18 October 2018

Macht gibt Macht, Recht muss sie wieder nehmen: Minister und Abgeordnete im Wahlkampf

Nach der Wahl ist vor der Wahl und so ist schon wieder Wahlkampf – diesmal in Vorbereitung auf die Landtagswahl in Hessen. Dabei muss der Staat politisch neutral sein – Parteien dürfen und sollen für sich werben und miteinander streiten, Minister aber, Fraktionen und Abgeordnete müssen sich zurückhalten, denn sie verfügen über staatliche Mittel, die ihnen im politischen Wettbewerb einen Vorteil verschaffen können. Dass diese Zurückhaltung nicht immer geübt wird, zeigen jüngste Äußerungen der Bundestagsverwaltung, nach denen es im Wahlkampf 2017 zu Unregelmäßigkeiten bei der Verwendung öffentlicher Mittel gekommen sein könnte: Der damalige Landwirtschaftsminister Christian Schmidt hatte seine Ministeriumsmitarbeiter zur Vorbereitung von Wahlkampfterminen eingesetzt. Das aber kann die Chancengleichheit des politischen Wettbewerbs verzerren.

Diese Chancengleichheit fordert das Recht und verlangt die Demokratie. Denn – bereits Aristoteles hat das in seiner „Politeia“ klar erkannt – Demokratie ist nichts anderes als die konstitutionelle Schlussfolgerung aus der politischen Gleichheit aller Bürger; sie beruht auf und besteht in den gleichen Rechten dieser Bürger, den Kurs des Gemeinwesens mitzubestimmen. Mitbestimmung ist dabei nicht lediglich formal zu verstehen und nicht ausschließlich auf die einzelne staatliche Entscheidung zu beziehen: Das eigentliche Wahlrecht im Sinne eines Rechts auf Teilnahme am Wahl- oder Abstimmungsvorgang bildet zwar den Kern des Mitbestimmungsrechts, die Gleichheitsanforderungen erschöpfen sich aber nicht darin, dass jeder Bürger eine Stimme abgeben kann. Vielmehr müssen auch die Möglichkeiten, für die eigene politische Sache zu werben, gleich verteilt werden. Äußern tut sich dies zum Beispiel in den Regeln, nach denen Sendezeiten im öffentlichen Rundfunk oder öffentliche Stellflächen für Wahlwerbungsplakate verteilt werden.

Gleichzeitig ist keine vollständige Gleichheit der Mitbestimmungschancen aller Bürger gefordert, denn dazu müssten auch ihre sehr unterschiedlichen sozialen Ressourcen ausgeglichen werden, was, zumal unter der Bedingung der verfassungsrechtlich umfassend gesicherten persönlichen Freiheit, kaum möglich erscheint. Selbst sich verfahrensmäßig an ein solches Ideal der faktischen politischen Gleichheit anzunähern, etwa indem durch das Los bestimmt würde, wer öffentliche Ämter bekleidet – auch dies ein aristotelischer Gedanke – kommt uns eher fernliegend vor.

Aber wenn auch der Staat durch das Demokratieprinzip nicht verpflichtet wird, politisch relevante Formen der sozialen Ungleichheit umfassend auszugleichen, so verbietet die Demokratie es dem Staat jedenfalls, aktiv einseitig zugunsten der einen oder anderen Partei einzugreifen und so den politischen Wettbewerb der Bürger zu verzerren. Zu Recht werten wir es deshalb als Zeichen einer noch nicht gefestigten oder bereits wieder zerfallenden Demokratie, wenn die Presse gelenkt wird, die Verwaltung nach parteipolitischen Gesichtspunkten handelt oder Richter ihre Entscheidungen auf einen Wink aus dem Präsidentenpalast hin fällen.

Konsequenterweise hat das Bundesverfassungsgericht bereits vor etwa vierzig Jahren dem Staat untersagt, den politischen Wettbewerb zu verzerren, und zwar durch den Einsatz von Geld: Im Vorfeld der Bundestagswahl 1976 hatte die damalige sozial-liberale Bundesregierung aus Haushaltsmitteln Anzeigenserien geschaltet, Faltblätter und andere Publikationen herausgegeben, in denen die Erfolge des Regierungshandelns herausgestellt wurden, und dabei nicht verhindert, dass dieses Material durch die Regierungsparteien im Wahlkampf verwendet wurde. Das von der damaligen Opposition angerufene Bundesverfassungsgericht setzte der Art und Weise, wie eine Regierung ihr eigenes Handeln öffentlich darstellen darf, daraufhin Grenzen (BVerfGE 44, 125 ff.). Verboten ist danach vor allem jede Art von regierungsamtlicher Wahlwerbung. Es darf nur „sachgerechte, objektiv gehaltene Information“ verbreitet werden. Zudem ist eine Schonzeit zu beachten, denn in der unmittelbaren Vorwahlzeit kann es auch untersagt sein, einen nüchtern gehaltenen Erfolgsbericht zu publizieren. Mit dieser Rechtsprechung versucht das Bundesverfassungsgericht zu unterbinden, dass staatliche Mittel zugunsten der Parteien des Regierungslagers eingesetzt werden.

In die gleiche Richtung weisen die Versuche der Rechtsprechung, die Öffentlichkeitsarbeit der Fraktionen zu domestizieren (etwa StGH Bremen Urt. v. 23.12.1996 – St 5/96; VerfGH Rheinland-Pfalz Urt. v. 19.8.2002 – VGH O 3/02; OVG Schleswig Urt. v. 30.9.1997 – 2 K 9/97; VG Magdeburg Urt. v. 1.9.2017 – 9 A 51/16). Auch hiernach sollen Äußerungen im Duktus der Wahlwerbung unterbleiben. Zudem dürfen sich die Fraktionen nur zu Angelegenheiten aus ihrem Zuständigkeitsbereich, das heißt, zu Dingen äußern, die in die Kompetenz des Parlaments fallen, dem sie angehören. Das Bundesverfassungsgericht hat zu diesen Fragen allerdings bislang keine abschließende Entscheidung getroffen.

Zu dem Problem von Abgeordnetenmitarbeitern, die zu Wahlkampfzwecken eingesetzt werden, hat sich das Gericht hingegen recht deutlich geäußert, allerdings nur in Form eines obiter dictum. Vor gut einem Jahr (Beschluss 2 BvC 46/14 vom 19. September 2017, BVerfGE 146, 327 ff.) hatte der Senat über eine Wahlprüfungsbeschwerde zu befinden. Zwar genügte das Vorbringen des Beschwerdeführers nicht, um einen relevanten Wahlfehler nachzuweisen. Es löste aber so großes Unbehagen im Gericht aus, dass dieses sich veranlasst sah, die Mängel zu rügen, die beim Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern bestehen: Aus dem erheblichen Umfang der Mittel, die den Fraktionen zur Verfügung stehen, ergebe sich die Pflicht, eine chancengleichheitswidrige Verwendung zu verhindern. Entsprechende Vorkehrungen würden aber nicht ausreichend getroffen. Insbesondere werde nicht kontrolliert, ob die die Mitarbeiter nur zur Unterstützung der parlamentarischen Arbeit des Abgeordneten eingesstzt werden, wie § 12 Abs. 3 S. 1 AbgG dies fordert.

Schaut man auf die Größenordnung der Finanzmittel, um die es dabei geht, wird schnell deutlich, dass das Bundesverfassungsgericht gute Gründe für seine Bauchschmerzen hatte: Im Haushaltsjahr 2017 lagen die im Haushaltsgesetz für die Mitarbeiter der Bundestagsabgeordneten ausgewiesenen knapp 213 Millionen Euro deutlich vor der staatlichen Teilfinanzierung der politischen Parteien, die mit 143 Millionen Euro dotiert wurde. Während aber die Parteienfinanzierung recht eingehend reguliert ist und eine Pflicht zur öffentlichen Rechenschaftslegung besteht, deren Einhaltung vom Bundestagspräsidenten überwacht wird, werden an die Abgeordneten deutlich größere Summen ohne genauere Kontrolle einer gleichheitsgerechten Verwendung ausgezahlt. Können jedoch die Abgeordnetenmitarbeiter ohne allzu große Sorge vor Sanktionen gleichheitswidrig etwa für den Wahlkampf ihrer Chefs eingesetzt werden, so greift das spürbar in den politischen Wettbewerb ein und die Balance, die das Parteienrecht bei der direkten Finanzierung der Parteien mühsam herzustellen sucht, wird durch solche indirekte Finanzierung stark gestört.

Außer durch den Einsatz von Geld greifen politische Amtsträger des Staates auch dadurch in den politischen Wettbewerb ein, dass sie ihre Autorität zu Partei- oder anderen privaten Zwecken gebrauchen und indem sie besondere Möglichkeiten nutzen, über Massenmedien zu kommunizieren, die sie nur ihres Amtes wegen haben. Hier greift das Bundesverfassungsgericht auf die bereits für die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung entwickelten Grundsätze zurück und verlangt für Äußerungen als Amtsträger, dass sie neutral und sachlich zu sein haben. Selbst wenn es darum geht, auf einen polemischen Angriff zu reagieren, bestehe für Staatsorgane kein „Recht auf Gegenschlag“, so das Bundesverfassungsgericht (2 BvE 1/16 Rn. 60). Für die – gerade bei Auftritten in Diskussionssendungen oder sogenannten Talkshows – nicht immer einfach zu beantwortende Frage, wann jemand als Amtsinhaber und nicht als Privatperson oder Parteipolitiker auftritt, differenziert das Gericht für Regierungsmitglieder danach, „ob der Inhaber eines Regierungsamtes seine Aussagen in spezifischer Weise mit der Autorität des Regierungsamtes unterlegt“ (2 BvE 2/14 Rn. 60). Dieses Gesamtkonzept, das die Neutralitätspflicht von Hoheitsträgern bei öffentlichen Äußerungen stark betont und sich dabei vielleicht zu wenig auf die spezifisch politische Funktion von Regierungsangehörigen einlässt, ist nicht ohne entsprechende Kritik geblieben [etwa hier und hier].

Tatsächlich zeigt sich an der Frage der Äußerungen von Ministern oder der Öffentlichkeitsarbeit der Parlamentsfraktionen ein Dilemma: Die Forderung nach einem Staat, der demokratisch geleitet wird, gerät in einen inneren Gegensatz zur demokratisch gebotenen staatlichen Neutralität, sobald der Blick von der Justiz oder der Verwaltung auf die aus Wahlen hervorgegangene, demokratisch legitimierte politische Spitze des Staates gelenkt wird, nämlich auf die Regierung und das Parlament.

Um dies an den Fraktionen zu demonstrieren: Fraktionen sind parteipolitisch meist sortenrein zusammengesetzt; sie sind Ort und Plattform intensiver parteipolitischer Konflikte. Dies wird allgemein auch so wahrgenommen, man denke etwa an die jüngst erfolgte Niederlage des erklärten Kandidaten der Kanzlerin bei der Wahl zum Vorsitz der Unionsfraktion. Aus den genannten Gründen ist die sogenannte „Öffentlichkeitsarbeit der Fraktionen“ in Wirklichkeit meist eine durchaus parteipolitisch eingefärbte Darstellung der eigenen Ziele und Tätigkeiten. Dies entspricht auch der Natur der Fraktionen, nämlich ihrer personellen Zusammensetzung und vor allem ihrer Funktion im Parlamentsbetrieb, die darin besteht, parlamentarische Arbeit nach (partei-)politischen Gesichtspunkten zu ordnen und zu organisieren.

Dennoch beharrt das Recht mit Blick auf die Chancengleichheit des politischen Wettbewerbs darauf, dass die Fraktionen Unterorgane des staatlichen Organs Parlament und als solches zu politischer Neutralität verpflichtet seien. Mutatis mutandis gilt dasselbe für die Mitarbeiter der Abgeordneten. Es lässt sich kaum vermeiden, dass ihre Tätigkeit auch den Abgeordneten zugutekommt, für die sie arbeiten, und zwar gerade auch im politischen Wettbewerb mit anderen Kandidaten, denn dies entspricht sowohl den Interessen der Abgeordneten wie der Mitarbeiter, deren Stellen vom politischen Erfolg ihrer Chefs und Arbeitgeber abhängen.

Wirklich auflösen lässt sich dieses Dilemma nicht. Dies liegt vor allem daran, dass es ein starkes öffentliches Interesse an einem leistungsfähigen und gut ausgestatteten Parlament gibt, das die Regierung wirksam kontrollieren kann. Der Weg, die Fraktionsmittel oder die Ausstattung der Abgeordneten so weit abzusenken, dass von ihnen kein relevanter Einfluss mehr auf die Chancengleichheit im politischen Wettbewerb ausgehen kann, mag somit vielleicht populär sein, sinnvoll ist er nicht.

Insofern geht die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in die richtige Richtung: Sie erkennt an, dass der politische Wettbewerb nicht frei gehalten werden kann von dem Einfluss, den staatliche Ressourcen ausüben, und beschränkt sich deshalb darauf, größeren Missbrauch abzuwehren. Aber manche juristischen Werkzeuge sind stumpf. Wenn eine Bundesministerin durch einen parteipolitisch gefärbten Boykottaufruf gegen eine Versammlung das Recht auf Chancengleichheit der veranstaltenden Partei verletzt, ist es zwar die rechtmäßige, aber eben auch eine wenig wirksame Reaktion, die Ministerin lediglich zur Löschung des Aufrufs zu verpflichten (2 BvE 1/16). Was hier zu verbessern ist, darüber muss diskutiert werden. Ziel sollte sein, dass eine Verzerrung des politischen Wettbewerbs wieder ausgeglichen wird. Bei unzulässigen Äußerungen von Amtsträgern könnte man über ein Recht auf Gegendarstellung nachdenken.

In anderen Fällen liegt das Problem darin, dass Normen nicht durchgesetzt werden. So sollte der Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern, anders als jetzt, durch eine externe Instanz daraufhin überprüft werden, ob der Einsatz zulässig war oder nicht. An möglichen Sanktionen mangelt es hier nicht: Rechtswidrig gewährte Mittel können vom Abgeordneten zurückgefordert werden, zudem kann der rechtswidrige Einsatz der Mitarbeiter als Untreue nach § 266 StGB bestraft werden. Kommt der Einsatz der Mitarbeiter einer Partei zugute, können Strafzahlungen gegen letztere nach § 31c PartG festgesetzt werden. Was hier fehlt, sind wirksame Kontrollen.

Das Recht darf die Politik nicht alleine lassen mit der Spannung, die sich notwendigerweise aufbaut zwischen dem Streben nach politischem Erfolg, das heißt nach Macht, einerseits und der Forderung nach parteipolitischer Zurückhaltung, sobald ein Stück der Macht gewonnen ist, andererseits. Vielmehr muss das Recht hier wirksame Anreize setzen, sich nach den Regeln der politischen Chancengleichheit zu verhalten. Wahrscheinlich wird es sich dabei meist um negative Anreize handeln, also um angemessene Sanktionen, die glaubhaft angedroht und gleichmäßig verhängt werden.


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