Lehren aus Karlsruhe – die EU-Finanzierung weiterdenken
Die EZB-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai 2020 hat die große Frage des Europaverfassungsrechts in helles Licht gerückt; die Frage, wie die im Ausgangspunkt völkerrechtliche Fundierung der Union mit dem sachlich gebotenen Konzept des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs verlässlich in Einklang zu bringen ist. Über Jahrzehnte ist es gelungen, diesen Einklang durch eine zurückhaltende, konziliante Anwendung von Maßstäben und eine Zusammenarbeit im Geist der Kooperation zu erreichen. Doch sind die inhaltlichen Herausforderungen und auch die Erwartungen, die an die Europäische Union herangetragen werden, über die Zeit immer weiter angewachsen. Der Konstruktionsfehler der Wirtschafts- und Währungsunion, die asymmetrische Zuordnung von Kompetenzen im Bereich zweier eng zusammenhängender Sachmaterien, hat die europaverfassungsrechtliche Schwebelage – oder auch: die Leistungsfähigkeit des Konzepts des constitutional pluralism – nun, im Angesicht erheblicher Finanzierungsnöte der Mitgliedstaaten, an ihre Grenzen geführt.
Dabei kann vom guten Willen aller beteiligten Akteure fest ausgegangen werden. Die EZB füllt die Rolle, in die sie nicht zuletzt durch die Handlungsschwäche anderer Organe gedrängt wurde, aktiv aus und übernimmt damit, ähnlich wie viele andere Zentralbanken in heutiger Zeit, Verantwortung im Blick auf den Gesamtzusammenhang. Sie nutzt die ihr zur Verfügung stehenden geldpolitischen Handlungsinstrumente, deren Auswirkungen im Bereich des Wirtschaftslebens zu einem Teil sogar konzeptionell angelegt sind. Der EuGH interpretiert das Unionsrecht, wie es der hergebrachten Zweckgerichtetheit der Union entspricht, seit jeher stark teleologisch und geht fest von dessen uneingeschränktem Anwendungsvorrang aus, was die verfassungsrechtlichen Lagen in den Mitgliedstaaten aus dem Blick rückt. Das Bundesverfassungsgericht ist demgegenüber dem Grundgesetz verpflichtet, dessen Integrationsprogramm klar strukturiert ist. Vor dem Hintergrund der hierauf gegründeten, fest etablierten Rechtsprechungslinie war die Entscheidung vom 5. Mai folgerichtig.
Die Wellen, die die Entscheidung schlägt, sind hoch. Deutlich wird in der Öffentlichkeit der Duktus der verfassungsgerichtlichen Kritik am EuGH wahrgenommen („schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar“), auch wenn die gewählten Worte termini technici der Dogmatik sind und auch in anderen Zusammenhängen, namentlich im Verhältnis zur deutschen Fachgerichtsbarkeit, an erster Stelle von der prinzipiellen Zurückhaltung beim verfassungsgerichtlichen Eingriff in die Rechtsprechung anderer Gerichte zeugen. Der verfassungsgerichtliche Vorwurf der unzureichenden Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die EZB wird teilweise als realitätsfern bezeichnet. Doch hält das Bundesverfassungsgericht gerade damit eine Tür offen, die in die Zukunft weist. Denn der Nachweis einer Verhältnismäßigkeitsprüfung kann noch erbracht werden, während eine Einordnung des EZB-Handelns als fiskalpolitisch das Ende der Zusammenarbeit hätte bedeuten müssen. In der grundsätzlichen Einordnung des EZB-Handelns hat sich das Bundesverfassungsgericht demgegenüber, was vielfach nicht in den Vordergrund gerückt wird, trotz der in der Vorlageentscheidung deutlich geäußerten Bedenken der Einschätzung des EuGH gebeugt. Im Licht all dessen kann das Urteil vom 5. Mai durchaus als Versuch gedeutet werden, das Kooperationsverhältnis in einem konstruktiven Geist fortzusetzen.
Das Augenmerk sollte nun vor allem darauf gerichtet werden, was aus der Entscheidung zu lernen ist. Das Urteil ist ein weiterer Beleg dafür, dass die Europäische Union in der derzeitigen Strukturierung der Wirtschafts- und Währungsunion nicht zukunftsfähig ist. Eine demokratisch nur dünn legitimierte, aus guten Gründen unabhängige Institution, deren Mandat die Preisstabilität betrifft, zum faktischen Garanten für das finanzielle Überleben der Mitgliedstaaten zu machen, und dieses Überleben ausgerechnet durch eine weitere Ausdehnung der Staatsverschuldung sichern zu wollen, die zudem die Unabhängigkeit der Institution gefährdet, weist in die Irre. Letztlich ist es genau dies, was das Bundesverfassungsgericht verdeutlicht hat. Die im Zuge der Corona-Krise ergriffenen zusätzlichen Maßnahmen der EZB unterstreichen die Problematik der Vorgehensweise um ein weiteres. Auch die sonstigen, dramatischen und stets am seidenen Faden hängenden Bemühungen der Union, Geld zur Nothilfe bereitzustellen, wo in der Grundstruktur kaum Geld ist, münden eher in gewagten Konstruktionen (Stichwort: Hebelwirkung) als in echten finanziellen Erleichterungen und vertrauenbildenden Finanzpolstern.
Quer durch die Bank, über alle hergebrachten Lager hinweg scheint doch immer besser verstanden zu werden, dass die Union solider finanziert werden muss. Weder die EZB noch unionale Sonderfonds oder völkerrechtliches Beiwerk wie der mitgliedstaatlich beherrschte ESM werden die Europäische Union finanziell in die Zukunft führen. Sehr zutreffend hat es Jean Pisani-Ferry jüngst auf den Punkt gebracht: „What the German judges are telling European leaders … is that decisions for which they ought to take ownership should not be delegated to an unelected body.“
Die Zeit ist reif für eine offene Diskussion über die künftige Finanzierung der Union. Die deutsche Ratspräsidentschaft kann und sollte dazu genutzt werden. Alles spricht für eine kontrollierte Ausdehnung des Unionshaushalts, der die großen anstehenden Aufgaben, die Europa nur gemeinsam bewältigen kann (siehe das interessante Plädoyer für eine Konzentration der EU auf bedeutsame Großprojekte von Peter Graf Kielmansegg, FAZ vom 20. April 2020), hinreichend, dabei prioritätengerecht, konsistent und demokratisch legitimiert zu finanzieren vermag. Auch Hilfe für einzelne Mitgliedstaaten in unverschuldeter Not sollte nach Möglichkeit dem Unionshaushalt oder durch diesen Haushalt gedeckten Bürgschaften überantwortet werden. Jedes größere, zumal heterogene Gefüge von Hoheitsgebieten ist, um nachhaltig aufgestellt zu sein, auf eine gewisse Form der allgemeinen finanziellen Solidarität angewiesen. Auch die bisherige Fondsstruktur und die Praxis ihrer Nutzung sollten in diesem Licht gesehen werden.
Zur Finanzierung eines erweiterten Unionshaushalts kommen im Wesentlichen zwei Wege in Betracht. Zum einen liegt es nahe, die nach dem Bruttonationaleinkommen bemessenen Eigenmittel der Union (BNE-Eigenmittel) zu erhöhen. Mit der Bezugnahme auf das Bruttonationaleinkommen wird überzeugend an die allgemeine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten angeknüpft. Zudem ist die BNE-Bemessungsgrundlage, anders als die Bezugnahme etwa auf die Umsatzsteuer oder andere mitgliedstaatliche Steuern, steuerpolitisch entscheidungsneutral, beeinflusst die Mitgliedstaaten also nicht bei ihrer Ausgestaltung der Steuersysteme und ist in diesem Sinne nicht missbrauchsanfällig.
Zum anderen wird in jüngerer Zeit wieder verstärkt über die Einführung einzelner echter EU-Steuern nachgedacht (siehe jüngst einen entsprechenden Aufruf europäischer Steuerrechtsprofessoren). EU-Steuern finanzieren den Unionshaushalt unmittelbar und können durchaus integrierend wirken. Denn Steuern, die nach individueller Leistungsfähigkeit erhoben werden und in ein ungebundenes Budget eingehen, vermögen das Gefühl des Zusammenhalts zu stärken; sie können eine Solidargemeinschaft auf Bürgerebene, nicht nur auf Staatenebene, begründen. Anders als Schulden schaffen Steuern zudem Solidarität unter den Lebenden und bürgen Solidarität nicht einseitig künftigen Generationen auf. Im Sinne des klassischen „no taxation without representation“ können Steuern im Übrigen der demokratischen Repräsentation förderlich sein, EU-Steuern können mithin die Demokratie in der Union stützen. Doch ist die Einführung von EU-Steuern vertragsgebunden. Das geltende Vertragsrecht kennt keine mit Finanzierungszweck erhobenen EU-Steuern. Art. 192 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a und Art. 194 Abs. 3 AEUV erlauben Umweltabgaben aus Sachgründen, Art. 114 Abs. 2 AEUV ermächtigt zur Harmonisierung mitgliedstaatlicher Steuern um des Binnenmarkts willen. Das Eigenmittelsystem beruht weiterhin auf dem Modell mitgliedstaatlicher Beiträge. Soweit diese Beiträge steuerliche Bemessungsgrundlagen haben, erscheinen sie deshalb als Form der Scheinbesteuerung; ihr Ursprung ist nicht der Geldbeutel des Steuerzahlers, sondern der mitgliedstaatliche Haushalt. Echte EU-Steuern mit primärem Fiskalzweck setzen deshalb eine Vertragsanpassung voraus. Wird gegen eine solche Anpassung das Problem der erforderlichen Einstimmigkeit ins Feld geführt, ist dies bei realistischer Betrachtung berechtigt. Doch zeigt sich genau darin, dass es sich bei der erforderlichen Einstimmigkeit um ein Problem handelt, letztlich nur, wo wir in Europa gegenwärtig stehen. Eine langfristig tragfähige Lösung wird sich nicht durch eine Umgehung des Einstimmigkeitserfordernisses, sondern allein durch eine bewusste Adressierung des Problems erreichen lassen. Aus der Perspektive Deutschlands ist die begrenzte Einführung von EU-Steuern mit der Verfassungsidentität vereinbar. Selbst dann, wenn man an dem Ausschlusskatalog im Urteil zum Lissabon-Vertrag (BVerfGE 123, 267 (359)) festhalten möchte, können EU-Steuern diesseits der Grenze zu Einnahmen von „wesentlichem“ Umfang (BVerfGE 123, 267 (361)) verbleiben. Schließlich müsste die Einführung echter EU-Steuern von angemessenen verfahrensrechtlichen und auch materiell begrenzenden Vorschriften begleitet werden, die eine freiheits- und gleichheitsgerechte Belastung im europaweiten Steuervollzug sicherstellen.
In einer Zeit, in der die Herausforderungen nicht kleiner, sondern größer werden, braucht die Europäische Union eine solide Finanzierung ihres Kernhaushalts – sei es über einen Ausbau der BNE-Eigenmittel, sei es über die ergänzende Einführung einzelner EU-Steuern. Dies verdeutlicht zu haben, ist ein wesentliches Verdienst der EZB-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts.
“Das Urteil ist ein weiterer Beleg dafür, dass die Europäische Union in der derzeitigen Strukturierung der Wirtschafts- und Währungsunion nicht zukunftsfähig ist. Eine demokratisch nur dünn legitimierte, aus guten Gründen unabhängige Institution, deren Mandat die Preisstabilität betrifft, zum faktischen Garanten für das finanzielle Überleben der Mitgliedstaaten zu machen, und dieses Überleben ausgerechnet durch eine weitere Ausdehnung der Staatsverschuldung sichern zu wollen, die zudem die Unabhängigkeit der Institution gefährdet, weist in die Irre.”
(Indirekte) monetäre Staatsfinanzierung ist der status quo seit der Finanzkrise (in Japan schon länger), daran wird ein Unionshaushalt finanziert mit EU-Steuern nichts ändern.
Die institutionelle Trennung zwischen Zentralbank und Staatskasse finde ich auch weiterhin angebracht, da das Ziel der Zentralbank weiterhin die Preisstabilität bzw. Glättung des Konjunkurzyklus ist, auch wenn sie zu diesem Zweck dem Staat de facto Geld zur Verfügung stellt, und im Notfall (bei Inflation) wieder wegnimmt.
Die notwendige Reform auf EU-Ebene ist meiner Meinung nach die vollständige Aufgabe des capital keys, der die EZB dazu zwingt, Staatsanleihen im Verhältnis zu den BIPs der Mitgliedsstaaten zu kaufen. Damit kann sie ihre Geldpolitik (i.e. Konjunkturprogramme) nicht auf die Bedürfnisse der Mitgliedsstaaten zuschneiden. Der Souveränitätsverlust der Mitgliedsstaaten bleibt, aber der ist beim Betritt in eine Währungsunion unvermeindlich.