Le gouvernement de soi et des autres: Zu Auftrittsverboten für türkische Regierungsmitglieder
Die hochproblematische Verfassungsreform in der Türkei führt innerhalb der Europäischen Union zu ungewöhnlichen Allianzen: In seltener Einmütigkeit wird länderübergreifend von ganz rechts bis weit ins linke politische Spektrum hinein ein Auftrittsverbot für türkische Politiker gefordert. Das gefühlt häufigste Argument bemüht dabei die Souveränität: Man möchte die Kampagne der türkischen Regierung für ihre die Gewaltenteilung gefährdende Verfassungsreform nicht auch noch im eigenen Land haben.
Das Bundesverfassungsgericht scheint mit einer am Freitag veröffentlichten Kammerentscheidung in dieselbe Kerbe zu schlagen. Es betont darin, dass die Zulassung von Wahlkampfauftritten ausländischer Regierungsmitglieder nach Art. 32 Abs. 1 Grundgesetz (GG) eine Frage des außenpolitischen Ermessens der Bundesregierung sei, die betroffenen Regierungsmitglieder sich in ihrer Eigenschaft als Staatsorgane nicht auf Grundrechte berufen könnten.
In einer pluralistischen Gesellschaft weckt solche Einmütigkeit Zweifel, zumal wenn sie sich gegen einen scheinbar Außenstehenden richtet und damit interne Querelen – Brexit, Griechenland, Populismus – für einen Moment der gemeinsamen Empörung vergessen hilft. Bei näherem Hinschauen verfestigen sich die Zweifel – und zwar in juristischer wie politischer Hinsicht.
Nun entspricht der Hinweis auf das außenpolitische Ermessen der Bundesregierung der Rechtsprechung und herrschenden Lehre. Doch warum äußert sich die Kammer überhaupt dazu? Mit der Beschwerde versuchte ein Bürger, Auftritte türkischer Politiker zu verhindern. Dass es dem Beschwerdeführer, einem an der Demonstration unbeteiligten Dritten, hierfür an der erforderlichen Beschwerdebefugnis fehlt, hätte man wohl auch ohne Hinweis auf das außenpolitische Ermessen feststellen können. Es mag zwar eindeutigere Fälle eines obiter dictum geben. Gleichwohl fallen die Ausführungen vor allem deshalb ins Auge, weil niemand geringeres als der Vizepräsident des Gerichts (und Vorsitzende des nicht befassten Senats) sich am selben Tag in gleicher Richtung in der FAZ geäußert hat. Das ist sein gutes Recht, doch bleibt der Eindruck, auf diesen Hinweis sei im Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang einer aktuellen politischen Debatte besonderer Wert gelegt worden.
Wovon man sprechen muss, darüber kann man nicht schweigen
Im Gegenzug schweigt die Kammer umso lauter zu anderen juristischen Implikationen der Politikerauftritte: Das sind vor allem die Grundrechte derjenigen, die Erdogan und seine Regierungsmannschaft einladen, ob sie nun Doppelstaatler sind oder nicht. Ihre Versammlungsfreiheit umfasst auch das Recht, ihnen gefällige Redner einzuladen. Das hat bereits das OVG Münster letztes Jahr in der Entscheidung zu Erdoğans Hologramm-Auftritt festgehalten. Und zugleich hinter nebulösen Formulierungen versteckt, ob der Hologramm-Auftritts nun mangels physischer Präsenz Erdoğans oder wegen seiner Eigenschaft als Staatsoberhaupt oder aus beiden Gründen vom Schutzbereich des Art. 8 GG nicht umfasst sei. Eine Kammer des ersten Karlsruher Senats zog es damals vor, den Fall durch einen knappen Sechszeiler zu entscheiden, ohne sich zu dieser Frage zu äußern. Hier wäre Klärung willkommen gewesen. Denn Erdoğan mag sich als Staatspräsident zwar nicht auf Grundrechte berufen können. Aber läuft dadurch auch das Versammlungsrecht derjenigen leer, die ihn einladen, so dass nicht einmal sein Schutzbereich eröffnet ist? Wohl kaum. Art. 32 GG dürfte vielmehr einen Rechtfertigungsgrund für Einschränkungen des Versammlungsrechts liefern. Dann stellt sich die Frage, wo die Grenze zu ziehen ist; auch ob Art. 32 GG als Grundlage des außenpolitischen Ermessens ausreicht oder eine gesetzliche Grundlage erforderlich ist, wie Niels Petersen auf LTO erwogen hat. Und manche meinen gar, die Verteidigung der türkischen Demokratie erfordere Einschränkungen beim Versammlungsrecht.
Die zwei Körper des Amtsträgers
Auch bleibt die Frage ungeklärt, ob es nicht doch Privatbesuche ausländischer Regierungsmitglieder gibt. Die Kammer scheint dies zumindest offen zu lassen, indem sie mehrfach herausstreicht, ausländische Regierungsmitglieder könnten sich „in amtlicher Eigenschaft“ nicht auf Grundrechte berufen. Ist aber ein Auftritt auf einer politischen Veranstaltung immer ein amtlicher Auftritt? Fraglos hängt er mit dem Amt in gewisser Weise zusammen. Doch treffen wir nicht für unsere eigenen Politiker hier feine Unterscheidungen? So ist die Bundeskanzlerin in ihrer Eigenschaft als CDU-Vorsitzende Trägerin von Grundrechten, die der Bundeskanzlerin als solcher gerade nicht zustehen. Sollte man diese Unterscheidung ausländischen Amtsträgern verweigern? Im Jahr 2009 wollte der damalige ungarische Präsident zur Enthüllung einer Statue des ungarischen Nationalheiligen St. Stephan in die Slowakei reisen, was von Letzterer als unfreundlicher Akt angesehen und untersagt wurde. Der von Ungarn angerufene Europäische Gerichtshof sah darin kein Problem mit der Personenfreizügigkeit. Hier jedoch geht es um Grundrechte, nicht um die Personenfreizügigkeit. Und die Einweihung einer Statue lässt sich kaum der privaten politischen Person eines Amtsträgers zuordnen – zumindest nicht so eindeutig wie der Auftritt auf einer Parteiveranstaltung. Das vom Europäischen Gerichtshof zur Betonung der besonderen Stellung von Staatsoberhäuptern bemühte Völkerrecht erkennt zwar auch Regierungsmitgliedern weitreichende Immunität zu. Doch Immunitäten und Grundrechtsfähigkeit schließen sich nicht unbedingt gegenseitig aus. Das zeigt bereits der Blick auf die parlamentarische Immunität. Sollte man ausländischen Regierungsmitgliedern Besuche in privater Eigenschaft zubilligen, könnten sie freilich im rechtlich zulässigen Rahmen an der Einreise gehindert werden.
Dieser kurze Überblick zeigt bereits, dass die Kammer die juristischen Implikationen von Wahlkampfauftritten ausländischer Staatsangehöriger keineswegs ausschöpft. Vielmehr begnügt sie sich mit einer so knappen Schilderung, dass ein in der Öffentlichkeit ein einseitiges Bild entstehen muss.
Mit Menschen- und Engelszungen
Zu den rechtlichen gesellen sich politische Bedenken. Ich mag mich dem Enthusiasmus derer nicht anschließen, die die politische Klugheit von Auftrittsverboten türkischer Politiker für evident halten und nur nach Möglichkeiten ihrer Umsetzung fahnden. Europäische Länder haben viele Jahrzehnte lang Migranten ins Land gelassen und davon enorm profitiert. Die doppelte Staatsangehörigkeit ist ein bewusster Bestandteil deutscher Politik. Und nun wundert man sich hier und anderswo in der Union, dass diese Menschen politische Beziehungen zu einem anderen Staat unterhalten. Schlagworte wie Integration durch Recht, Verfassungsverbund, oder gar der Grundrechtsschutz im Mehrebenensystem sind prominent abwesend in der gegenwärtigen Debatte – mithin die Speerspitze derjenigen Prinzipien, mit denen man eben noch der Türkei zu Recht Vorschriften und Vorwürfe gemacht hat. Reflexhaft schließt man die Reihen gegen Erdoğan und vergisst, dass man damit – erstens – nicht nur dafür sorgt, dass sich die türkischen Reihen im Gegenzug hinter Erdoğan schließen, wie er es sich nicht schöner hätte wünschen können, sondern dass dann – zweitens – unser westlicher Prinzipienkanon in den Ohren vieler Türken und Deutschtürken, darunter selbst Opfer von Erdogan, wie ein tönend Erz klingt. Damit verliert Europa ein weiteres Mal an moralischer Autorität.
Der Umgang mit Autokraten verlangt Selbstbeherrschung – le gouvernement de soi – mithin dasjenige, woran es den Autokraten nahezu invariant fehlt. Ein reifes politisches System muss dazu aber in der Lage sein. Gleichzeitig darf es sich erlauben, Autokraten laut und deutlich zu widersprechen. Wenn diese Wahlkampf im Ausland machen, können sie sich schlechterdings nicht mehr auf Souveränität berufen, denn sie haben sich dadurch selbst dieses Arguments beraubt. Durch das blinde Insistieren auf ihrer Souveränität berauben sich die betroffenen Staaten leider gerade dieser Möglichkeit.
“Propaganda is not allowed Overseas and in foreign representatives.” says the Turkish Electoral law (art. 94/A in fine, inserted in 2008 when Erdoğan was already in power – English translation on the site of the turkish central electoral commission itself: http://www.ysk.gov.tr/ysk/content/conn/YSKUCM/path/Contribution%20Folders/Ingilizce/298-en.pdf )
Für die Nervosität mit denen nun auch in den einst vorzeige-liberalen Niederlanden gegen das neoislamistische Regime von Erdogan vorgegangen wird, gibt es einen gut verschwiegenen Grund:
Die Begeisterung für derlei Autokraten-Auftritte in den einschlägigen Migrantenpopulationen geben den werdenden Minderheitsgesellschaften einen allzu detaillierten Ausblick darauf, wie viel Toleranz, Pluralität und Demokratie die zukünftigen Mehrheitsgesellschaften übrig lassen werden.
Vielen Bürgern fehlt vor diesem Hintergrund zwischenzeitlich die notwendige Phantasie um sich immer noch als enormer Profiteur der anhaltenden Migration feiern zu lassen.
Ich kann dem wenig abgewinnen.
Wenn ich das richtig gelesen habe, ergibt sich Ihrer Ansicht nach eine Schutzpflicht aus Art. 8 GG Dritte (hier türkische Regierungsmitglieder) einen Anspruch auf Einreise zu gewährleisten.
Das geht aus meiner Sicht zu weit. Einige Gedanken dazu:
1. Richtig ist, dass eine Versammlung grds. nicht im Vorfeld, beispielsweise durch strenge Kontrollen, behindert werden darf.Auch dieses Recht können nicht Dritte geltend machen, sondern jeweils nur der Grundrechtsträger. Zudem geht es hier um die Abwehr gegen die Verhinderung einer Versammlung; im obigen Fall geht es zusätzlich um eine staatliche Leistung (Einreisebewilligung).
2. Das würde eine Art Konzentrationswirkung von Art. 8 GG dahingend bedeuten, dass sämtliche Einreisebestimmungen von der Versammlungsfreiheit überlagert sind. Könnte dann auch Demonstrationsteilnehmer einer Demonstration gegen die Regierungspraktiken von Land XY die Einreise Betroffener beanspruchen?
3. Auch das von Ihnen zitierte OVG Münster, sieht in Art. 8 GG in erster Linie ein Abwehrrecht:
“Allerdings findet der Schutzbereich dieses Grundrechts seine inhaltliche Grenze dort, wo es mit den oben angesprochenen konstituierenden Merkmalen des Art. 8 Abs. 1 GG in keinem Zusammenhang mehr steht. Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit ist – wie alle Grundrechte – in erster Linie als Abwehrrecht des Bürgers gegen den Staat konzipiert.” (Rn. 15).
Sehr geehrter Herr Bauer,
vielen Dank für Ihren Kommentar. In meinem Text ist allerdings an keiner Stelle die Rede von einem Anspruch auf Einreise oder einer “Schutzpflicht” – was auch immer Sie darunter verstehen. Stattdessen schreibe ich, dass der Verweis des BVerfG allein auf das außenpolitische Ermessen der Bundesregierung die rechtliche Lage verkürzt darstellt. Vielmehr sind die Grundrechte der Einladenden betroffen. Dies ist m.E. bei der Ausübung des Ermessens seitens der Bundesregierung zu berücksichtigen, etwa im Rahmen einer Abwägung. Das hat das BVerfG nicht ausgeführt.
Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob auch ausländische Regierungsmitglieder Grundrechte als Privatpersonen geltend machen können und ob politische Auftritte dazu zählen. Auch diesen Aspekt lässt das BVerfG unberücksichtigt. Jedoch habe ich ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sich daraus kein Anspruch auf Einreise ergibt.
Das war ein Nichtannahmebeschluss. Das ist prozessual eine Nicht-Entscheidung. Die Begründung ist überflüssig, hat keine Bindungswirkung und hätte entfallen können. Also keine Panik…
Auch wenn da nicht viel in Gesetzeskraft erwächst, ist d Begründung einer richterlichen Entscheidung schon Salz in der richterlichen Gedanken-Suppe. Die Begründung zeigt ja, wie das Gericht zu seinem Ergebnis gelangst ist, was seine Prissen und Schlußfolgerungen sind. Kurz u umgangssprachlich: wie es tickt. Von daher kann ich verstehen, dass man sich gerade auch oder vielmegr gerade solch politischer Entscheidungsgründe sehr genau ansieht.
@Bernd – und genau deshalb ist der Beschluss besonders interessant. Darüber hinaus werden Sie mir zustimmen, dass das BVerfG seine Rspr. de facto auch durch sogenannte “Beerdigungen erster Klasse” wie im vorliegenden Fall festigt und fortschreibt. Eine “Bindungswirkung” von Begründungen über den Fall hinaus im Sinne eines “stare decisis” gibt es im deutschen Recht ohnehin nicht.
Lieber Herr Goldmann, da müssen Sie leider noch etwas Prozessrecht lernen. Im deutschen Verfassungsprozessrecht wird deutlich unterschieden zwischen stattgebenden Kammerneschlüssen und (wie im vorliegenden Fall) Nichtannahmebeschlpssen. 1. Die einer Verfassungsbeschwerde stattgebende Kammerentscheidung nach § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ist eine Sachentscheidung und damit eine Entscheidung im Sinne des § 31 Abs. 1 BVerfGG, die auch andere Gerichte und Behörden bindet.
2. Die Bindungswirkung gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG betrifft nicht nur den Tenor, sondern auch die die Entscheidung tragenden Gründe.
3. Nichtannahmebeschlüsse mit “Gründen” zu versehen, ist daher unüblich und – wie ich bereits sagte – jedenfalls irrelevant.
Herzliche Grüße!
Und falls Sie mit “Beerdigungen erster Klasse” die zurückweisenden Senatsentscheidungen meinen sollten (in dem Zusammenhang haben Sie vermutlich etwas aufgeschnappt): Für die Senate gilt immer der § 31 Abs. 1 BVerfGG. Da kann man mit Bindungswirkung beerdigen, kommt ja auch in die amtliche Sammlung deswegen. Aber das ist bei den Kammern anders – und Ihr vorliegender Fall betrifft nun leider einen Kammer-Nichtannahmebeschluss.
Sehr geehrter “Bernd”,
haben Sie besten Dank für den Hinweis, dass § 31(1) BVerfG auch die Gründe erfasst. Das war mir gestern Abend nicht bewusst, ist aber vollkommen einleuchtend. Ich bin derzeit im Ausland und habe leider keinen BVerfGG-Kommentar zur Verfügung.
Versuchen Sie aber dennoch, einmal ganz praktisch zu denken. Versetzen Sie sich in die Lage eines Rechtsanwalts, welcher gegen ein Auftrittsverbot vorgehen möchte. Können Sie in Ihrem Schriftsatz den Beschluss vom Freitag einfach ignorieren? Ich denke, die Antwort ist eindeutig nein. Dafür ist es völlig egal, ob hier ein Prozess- oder Sachurteil vorliegt. Das ist dogmatisch gesehen das Entscheidende.
Mit “Beerdigung erster Klasse” meine ich eine mit Gründen versehene Nichtannahme, wie im vorliegenden Fall. So ist mir diese Begrifflichkeit geläufig. Ich habe das vor vielen Jahren so von dem zwischenzeitlich verstorbenen Dieter Blumenwitz gehört. Und so selten ist eine solche Entscheidung übrigens gar nicht – vielleicht nicht prozentual gesehen, doch in absoluten Zahlen schon. Leider konnte ich aus den Jahresstatistiken des BVerfG auf die Schnelle keine Zahlen hierzu herausfinden. Falls Sie solche Zahlen haben, wäre ich daran interessiert. Aber schauen Sie selbst einfach die aktuellen Entscheidungen auf der Website des BVerfG durch (http://www.bundesverfassungsgericht.de/SiteGlobals/Forms/Suche/Entscheidungensuche_Formular.html?language_=de): nach meinem Eindruck sind mehr als die Hälfte der dort aufgeführten Entscheidungen mit Gründen versehene Nichtannahmeentscheidungen. Die einfach zu ignorieren würde bedeuten, einen den Großteil der Arbeit des Gerichts zu übersehen.
Und wie ich bereits sagte, das besondere an dem Fall ist ja gerade, dass hier Gründe gegeben werden, die weit in das materielle Recht hineinreichen, aber höchst selektiv sind. Das ist allemal einer Erörterung wert, zumal ein Gericht wie das BVerfG nach aller Wahrscheinlichkeit diese Gründe sorgfältig abwägt und nur anbringt, wenn es sich sicher ist, in der nächsten Sachentscheidung nicht gleich schon wieder davon abweichen zu müssen.
Übrigens finde ich es schade, dass Sie hier unter dem Schleier der Anonymität bleiben. Sie mögen dafür Ihre Gründe haben, aber dem Umgangston ist es auf jeden Fall abträglich.
Mit bestem Gruß,
Matthias Goldmann
Bevor Sie mir daraus wieder einen Strick drehen: ich sehe gerade, im zweiten Absatz müsste es heißen: “eine Prozess- oder Sachentscheidung”. Sorry.
Eine interessante Frage ist dann noch, warum sich das Bundesverfassungsgericht zu Einreise eines Mannes äußert und zu Einreise hunderttausender Männer schweigt …
Lieber Herr Goldmann,
niemand dreht Ihnen einen Strick, aber gerade für die jungen Leser hier ist es gut, wenn man sie darauf hinweist, dass es himmelweite Unterschiede zwischen verschiedenen Dokumenten gibt, die “vom Bundesverfassungsgericht” kommen. § 31 BVerfGG ist eine Norm, die jeder Jurist kennen sollte. Wenn Sie sich für Statistik interessieren: Wir haben seit vielen Jahren im Bereich der Verfassungsbeschwerden in etwa diese Aufteilung
-77% Kammer ohne Begründung
-18% Kammer nur Tenorbegründung (d.h. ein Halbsatz wird an den Tenor angehängt)
-4% Kammer mit Begründung
-1% Senat
Bindungswirkung hinsichtlich der Begründung, dies sei nochmals betont, haben:
-alle Senatsentscheidungen und
– STATTGABEN der Kammern.
Herzlich,
Ihr Bernd
Sehr geehrter Bernd,
haben Sie vielen Dank für die Zahlen. Verstehe ich sie richtig, dass es sich bei den 18% Kammerentscheidungen mit Tenorbegründungen um mit Gründen versehene Nichtannahmen handelt? Oder finden sich solche Entscheidungen auch unter den 4% Kammerentscheidungen mit Begründung? Das ist mir nicht ganz klar.
Sie weisen zu Recht auf die Rechtskraftunterschiede der verschiedenen Entscheidungstypen hin. Allerdings kann man von der Rechtskraft die dogmatische Bedeutung unterscheiden, die sich in gewisser Weise der gesetzlichen Regelung entzieht. Und die Funktion von mit Gründen versehenen Nichtannahmen (und insbesondere ihrer Veröffentlichung auf der Website), aus Perspektive der Bindungswirkung tatsächlich ein “Nichts”, besteht doch gerade in der Bestätigung und, was sich nie völlig säuberlich davon abgrenzen lässt, der inkrementellen Fortschreibung der Dogmatik. Darauf gründet sich mein Interesse an solchen Entscheidungen. Leider denken Juristen oft wenig über den Begriff und die Funktion von Dogmatik nach, im Unterschied z.B. zur Theologie. So kommt es zu Verwechslungen zwischen der dogmatischen Bedeutung einer Entscheidung mit ihren rechtlichen Wirkungen.
Mit freundlichen Grüßen
Ihr Matthias Goldmann
Lieber Herr Goldmann, ja, Tenorbegründungen gibt es nur bei Nichtannahmen, denn nur dort kann die Begründung entfallen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG), bei Kammerstattgaben muss immer begründet werden, Tenorbegründungen genügen dafür nicht.
Es dürfte Sie interessieren, dass der Umstand einer Veröffentlichung der Beschlüsse auf der Homepage des Gerichts seit jüngerer Zeit keine Relevanz mehr hat (dogmatisch ohnehin nicht, aber auch nicht mehr in ihrem Sinne einer Diskurs-politischen Relevanz), denn das Gericht veröffentlich nunmehr ausnahmslos jedes Dokument, das eine Begründung enthält, also alles, was keine nichtbegründete Nichtannahme ist.
@Bernd: Woher wissen Sie das mit der Einbeziehung der tragenden Gründe in die Bindungswirkung des 31 Abs. 1? Die entsprechenden Behauptungen des Gerichts jedenfalls in “Südweststaat” und “Parteienfinanzierung I” zählen – nun ja… – nicht zu den tragenden Gründen. Ergo sind sie unverbindlich. Sind sie damit nicht “überflüssig”?
Wenn Sie eine entscheidungserhebliche Fundstelle haben: würde mich interessieren.
@Schorsch: Was möchten Sie genau wissen? Herr Goldmann ist im Ausland ohne Literatur. Sie haben aber doch gewiss selbst einen passenden Kommentar am Arbeitsplatz, nehme ich an?
Wie wäre es mit BVerfGE 20, 56 (87)?
Och, Bernd. Mein Punkt: Nicht allein die formelle Verbindlichkeit der Entscheidungen macht Verfassungsrechtsprechung interessant. Meine These: Auch Ihr Beispiel zur Bindung an die tragenden Gründe ist nie verbindlich entschieden worden (@Wahlkampfverbot: Ihre Fundstelle dürfte die von mir schon genannte Entscheidung “Parteienfinanzierung I” sein?). Sie scheinen die unverbindliche Rspr. trotzdem zu akzeptieren. Und damit zurück zu Fall und Artikel: Eine Pointe des interessanten Textes von Herrn Goldmann (Danke!) ist ja gerade, dass das Gericht hier nicht einen Fall entscheidet, sondern darüber hinaus Hinweise an die Debatte richtet.
Och Schorsch. Natürlich können Sie alles in Frage stellen. Klar. Ich habe Herrn Goldmann das Kleine-Einmaleins des Prozessrechts erläutert (dass ihm das nicht bewusst war, hat er eingeräumt, was ihn ehrt) – Grundwissen für angehende Examenskandidaten. Wenn man das alles kennt, kann man gerne anschließend alles in Frage stellen. Man könnte auch die Menschenwürde anders auslegen. Oder die Solange Rechtsorechung aufgeben. Ich weiß.
Die Frage ist nur, was Ihr “kleines Einmaleins” mit Herrn Goldmanns Kritik und der Kritikwürdigkeit der Entscheidung zu tun hat. Die Antwort: nichts.
Wenn Sie über Prozessrecht reden wollen, erklären Sie mir doch lieber mal, warum die Verfassungsbeschwerde hier nicht zur Entscheidung angenommen wurde. Wenn die Kammer wirklich meint, dass Ihre Ausführungen zur Lösung des Falles nötig waren (unterstellen wir das halt mal!), wäre der Verfassungsbeschwerde sicherlich grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zugekommen (die politische Bedeutung jedenfalls hat eine Pressemitteilung für eine Ihrer Ansicht nach “überflüssige” Entscheidung gerechtfertigt).
@Schorsch: Sie haben recht *schäm*. Im Übrigen sehr feine Argumentation von Ihnen, gefällt mir!
Sehr geehrter Bernd,
wie Sie wohl wissen, bin ich Völker- und Europarechtler und interessiere mich v.a. unter diesem Aspekt für den Fall. Meine daraus resultierende “deformation professionnelle” ließ mich abends um halb zwölf über verfassungsprozessuale Fragen hinweggehen, ohne groß darüber nachzudenken. Auf den Fehler haben Sie zu Recht hingewiesen, vielen Dank.
Doch zeigen auch Sie, mit Verlaub, eine gewisse “deformation professionnelle” indem Sie den prozessrechtlichen Aspekt so sehr betonen, wenngleich er für die dogmatische Beurteilung von Auftrittsverboten herzlich irrelevant ist. “Schorsch” hat dazu alles Notwendige gesagt, vielen Dank.
“Schorsch” wirft auf, ob der Frage von Auftrittsverboten nicht grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt. Das würde ich durchaus so sehen. Jedoch kann ich in gewisser Weise nachvollziehen, dass es bei der gegebenen prozessualen Konstellation zu einer Nichtannahme kam. Denn schließlich beschwerte sich hier ein Nichtbetroffener, dem es erkennbar an der Beschwerdebefugnis fehlte. Würde sich allerdings ein Organisator einer mit Auftrittsverbot belegten Veranstaltung an das BVerfG wenden, wäre ich massiv irritiert, wenn es nochmal, wie im Fall des Hologramms, zu einer Nichtannahme käme. Es gibt hier einfach mehr offene Fragen, als die dürre Begründung vom letzten Freitag uns Glauben macht.
Herzlich
MG
Übrigens, Bernd, hielt es tatsächlich jemand in Ihrem Hause für notwendig, eine Presseerklärung zu dem von mir besprochenen Beschluss zu verfassen. Bitte sagen Sie jetzt nicht, daraus könne man keine Schlussfolgerungen ziehen. Herzlich, MG
http://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2017/bvg17-016.html
@Goldmann: Ich würde es vielleicht andersherum formulieren. Wenn es an der Betroffenheit scheitert, sollte sich die Kammer hüten, auch noch (über den zu entscheidenden Streitfall und die eigene Zuständigkeit hinaus) obiter dicta zu Fragen grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Bedeutung zu formulieren.
@Goldmann: “in ihrem Hause”? Wissen Sie etwas, was wir nicht wissen? BVerfG-Richter undercover?
Am meisten interessiert mich der von Matthias zu Recht aufgeworfene Punkt, wie es um die Versammlungsfreiheit der Einladenden bestellt ist (das Prozessuale ist wie es ist -übrigens weder de facto noch de iure Grundwissen für ExamenskandidatInnen-, und das Procedere der Kammer kann man kritisieren, es ist aber auch nicht neu). Art. 32 I GG als Schranke zu verwenden, leuchtet mir nicht ein, das ist doch eine reine Kompetenznorm im Bund-Länder-Verhältnis (das macht übrigens die Haltung des Saarlands von gestern nicht unproblematisch). Und wenn der Auftritt des ausl. Regierungsmitglieds von der Versammlungsfreiheit erfasst wäre – was soll man dann auf der Schrankenebene sagen? Dass man aber doch von seinem außenpolitischen Ermessen Gebrauch machen möchte? Wenn das reichte, wäre die Versammlungsfreiheit wenig wert. Ich sehe zwei Alternativen dazu: Entweder das an das Regierungsmitglied gerichtete Verbot des Auftritts ist trotz aller “Modernität” des Eingriffsbegriffs kein Eingriff für den Veranstalter oder, und das würde mir eher einleuchten, es ist schon gar nicht Schutzgegenstand der Versammlungsfreiheit, ausl. Regierungsmitglieder auf einer Veranstaltung auftreten zu lassen. Dies könnte man mit dem Argument begründen, dass ansonsten die guten Gründe, die für eine fehlende Grundrechtsposition des ausl. Regierungsmitglieds sprechen, ausgehebelt würden. Wenn ein Veranstalter einen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe Verurteilten sprechen lassen will und das nicht kann, würde man das doch auch nicht als gerechtfertigten Eingriff, sondern eher als fehlenden Eingriff ansehen. Es wird dann natürlich schwierig, zwischen geschützter und nicht geschützter Veranstaltungsplanung eine Grenze zu ziehen – und das finde ich die interessanteste Facette der Problematik.
Lieber Herr Goldmann, die PM wird immer dann erstellt, wenn der Berichterstatter auf dem Beschluss vorne das Feld “Pressemitteilung” ankreuzt. Der eine macht dies häufiger, der andere tut dies seltener. Meine professionelle Deformation lässt mich vermuten, dass die Anreize für Kammermitglieder wachsen, überflüssige obiter dicta in Nichtannahmebeschlüsse zu pinseln oder PMs dazu anzustoßen, je stärker die breite Öffentlichkeit auf derartige Non-paper reagiert. Vor diesem Hintergrund habe ich auf die Problematik der fehlenden Bindungswirkung hingewiesen, damit der Diskurs nicht noch stärker als ohnehin jetzt bereits auf solche Papiere anspringt. Wenn man etwas wichtiges sagen will, gehören solche Verfahren in den Senat. Wenn man nicht in den Senat kann oder will, sollte man sich hüten, allgemeine Sentenzen (noch dazu mit PM) in die Welt zu blasen – denn irgendjemand glaubt dann immer, dies sei die “Meinung des Bundesverfassungsgerichts”. Nur am Rande erwähnt sei der Umstand, dass die langen “Einführenden Statements”, die der jetzige Präsident zur vollen Blüte gebracht hat und gerne in Fachzeitschriften abdrucken lässt, ebenfalls nicht die Funktion des Urteils ersetzen können – auch hier haben wir aber ein lustiges Diskursverhalten, das lieber mit den leichten Texten als mit den verbindlichen Texten arbeitet.
Herzliche Grüße,
Ihr (deformierter) Bernd
Lieber Heiko,
vielen Dank für Deine weiterführenden Gedanken. In der Tat ist das Verhältnis der Art. 8 I und 32 GG alles andere als offenkundig. Eine Kompetenznorm allein kann man einem schrankenlos gewährten Grundrecht wie Art. 8 I GG wohl nicht entgegenstellen. Doch kommt in Art. 32 GG wohl das implizit in der Verfassung geschützte Interesse am Erhalt der außenpolitischen Handlungsfähigkeit zum Ausdruck. Damit bestünde eine Möglichkeit, Art. 8 I GG einzuschränken.
Mir wäre allerdings etwas unwohl bei dem Gedanken, den Auftritt ausländischer Regierungsmitglieder komplett vom Schutzbereich des Versammlungsrechts der Veranstalter auszunehmen. Denn zum ersten ist auch das außenpolitische Handeln an die Grundrechte gebunden und – wenngleich eingeschränkt – gerichtlich überprüfbar.
Zweitens liefe das außenpolitische Ermessen der BReg dadurch nicht leer. Man müsste allenfalls praktische Konkordanz herstellen. Man könnte also von der BReg erwarten, die Grundrechte bei Ausübung ihres (politischen) Ermessens in ihre Erwägungen einzubeziehen. Eine Dreier-Konstellation (Staat-Bürger-ausl. Regierungsmitglied) unterscheidet sich eben von der Zweier-Konstellation (Staat-ausl. Regierungsmitglied).
Drittens schließlich sind solche speziellen und gleichzeitig kategorische Ausnahmen vom Schutzbereich doch eher ungewöhnlich. Man muss sich vor Augen halten, dass dies die zahlreichen Migrantengruppen strukturell erheblich diskriminieren würde. Wären wir hier im Anwendungsbereich der Meinungsfreiheit, die ja gewisse Ähnlichkeiten mit der Versammlungsfreiheit aufweist, könnte man sich fragen, ob es sich bei einer solchen Bereichsausnahme, wenn sie in einem Gesetz stünde, noch um ein “allgemeines Gesetz” im Sinne des Art. 5 II GG handeln würde.
Sofern das Verbot sich an das Regierungsmitglied richtet, wäre der Veranstalter nur mittelbar betroffen. Allerdings könnte man sich hier die Frage stellen, ob sich der Staat einfach den Adressaten seiner Maßnahme danach aussuchen darf, auf welchem Weg die geringsten grundrechtlichen Probleme zu erwarten sind. Hier müssten eigentlich die Grundsätze der Störerauswahl gelten.
Herzliche Grüße
Matthias