03 September 2021

Lean Authoritarianism

Als die britische Regierung vor einigen Wochen ihre Judicial Review and Courts Bill ins Unterhaus einbrachte, ging durch die juristische Öffentlichkeit in UK erst mal ein Seufzer der Erleichterung: Das klang doch eigentlich alles halb so wild. Nach all den Drohgesten, die Boris Johnson und seine Leute in Richtung der Justiz gesandt hatten während und nach der wilden Brexit-Zeit mit den Miller-Urteilen und den Richter-als-“Enemies-of-the-People”-Schlagzeilen, und gemessen an den wohl begründeten Befürchtungen vieler in Justiz, Rechtswissenschaft und Opposition erschien der Gesetzentwurf geradezu beschämend moderat: Zwei Eingriffe enthielt er, einen, um der Regierung die Korrektur ihres rechtswidrigen Tuns zu erlauben, bevor das Gericht interveniert, den anderen, um den Instanzenzug in einem Teil des englischen Gerichtswesens ein Stück weit einzuschränken. Kritisierbar natürlich, aber nichts worüber man nicht reden könnte. Auf dem Weg zu dem Ziel, die Fesseln der justiziellen Kontrolle von Regierungshandeln zu lockern bzw. abzustreifen, war dies allenfalls ein kleiner Schritt.

Das ist aber womöglich exakt der Punkt.

Das Vorgehen in kleinen, korrigierbaren Schritten hat Methode. In einem Vortrag vor dem Tory-nahen Thinktank Policy Exchange hat Justizminister Robert Buckland kürzlich einige interessante Einblicke in das strategische Denken der Johnson-Regierung gegeben. “Incrementalism” war das Wort, das der Lord Chancellor unablässig wiederholte: “Change, where necessary, should be incremental” – das sei überhaupt das Prinzip gut konservativen Regierens. Ja, die Verfassungsordnung und die Balance zwischen den drei Gewalten bedürfe kritischer Beobachtung und, wo nötig, Korrektur. Aber behutsam. “No-one is suggesting that we turn back the clock on judicial review.” Die Rolle der Regierung sieht der Minister weniger als Gegner der Justiz in einem verfassungspolitischen Konflikt denn als eine Art Verfassungs-Klempner oder Ingenieur: “We check the engine and kick the tyres. And if that means some legislative incremental change, then so be it.”

Klingt doch toll, oder nicht? Vernünftig, gemäßigt, dialogbereit, kritikfähig. In der Tat fand Bucklands Publikum, darin viele prominente Gegner der Justizpolitik der Tory-Regierung, das eigentlich alles ganz prima, was der Minister vortrug; manche wie Lord Pannick, Johnsons Nemesis aus den Miller-Prozessen, zeigten sich regelrecht erfreut. Vielleicht dadurch aus der Reserve gelockt machte Buckland deutlich, was Incrementalism auch bedeutet: “There may be other proposals coming down the line which you might find more controversial.”

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Ein kleiner Schritt, das heißt, dass weitere folgen werden: Der Human Rights Act von 1998, der die Europäische Menschenrechtskonvention in britisches Recht übersetzt und den Gerichten im verfassungslosen UK einen Rechtsmaßstab zum Messen auch von Parlamentsgesetzen an die Hand gibt, war der Tory-Regierung schon lange vor Johnson ein Dorn im Auge. Der Constitutional Reform Act von 2005, der die Justiz endgültig aus dem Parlament herauslöste und den Supreme Court anstelle des House of Lords an die Spitze der Gerichtsbarkeit setzte, steht ebenfalls auf dem Prüfstand. Auf die Frage, ob die aktuell geplante punktuelle Einschränkung von Rechtsmitteln vielleicht ein Muster sein könnte für weitere ähnliche Eingriffe, etwa was Klagen gegen exekutives Handeln betrifft, antwortete der Minister unverblümt mit Ja. Die aktuelle Justizreform sei als “template or prototype” gedacht. Wofür genau, sagte er nicht. Jedenfalls aber könne man sicher sein: “Any change will be in the best traditions of British incrementalism.”

Inkrementelles Handeln, das kennt man vor allem aus der Welt der Tech-Startups: Erfolg hat nicht derjenige mit dem großen, über Monate und Jahre erarbeiteten, sündteuren Plan. Erfolg hat, wer quick-and-dirty erst einmal ein minimal viable product auf den Markt wirft, zu lächerlich geringen Kosten und designt allein auf den Zweck hin, möglichst viel Wissen zu generieren: Wissen, was ankommt und was verpufft, was Resonanz findet und was auf Widerstand stößt, was sich durchsetzt und was nicht vom Fleck kommt, und dieses Wissen wieder in die Entwicklung einzuspeisen. So testet man seine Hypothesen, probiert vieles aus, verwirft manches, perfektioniert anderes, verliert aber das Ziel dabei nie aus den Augen. So wird das Produkt immer weniger quick-and-dirty und immer mehr viable, und zwar ohne dass  irgendjemand dafür viel Geld ins Feuer stellen muss. Das Wissen kommt ja direkt von den Kunden, und die machen die ganze Arbeit kostenlos.

Auf die Politik übertragen ist nicht schwer zu verstehen, warum dieses Modell gerade der Johnson-Regierung so verlockend erscheint. Man muss sich nicht groß ins Risiko begeben, ist inhaltlich auf nichts groß festgelegt bis auf das Ziel, die eigene Macht zu mehren – aus welchem sich ohnehin zuvörderst die Notwendigkeit ergibt, etwas gegen die Justiz zu unternehmen, soweit sie derselben Schranken auferlegt. Wozu sich da mit elaborierten Plänen exponieren? Warum den Widerstand von Öffentlichkeit und Rechtssystem riskieren? Viel besser, man schiebt so eine punktuelle Minireform nach vorn und schaut erst mal, was passiert. Wenn sie das schlucken, dann geht die nächste Einschränkung schon viel leichter durch. Schritt für Schritt wird so der Weg zum Ziel zurückgelegt, wie immer er genau verläuft, und am Ende weiß niemand, wie das überhaupt passieren konnte und wer die Verantwortung dafür trägt.

Wir können für nichts verantwortlich gemacht werden, und gerade dies reproduziert und mehrt unsere Macht. Was für eine Macht- und Männerphantasie: We check the engine and kick the tyres. Unsereiner ist nicht Motor, nicht Getriebe, nicht mal Fahrer, nein: Wir sind der Ingenieur. Wir arbeiten nicht im rechtlich verfassten Staatsapparat, wir bauen ihn. Die Verfassung ist eine App. Ihr: User. Wir: Owner. Das ist das Bild, das die Johnson-Regierung sich mit ihrem Wort vom “incrementalism” von sich selber macht. Könnte ihr so passen.

 9/11 zwei Jahrzehnte später

Unterdessen warten wir weiter betäubt auf die Erkenntnis des ganzen Ausmaßes dessen, was sich gerade in Afghanistan zuträgt und noch zutragen wird. Der Abzug der westlichen Truppen markiert das Ende einer Epoche, deren Beginn sich demnächst zum 20. Mal jährt. Wir haben gemeinsam mit der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) und gefördert von der Bundeszentrale für politische Bildung aus diesem Anlass ein großes Projekt auf die Schiene gesetzt, das in dieser Woche starten wird.

In insgesamt sieben Online-Symposien werden wir zwischen Oktober 2021 und Mai 2022 die Spuren sondieren, die 9/11 in der globalen, regionalen und nationalen Verfassungs- und Menschenrechtsarchitektur hinterlassen hat. Das erste Symposium wird sich im Lichte der Entwicklungen in Afghanistan um die Spuren im Völkerrecht drehen: Interveniert ein Staat militärisch in einem anderen, unterliegt er völkerrechtlichen Schutzpflichten – wie sieht es damit aus, wenn er eine Intervention abbricht oder beendet? In der Folge werden wir im Monatstakt weitere Online-Symposien veranstalten, zu Themen wie Migration und Staatsbürgerschaft, Überwachung und öffentlicher Raum, Privatsphäre, Meinungs- und Kommunikationsfreiheit, Menschenwürde sowie Rechtsstaatlichkeit und Justiz. Den Abschluss markiert rund um 23. Mai 2022 eine internationale Abschlusskonferenz.

Als Auftaktevent werden wir am Freitag, 10. September, um 12:30 Uhr in einem ‘Lunchtime Talk’, der per Zoom livegestreamt wird, das Projekt vorstellen und in einer Expertinnenrunde mit Eva Pils, Anja Mihr und Stephan Detjen diskutieren: Sind in Reaktion auf 9/11 Unterschiede zwischen unterschiedlichen Regimetypen erkennbar, oder blieb keines von der Autokratisierungswelle verschont? Worin lassen sich innerhalb internationaler Konvergenzen Unterschiede erkennen? Wie lassen sich verfassungsrechtliche Garantien gegen staatliche Initiativen durchsetzen, und wie hat sich der politische Diskurs seit 9/11 verändert? Wir laden Sie herzlich ein, an dieser Veranstaltung online teilzunehmen. Das Auftaktevent wird live auf dem Verfassungsblog gestreamt. Zur Anmeldung geht es hier.

“Ein Volkskanzler”: das Theaterstück

Und noch eine Ankündigung: Vor ziemlich genau zwei Jahren habe ich meinen Artikel “Ein Volkskanzler” geschrieben, der zuerst in der Süddeutschen Zeitung und dann hier auf dem Verfassungsblog erschienen ist. Es ging um die Vorstellung, dass ein charismatischer neuer Politiker die von den Trümmern des desavouierten Parteiensystems übersäte politische Bühne in Deutschland betritt und mit seiner Partei eine absolute Mehrheit im Bundestag erringt. Ich habe durchgespielt, was er mit so einer Mehrheit innerhalb einer Legislaturperiode alles machen könnte, und das Ergebnis war ziemlich erschütternd: Er könnte das gesamte Verfassungssystem aus den Angeln heben, ohne dass irgendjemand etwas dagegen viel tun könnte.

Dieses Szenario wurde letzes Jahr als Theaterstück in Düsseldorf uraufgeführt, mit Ruth Marie Kröger und unter Regie von Helge Schmidt. Daraus ist mittlerweile ein Film geworden. Den wollen wir zeigen. Und zwar am Sonntag, 12. September um 18 Uhr. Wir werden ihn hier auf dem Verfassungsblog streamen. Hinterher gibt es ein Publikumsgespräch mit den Mitwirkenden. Auch hier freue ich mich auf Ihre Teilnahme!

Zum Thema: eine der Erkenntnisse aus dem Volkskanzler-Szenario war, wie verwundbar das Bundesverfassungsgericht dadurch ist, dass eine einfache Mehrheit im Bundestag die prozessualen und gerichtsverfassungsrechtlichen Grundlagen, auf denen das BVerfG arbeitet, in weitem Umfang nach Belieben modifizieren und manipulieren kann. So könnte eine enstprechend gesonnene Mehrheit beispielsweise einen dritten Senat einführen und mit neuen Leuten besetzen und dafür sorgen, dass heikle Fälle fast nur noch vor diesem neuen Senat landen. Die Kontrolle durch das Verfassungsgericht ließe sich so neutralisieren – ganz inkrementell natürlich!

Verfassungspolitisch ließe sich diese Lücke durchaus stopfen, etwa dadurch, dass man Änderungen am BVerfGG unter den Vorbehalt einer Supermajorität stellt. Das sollte passieren, solange die dafür nötigen Mehrheiten noch vorhanden sind. Die kommende Legislaturperiode könnte die letzte sein, für die das gilt. Das Bewusstsein dafür sollten die Parteien in die Koalitionsverhandlungen mitnehmen. Ich hoffe, sie tun’s.

Die Woche auf dem Verfassungsblog

Und noch ein lang gehegtes Projekt, das jetzt Früchte trägt: Gemeinsam mit dem Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb in München haben wir in dieser Woche ein Online-Symposium zum digitalen Gesetzgebungspaket der EU gestartet. Eignen sich der Digital Services / Markets Act, um die Macht privater Unternehmen über öffentliche Räume und demokratische Meinungsbildung zu zähmen? Das stellen wir zur Diskussion. Erschienen sind bisher Beiträge von ILARIA BURI und JORIS VAN HOBOKEN, TERESA RODRÍGUEZ DE LAS HERAS BALLELL, GIOVANNI DE GREGORIO und ORESTE POLLICINO, ALEXANDER PEUKERT, RUPPRECHT PODZUN, NAOMI APPELMAN, JOAO PEDRO QUINTAIS und RONAN FAHY, HERBERT ZECH, INGE GRAEF, PETER PICHT und SUZANNE VERGNOLLE.

Apropos incrementalism: In den USA läuft zurzeit ein rechts-autoritäres Experiment, neben dessen Ruchlosigkeit und Brutalität alles, was die Johnson-Regierung treibt und vorhat, wie ein Kindergeburtstag aussieht. Die US-Verfassung garantiert seit dem Supreme-Court-Urteil Roe v. Wade das Recht auf Abtreibung, und das minimal viable product, mit dem die Republikaner jetzt testen, wie man um diese Rechtslage herumkommt, ist ein Gesetz im Bundesstaat Texas: Nicht der Staat selbst droht allen, die an einer Abtreibung ab der 6. Schwangerschaftswoche mitwirken, mit rechtlichen Sanktionen, sondern er ermächtigt stattdessen Privatleute, das zu tun, und verspricht ihnen im Erfolgsfall reiche Belohnung. SARAH KATHARINA STEIN schildert, wie das Gesetz überhaupt in Kraft treten konnte, obwohl seine Verfassungswidrigkeit auf der Hand liegt (was, Achtung Spoiler: exactly the incremental point des ganzen Vorgangs ist), und MARK TUSHNET analysiert die Rolle des Supreme Courts dabei.

In der Slowakei hat der Generalstaatsanwalt die Ermittlungen gegen einen früheren Geheimdienstchef und vier weitere prominente Korruptionsverdächtige niedergeschlagen – weil er es konnte. MICHAL OVÁDEK berichtet die Hintergründe dieses bizarren Falls, der auch eine Folge der langen Amtszeit und Abgeschirmtheit von politischer Verantwortung dieses Amtes ist.

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The International Journal of Constitutional Law (ICON) invites abstracts for the symposium “Covid Stories: Stories of the impact of Covid 19 on inequalities in academia and beyond”. The symposium will assemble short personal reflections that create a conversation about effects of the pandemic in academia and in the society more broadly. More details can be found here.

Please send your abstracts of around 500 words to iconassociateeditor@nyu.edu before 1 October 2021.

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In Deutschland steht am 26. September bekanntlich eine Bundestagswahl im Kalender. Unterdessen steigen schon wieder die Corona-Zahlen, und das könnte ein Problem werden, meint JOSEF FRANZ LINDNER. Wer kurz vor dem Wahltermin in Quarantäne muss, verliert dann einfach so sein aktives Wahlrecht? Auf welcher Rechtsgrundlage soll man Wähler_innen, die keine Maske tragen, den Zutritt zum Wahllokal verwehren? Das ist alles ungeklärt und ein Versäumnis des Wahlgesetzgebers, der bisher offenbar nicht auf die Idee gekommen ist, dass man das regeln müsste.

Kurz vor Dienstschluss diskutiert der Bundestag dabei ja noch über eine weitere Änderung des Infektionsschutzgesetzes. Aber die Art, wie er das tut, stellt ihm selbst in den Augen von JOHANNES GALLON kein gutes Zeugnis aus: Der bisherige Verfahrensverlauf “zeigt exemplarisch, mit welcher Priorität die Koalitionsfraktionen die legislative Steuerung der Epidemiebekämpfung als Aufgabe des Bundestags behandeln – nämlich mit überhaupt keiner.”

Wäre die Impfquote in Deutschland höher, könnten wir den Herbst gelassener erwarten. Ist sie aber nicht, weshalb die Debatte um eine Impfpflicht nicht verstummen will. Das Hamburger 2G-Modell, in dem Wirte und Kinobesitzer den Zugang auf Geimpfte und Genesene beschränken können, setzt einen starken Anreiz, sich doch noch zu impfen. CHRISTIAN ERNST hält das für gut vertretbar, auch vor dem Hintergrund der Berufsfreiheit der betroffenen Unternehmer.

Damit wäre ich durch für heute. Ihnen alles Gute, vielen Dank für Ihre Treue und Unterstützung, und bis nächste Woche!

Ihr Max Steinbeis

 


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