutsche Öffentlichkeit diese Dynamik ausreichend erkannt hat. Ein flächendeckend „harter Lockdown“ wäre im Oktober 2020 zumindest in der Politik wohl einhellig (m. E. fälschlicherweise) als unverhältnismäßig abgelehnt worden (ggf. anders als in der Epidemiologie). Die Kehrseite eines die Infektionszahlen nicht deutlich drückenden „Lockdown light“ ist allerdings, dass er nicht zum Beispiel vier Wochen, sondern nun fast ein halbes Jahr andauert – und zwar weil das Infektionsgeschehen nie wieder ein Niveau erreicht hat, auf dem es beherrschbar ist.
Das Herbeireden einer „Verfassungskrise“ ist das Ergebnis dessen, dass die neue Situation und unter anderem die eben beschriebene Dynamik unsere bisherigen Denkmuster überfordern. Unstrittig befinden wir uns in einer „Gesundheitskrise“. Business as usual funktioniert nicht und das macht eine Krise ja aus. Die Verfassung selbst ist aber breit genug aufgestellt, um dieses Neue in sich zu beherbergen.