30 July 2019

Mehr als Förmelei

Zur Richterwahl in Schleswig-Holstein und der Bedeutung von Verfahrensvorschriften

Eine politisch unbeeinflusste Auswahl von Richter_innen unter Einhaltung des dafür vorgesehenen Verfahrens ist notwendig, um eine unabhängige Justiz und die Glaubwürdigkeit des Rechtsstaats zu erhalten. Einerseits geht es hierbei um Fragen der Auswahlverfahren als solche, die etwa auf dem DJT 2020 Thema sein werden. Andererseits ist es notwendig, Verstöße gegen bestehende Verfahrensordnungen nicht als Kleinigkeit abzutun, damit die legitimierende Kraft der Richterwahl nicht geschwächt wird. Die Entwicklungen der letzten Jahre, insbesondere in Polen und Ungarn aber auch die Kammerentscheidung des EGMR in Bezug auf die nach nationalem Recht gesetzeswidrige Besetzung des isländischen Berufungsgerichts Landsréttur, führen die Bedeutung der Auswahlverfahren deutlich vor Augen. Ein Fall aus Schleswig-Holstein gibt nun Anlass, auch vor der eigenen Haustür zu kehren.

Wie sich der Richterwahlausschuss zusammensetzt…

Der schleswig-holsteinische Landtag hat nach Beginn seiner Legislaturperiode Anfang Juni 2017 den nach der Landesverfassung (Art. 50 II LV-SH) und dem Landesrichtergesetz (§§ 10 ff. RiG-SH) vorgesehenen Richterwahlausschuss besetzt. Dieser Ausschuss ist zuständig für die Ernennung von Richterinnen und Richtern auf Lebenszeit, deren Beförderung sowie Versetzung und trifft diese Personalentscheidungen gemeinsam mit dem Justizministerium. Der Richterwahlausschuss besteht aus vom Landtag zu wählenden Mitgliedern, die aus verschiedenen Gruppen stammen. In seiner regulären Besetzung sind das acht Mitglieder aus dem Kreis der Landtagsabgeordneten, für die jeweils eine Vertreterin oder ein Vertreter aus demselben Kreis bestellt wird. Des Weiteren werden auch zwei richterliche Mitglieder mit ständigem Mandat und für jeden Gerichtszweig, für den eine Richterwahl stattfindet, ein nichtständiges, richterliches Mitglied gewählt sowie schließlich ein Mitglied aus der Anwaltschaft. Für die weiteren Mitglieder wird ebenfalls je eine Vertreterin oder ein Vertreter durch Wahl bestellt. Bei Personalentscheidungen in der Arbeits- oder Sozialgerichtsbarkeit wird die Zusammensetzung des Richterwahlausschusses noch erweitert.

Die zu wählenden Ausschussmitglieder aus der Gruppe der Landtagsabgeordneten werden ihrer Stärke entsprechend von den Fraktionen vorgeschlagen. Damit wird die Spiegelbildlichkeit des Ausschusses zum Parlament gewahrt. Ob dieses Verfahren aus der Sicht der polnischen Erfahrungen mit der Richterernennung unter Parlamentseinfluss überprüfungsbedürftig sein könnte, soll hier nicht näher untersucht werden. Hier geht es vielmehr um die Einhaltung der geltenden Verfahrensvorschriften. Anders als in den parlamentarischen Arbeitsausschüssen, sind die Mitglieder des Richterwahlausschusses vom Landtag immerhin mit Zweidrittelmehrheit zu wählen (Mitglieder des polnischen Justizrats, der seinerseits für die Auswahl von Richter_innen zuständig ist, sind nach der Reform mit 3/5 Mehrheit zu wählen) und werden nicht von den Fraktionen entsandt. Die Mitglieder erfahren so eine starke demokratische Legitimation auf überparteilicher Grundlage.

Im Dezember 2018 wurde die auf den Vorschlag der AfD-Fraktion in den Ausschuss gewählte Vertreterin, Doris von Sayn-Wittgenstein, von der AfD-Fraktion aus der Fraktion ausgeschlossen. Sie legte daraufhin ihre Mitgliedschaft im Richterwahlausschuss nieder; ihr Platz wurde vakant. Eine Nachwahl ihres bisherigen Vertreters Claus Schaffer (ebenfalls AfD) durch den Landtag scheiterte im Mai 2019 – mutmaßlich aus parteipolitischen Vorbehalten – an den Stimmen der SPD. Auf der nächsten anstehenden Sitzung des Richterwahlausschusses wurde Claus Schaffer dann von der dem Ausschuss vorsitzenden Justizministerin als Vertreter der ausgeschiedenen Doris von Sayn-Wittgenstein geladen und nahm an der Beratung und Abstimmung teil. Auf dieser Sitzung wurde unter anderem über eine Vorsitzendenstelle am schleswig-holsteinischen OVG entschieden. Dabei waren zwei Bewerbungen unterlegen; dieses Vorgehen sorgt nun für eine Konkurrentenklage.

…und wie sich der Richterwahlausschuss nicht zusammensetzt

Inwiefern ist das Vorgehen, den Stellvertreter für ein ausgeschiedenes Mitglied agieren zu lassen nun problematisch? Dieses Vorgehen klingt doch logisch! Bei genauerem Hinsehen ist es das aber nicht. Die Vertretungsfälle sind in § 18 II RiG-SH geregelt. In § 18 RiG-SH heißt es:

„(1) In den Fällen des § 16 Abs. 1 bis 3 hat der Landtag unverzüglich eine Ersatzwahl vorzunehmen. Die Ersatzwahl erfolgt für Mitglieder nach § 11 Abs. 1 Nr. 1 und 2 aufgrund neuer Vorschläge aus der Mitte des Landtages, für ein Mitglied nach § 11 Abs. 1 Nr. 3 bis 6 aus den für die letzte Wahl eingereichten Vorschlagslisten. Ist die bestehende Vorschlagsliste erschöpft oder wählt der Landtag die noch auf der Vorschlagsliste stehenden Personen nicht, so sind unverzüglich neue Wahlvorschläge nach § 14 einzuholen.

(2) Ist ein Mitglied des Richterwahlausschusses an der Ausübung seines Amtes verhindert oder von der Mitwirkung ausgeschlossen oder ruht seine Mitgliedschaft, so tritt die Vertreterin oder der Vertreter für die Dauer der Verhinderung, des Ausschlusses oder des Ruhens der Mitgliedschaft an seine Stelle. Die Verhinderung ist dem Ministerium für Justiz, Europa, Verbraucherschutz und Gleichstellung rechtzeitig anzuzeigen.“

Die Vorschrift zählt in Absatz 2 als Vertretungsfälle enumerativ die Verhinderung der Ausübung des Amtes, den Ausschluss von der Mitwirkung nach § 17 RiG-SH und das Ruhen des Amtes nach § 16 IV RiG-SH auf. Sofern man die Amtsniederlegung nach § 17 I Nr. 2 RiG-SH, welches vom Gesetz als „Erlöschen der Mitgliedschaft“ bezeichnet wird, nicht als die stärkste Form der „Ausübungsverhinderung“ verstehen will, fehlt das Erlöschen der Mitgliedschaft in den Vertretungsfällen des § 18 II RiG-SH. Bewusster Verzicht oder vielleicht ein redaktionelles Versehen des Gesetzgebers? Kann dieses Problem durch Analogie des § 18 II 1 RiG-SH behoben werden? Diese einfache Lösung, wie sie offenbar von einigen Mitgliedern des Ausschusses und dem Justizministerium vertreten wird, setzt aber eine planwidrige Regelungslücke voraus. An dieser dürfte es – ohne die gesamten Materialien zum Landesrichtergesetz gesichtet zu haben – fehlen.

Erstes Indiz ist der Wortlaut. § 18 II 1 RiG-SH ist in seinem ersten Halbsatz (Aufzählung der Vertretungsfälle im Tatbestand) mit dem des darauffolgenden Halbsatzes (Eintreten des Vertreters bei erneuter Aufzählung der Vertretungsfälle in der Rechtsfolge) kongruent. Man müsste also schon ein doppeltes Redaktionsversehen annehmen. Aus der Vorschrift wird aber auch deutlich, dass die Vertretung nur für einen vorübergehenden Ausfall des konkret Vertretenen und nicht einen dauerhaften sein soll. Für den Fall des Erlöschens sieht das Landesrichtergesetz dagegen ein anderes Vorgehen vor. Der Landtag hat nach § 18 I RiG-SH im Falle des Erlöschens der Mitgliedschaft eine unverzügliche Ersatzwahl vorzunehmen, wobei die Vorschläge für die Abgeordnetenplätze im Ausschuss aus der Mitte des Landtages hervorgehen. Damit ist das Argument unzutreffend, der Gesetzgeber habe es übersehen, für den Fall der Stellvertretung im Falle des Erlöschens der Mitgliedschaft eine Regelung zu schaffen. Stattdessen wurde die schnelle Nachwahl vorgesehen. Die Anforderungen an eine Ersatzwahl sind im Vergleich zur Erstwahl nach § 12 I, II RiG-SH sogar deutlich gesenkt (anstelle von Fraktionsvorschlägen nun eine Wahl aus der Mitte des Landtags heraus). Auch ein Vergleich mit den Nachwahlen beim Ausscheiden der weiteren Mitglieder zeigt, dass das Verfahren möglichst schnell durchgeführt werden soll. Kurz: Das Gesetz ist auf eine schnellstmögliche – eben unverzügliche – Nachwahl ausgelegt. Eine rechtzeitige Nachwahl für einen Ausschuss, der nur drei- bis viermal im Jahr zusammentritt, ist unter diesen Voraussetzungen nicht zu viel verlangt. Daher hätte der Landtag diese Nachwahl herbeiführen müssen und auch können. Dieser Pflicht entsprach er aber nicht. Einen Grund, einen Vertretungsfall anzunehmen, besteht deshalb aber nicht.

Nicht nur ein „stummer Beobachter“

Damit hätte der Vertreter Schaffer nicht an der Sitzung und Abstimmung teilnehmen dürfen. Dies führt zu unangenehmen Folgeproblemen: Nicht nur durfte seine Stimme nicht gezählt werden. Die unzulässige Teilnahme dürfte auch ein Verstoß gegen das Nichtöffentlichkeitsprinzip des Ausschusses bei den Beratungen und Abstimmungen nach § 21 I aber vor allem II 2 RiG-SH sein. Dieser Verfahrensfehler allein dürfte zur Rechtswidrigkeit der gesamten Auswahlentscheidung führen. Zu einem solchen Schluss kam das OVG Schleswig bereits 2000 (Beschl. v. 13.09.2000 – 3 M 12/00 = NJW-RR 2001, 854), als an einer Sitzung des Richterwahlausschusses ein nichtständiges richterliches Mitglied, welches zu einem späteren TOP geladen war, als „stummer Beobachter“ teilgenommen hatte. Diese Entscheidung erscheint ohne weiteres auf diesen Fall übertragbar. Schaffer nahm nicht nur als Beobachter, sondern sogar an der Abstimmung teil. Die Konkurrentenklagen dürften allein aus diesem Grund Erfolg haben, völlig unabhängig davon, ob der Richterwahlausschuss letztlich eine materiell korrekte Entscheidung getroffen und die am besten geeignete Bewerbung ausgewählt hat.

Glück im Unglück: Die Sache ist jetzt da wo sie hingehört – zur Klärung bei der Justiz. Der Verfahrensfehler, so klein er auch von Außenstehenden wie Beteiligten gesehen werden mag, wird – zumindest in dem nunmehr rechtshängig gewordenen Fall – benannt und bereinigt werden können. Damit bekommt die Sache nicht die Brisanz des eingangs genannten isländischen Falls. Dennoch macht er deutlich, wie wichtig die Einhaltung des mitunter als unnötige Förmelei empfundenen Verfahrens ist. Ein korrumpierter Wahlakt ist in seiner Legitimationsvermittlung für die Richter_innen eingeschränkt, egal wie klein der Verstoß sein mag. Die Förmlichkeit des Verfahrens besteht nicht um ihrer selbst Willen, sondern um den Rechtsstaat zu schützen.


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