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21 December 2014

Mehr Offenheit wagen! Eine kritische Annäherung an das Gutachten des EuGH zum EMRK-Beitritt  

So viel scheint sicher: Der 18. Dezember 2014 wird nicht als Ruhmestag europäischen Menschenrechtsschutzes in die Geschichte eingehen. In ungewöhnlich rigoroser Weise hat der EuGH dem Beitritt der Union zur EMRK einen Riegel vorgeschoben und sich hinter einem Bollwerk unionaler Autonomie verschanzt.

Der Entwurf des Beitrittsabkommens sei, so das Ergebnis des Gutachtens 2/13, in wesentlichen Punkten mit primärem Unionsrecht, also den Gründungsverträgen zur EU einschließlich der Protokolle, unvereinbar. Die technische Komplexität des Gutachtens ist bereits mehrfach hervorgehoben worden – in diesem Blog und andernorts. Auch Generalanwältin Juliane Kokott weist in ihrer Stellungnahme vom 13. Juni 2014 einleitend auf den sprichwörtlichen Teufel im Detail hin.

Die Beantwortung der durch den Beitritt aufgeworfenen Rechtsfragen fällt nicht allein deshalb schwer, weil die inter-institutionellen Verhältnisse im Mehrebenensystem der EU bereits für sich genommen intrikat sind. Es fehlt vor allem an historischen Vorbildern und Erfahrungswerten, wie eine supranationale Organisation in ein regionales Menschenrechtsschutzsystem eingebunden werden kann. Die zahlreichen Einzelaspekte lassen sich aber letztlich in einer zentralen Frage bündeln: Wie kann die EU einer externen Menschenrechtskontrolle unterworfen werden, die einerseits effektiv ist, andererseits aber die Zuständigkeiten der Union sowie die Befugnisse ihrer Organe unberührt lässt und die Eigenheiten des Unionsrechts hinreichend wahrt?

Gutachten und Stellungnahme: Zwei Welten

Die Europäische Kommission, im Gesamtergebnis gestützt durch die Mitgliedstaaten, meinte nicht zu Unrecht mit dem mühsam ausgehandelten Abkommensentwurf einen Weg gefunden zu haben, der diese gegenläufigen Anforderungen hinreichend miteinander in Einklang bringt. Dem widersprach die Generalanwältin zwar in mehreren Punkten, sah den Entwurf aber zumindest als im Wesentlichen unionsrechtsmäßig an. Konkret stellte sie die Primärrechtskonformität unter die Bedingung punktueller Modifikationen des in Art. 3 des Entwurfs verankerten prozeduralen Herzstücks – d.h. des Mitbeschwerdemechanismus, eingedenk des an ihn gekoppelten Vorabbefassungsverfahrens sowie des Grundsatzes der gemeinsamen Haftung von Union und Mitgliedstaaten. Bereits die scheinbar technischen Forderungen der Generalanwältin wären in einer neuen Straßburger Verhandlungsrunde keineswegs Selbstläufer. Man denke nur an das derzeitige außenpolitische Verhältnis zu Russland. Sie erschienen aber wohl zumindest mittelfristig durchsetzbar, nicht zuletzt weil durch sie keine nachteiligen Auswirkungen auf Nicht-EU-Staaten entstünden.

Das nunmehr vorgelegte Gutachten des EuGH geht indes weit über die Konditionen der Generalanwältin hinaus. Zusätzlich zu den bereits erwähnten Aspekten stellt der Gerichtshof folgende, durch eine Anpassung des Abkommensentwurfs umzusetzende (!) Voraussetzungen auf: die Einhegung des bislang nicht in Kraft getretenen 16. Zusatzprotokolls im Verhältnis zum Vorabentscheidungsverfahren; eine in ihren Konturen weitgehend unklare „Koordinierung“ der Schutzniveauklauseln beider Rechtsordnungen (Art. 53 EMRK, Art. 53 GRCh); einen ausdrücklichen Ausschluss, den EGMR mit innerunionalen Rechtsstreitigkeiten im Anwendungsbereich des Unionsrechts befassen zu können; schließlich eine nicht näher umrissene Vorkehrung gegen die Aushöhlung des gegenseitigen Vertrauens im Raum der Freiheit der Sicherheit und des Rechts. Auch verstoße der Entwurf gegen Unionsrecht, soweit die gerichtliche Kontrolle im Bereich der GASP ausschließlich dem EGMR anvertraut werde.

Die Voraussetzungen für eine Unterwerfung der EU unter die Jurisdiktion des EGMR sind damit denkbar hoch gesteckt. Es entsteht das Bild eines Gerichtshofes, der seine Kontrollkompetenzen argwöhnisch und unnachgiebig selbst gegenüber einem externen Menschenrechtsorgan abzuschirmen versucht und einen Zugriff desselben selbst dort glaubt verhindern zu müssen, wo sein eigener Arm nicht hinreicht. Dabei scheint der Gerichtshof billigend in Kauf zu nehmen, den primärrechtlich vorgegebenen Beitritt der Union abermals über einen längeren Zeitraum hinweg zu blockieren und die menschenrechtliche Glaubwürdigkeit der Union extern wie intern zu beschädigen.

Ein Bollwerk unionaler Autonomie

Substanzielles Leitmotiv der Entscheidung ist die Wahrung der Autonomie des Unionsrechts sowie der Zuständigkeiten des Gerichtshofes. Beides steht in enger Wechselwirkung, dient das Auslegungs- und Normverwerfungsmonopols des EuGH doch gerade dem unionalen Autonomieschutz.

In geradezu schulbuchmäßiger Weise wiederholt der EuGH zunächst die großen Linien seiner Rechtsprechung zum normativen Selbststand des Unionsrechts. In bislang kaum gekannter Weise arbeitet das Gutachten die verfassungsrechtlichen Dimensionen des Unionsrechts heraus. Diese Passagen können als stolzes Zeugnis dessen gelten, was in mehreren Jahrzehnten europäischer Integration Stück für Stück aufgebaut und erkämpft wurde – gegen viel Widerstand von innen wie von außen. Der EuGH macht zu Recht deutlich: diese Errungenschaften dürfen nicht einfach preisgegeben werden. In der Folge schlägt die Argumentation des Gerichtshofs dann aber in eine reflexhaft anmutende Verteidigungshaltung um, die nicht mehr nach Sinn und Zweck zu differenzieren weiß und im Ergebnis weit über das Ziel hinausschießt. Die Verteidigung der supranationalen Autonomie durch den EuGH erinnert hier nicht selten an die Verteidigung der souveränen Staatlichkeit durch nationale Verfassungsgerichte. Sie sendet insoweit ein fatales Signal.

In der Gesamtschau offenbart die Argumentation ein tiefsitzendes Unbehagen gegenüber dem Instrument einer externen Menschenrechtskontrolle. Freilich muss differenziert werden. Einerseits trifft das Primärrecht in Art. 6 Abs. 2 EUV sowie dem Beitrittsprotokoll ausdrückliche Vorgaben zum Schutz der Eigenart der Union und ihrer Rechtsordnung. Im Kern geht es darum zu verhindern, dass der Straßburger EGMR nicht verbindlich über die unionsinterne Kompetenzverteilung oder die Auslegung bzw. Gültigkeit von Unionsrecht entscheidet. Andererseits ist es gerade die ureigenste Funktion einer externen Kontrolle durch den EGMR, „autonome“ Handlungen und Unterlassungen der Vertragsparteien am Maßstab der EMRK zu prüfen. Dies setzt, wie auch die Generalanwältin betont, nicht selten bereits per definitionem eine Würdigung interner Rechtsakte voraus, z.B. wenn das prüfungsgegenständliche System auf seine Vereinbarkeit mit verfahrensrechtlichen Mindeststandards hin untersucht wird (Art. 6 EMRK). Der Beitritt der EU zur EMRK weist also bereits durch die Zielstellung der externen Kontrolle einen grundlegenden Unterschied zu den klassischen Fallkonstellationen auf, in denen der EuGH seine ausschließliche Rechtsprechungskompetenz gegenüber anderen Gerichten abgeschirmt hat – sei es gegenüber dem Versuch, außervertraglich Spruchkörper für Spezialfelder zu kreieren, sei es gegenüber der Einrichtung von Zwischenverfahren vor nationalen Verfassungsgerichten. Damit ist das Spannungsfeld vermessen.

Mitbeschwerdemechanismus, Vorabbefassung und Ko-Verantwortlichkeit

Innerhalb dieses Spannungsfeldes kann freilich trefflich darüber gestritten werden, ob der Mechanismus des Mitbeschwerdegegners einschließlich des Vorabbefassungsverfahrens und des Grundsatzes gemeinsamer Verantwortung den Vorgaben des Primärrechts hinreichend genügt. Mehrere dieser Fragen waren bereits Gegenstand eingehender (odyseeischer) Diskussionen auf diesem Blog, insbesondere die Engführung des Mitbeschwerdemechanismus auf Gültigkeitsfragen, die Plausibilitätskontrolle durch den EGMR sowie die Frage der Informationspflichten (s. den Blogbeitrag von Daniel Thym mit Erwiderungen von Martin Breuer und Thomas Streinz). Die ausgetauschten Argumente bedürfen an dieser Stelle keiner Wiederholung, zumal Tobias Lock die betreffenden Fragen mit Blick auf das Gutachten aufgegriffen hat und ich seiner Analyse in ganz weiten Teilen zustimme.

Nur so viel: Ich halte die von Generalanwältin und EuGH benannten Konditionen in Bezug auf Art. 3 des Abkommensentwurfs für wünschenswerte Klarstellungen und Effektivierungen, nicht jedoch für eine rechtliche Grundbedingung des Beitritts. Anders gesagt, ihre fehlende Berücksichtigung im Beitrittsabkommen macht den Beitritt nicht rechtswidrig. So gleicht insbesondere das Vorabbefassungsverfahren letztlich eine unionsinterne Pathologie aus, die in der Missachtung der letztinstanzlichen Vorlagepflicht (Art. 267 Abs. 3 AEUV) liegt. Es wäre zweifelsohne wünschenswert, würde die Vorabbefassung des EuGH in der ersten Variante des Mitbeschwerdemechanismus (EU ist Mitbeschwerdegegner) nicht auf Gültigkeitskonstellationen beschränkt bleiben. Dann könnte der EuGH auch in den alltäglicheren Fallgestaltungen der Konformauslegung, in denen das Unionsrecht den Mitgliedstaaten einen Spielraum belässt, noch vor dem EGMR zu Wort kommen.

Die fehlende Erstreckung der Vorabbefassung auf diese Konstellationen macht den Beitritt aber meines Erachtens nicht rechtswidrig. Denn die Missachtung der Vorlagepflicht, in Folge derer die externe Kontrolle überhaupt erst zeitlich vor die interne geraten kann, bleibt ihrem Ursprung nach ein unionsintern und gerade nicht durch den Beitritt hervorgerufenes Problem. Das die externe Kontrolle einführende völkerrechtliche Abkommen kann nicht deswegen als rechtswidrig betrachtet werden, weil es die – bereits heute existierenden – unionsinternen Defizite in der Effektivierung der Vorlagepflicht nicht allumfassend eindämmt. Sähe man dies anders, müsste man bereits die geltende Rechtslage als partiell unionsrechtswidrig betrachten. Eine Kontrollfrage mag dies verdeutlichen: Wird die Autonomie des Unionsrechts durch den Status der EU-Mitgliedstaaten als Vertragsstaaten der EMRK bereits heute verletzt, wenn der EGMR im Rahmen einer gegen einen EU-Mitgliedstaat gerichteten Individualbeschwerde eine implizite Auslegung des Unionsrechts vornimmt (wie in M.S.S. in Bezug auf Art. 3 Abs. 2 der Dublin-II-VO), bevor der EuGH selbst die betreffende Vorschrift des Unionsrechts auslegen kann (wie zeitlich nachfolgend in N.S.)?

Auch die fraglos wünschenswerte Forderung nach systematischer Information durch den EGMR, die mit paternalistischer Freundlichkeit gegenüber dem EGMR erhoben wird, kann unionsintern umgesetzt werden, nämlich über den Grundsatz loyaler Zusammenarbeit sowie einen diesen ggf. konkretisierenden internen Rechtsakt. Dementsprechend wären die Mitgliedstaaten im Falle des Beitritts zur umfassenden Information der Union verpflichtet, damit diese ihre Rechte aus dem Mitbeschwerdemechanismus effektiv geltend machen kann. Dass der EGMR nach dem Entwurf im Übrigen zumindest eine Plausibilitätskontrolle über die Voraussetzungen des Mitbeschwerdemechanismus mit stark zurückgenommener Kontrolldichte vornimmt, lässt sich zudem mit Blick auf seine Stellung als Herr des Verfahrens erklären. Jenseits des Mitbeschwerdemechanismus steht für die EU zudem stets die Möglichkeit einer Drittbeteiligung bereit (Art. 36 Abs. 2 EMRK) – sowohl vor als auch nach dem Beitritt.

Letztlich bleibt es aber dabei: Über die Aspekte rund um Art. 3 des Entwurfs kann man sich mit guten Argumenten auf beiden Seiten streiten. Indes vermögen die Argumente des Gerichtshofs zu den übrigen Bestandteilen seiner Mängelliste bereits im Ansatz nicht zu verfangen. Dies zeigt nicht zuletzt ein Abgleich zwischen dem EuGH-Gutachten und der Stellungnahme der Generalanwältin.

ZP 16 und Art. 344 AEUV

Mit Blick auf das noch nicht in Kraft getretene 16. Zusatzprotokoll zur EMRK (freiwilliges Gutachtenverfahren für nationale Obergerichte vor dem EGMR ohne Bindungswirkung) hat Thomas Streinz in diesem Blog bereits zutreffend festgestellt, dass auch hier das Beitrittsabkommen nicht völkerrechtlich regeln muss, was bereits unionsrechtlich verboten ist, nämlich eine Umgehung von Art. 267 Abs. 3 AEUV. Dem ist nichts hinzuzufügen. Insoweit geht die Forderung des EuGH nach einer Anpassung des Entwurfs ins Leere. Zutreffend rückt auch die Generalanwältin hier die letztinstanzliche Vorlagepflicht ins Zentrum. Zur Lösung des Problems einer potenziellen Vorlagekonkurrenz, die infolge des ZP 16 im Übrigen auch unabhängig vom Beitritt entstehen kann, genüge bereits „ein Hinweis auf Art. 267 Abs. 3 AEUV“ (Rn. 141).

Ein strukturell vergleichbares Argument gilt für die Befürchtung des EuGH, dass der Abkommensentwurf das innerunionale Streitbeilegungsmonopol des EuGH nach Art. 344 AEUV untergraben könne. Dies folgt dem EuGH zufolge daraus, dass der Entwurf nicht ausdrücklich die Möglichkeit ausschließe, dass Mitgliedstaaten oder Union auf die Staatenbeschwerde zurückgreifen, um einen unionsinternen Streit vor dem EGMR auszutragen. Auch hier genügt aber der Hinweis auf die unionsrechtlichen Verpflichtungen von Union und Mitgliedstaaten, die ggf. im Wege des Vertragsverletzungsverfahrens bzw. der Nichtigkeitsklage durchgesetzt werden können. Auch dies betont die Generalanwältin in wünschenswerter Klarheit. Flankiert wird dies durch Art. 5 des Abkommensentwurfs, der durch eine Durchbrechung von Art. 55 EMRK sicherstellt, dass die Erfüllung der unionsrechtlichen Pflichten durch Union und Mitgliedstaaten ihrerseits nicht gegen die EMRK verstößt.

Schutzniveauklauseln

Die Frage des Verhältnisses der beiden Schutzniveauklauseln (Art. 53 EMRK, Art. 53 GRCh) kommt in der Stellungnahme der Generalanwältin gar nicht erst vor. Anhand des Gutachtens wiederum lässt sich kaum erschließen, worin genau die Gefahr aus Sicht des EuGH eigentlich liegen soll. Letztlich geht aus dem Gutachten nur hervor, dass der Gerichtshof die den Mitgliedstaaten nach Art. 53 EMRK eingeräumte „Befugnis“ (EN power, FR faculté) zur Anwendung höherer Schutzstandards hinsichtlich derjenigen Charta-Rechte, welche EMRK-Rechten entsprechen, innerhalb bestimmter Grenzen halten möchte. Konkret geht es um die Grenzen, die der EuGH der parallelen Anwendbarkeit mehrerer Grundrechtsregime in Melloni gezogen hat und die der Sicherung von Vorrang, Wirksamkeit und Einheitlichkeit des Unionsrechts dienen sollen. Freilich krankt die ganze Debatte um hohe und niedrige Schutzstandards schon daran, dass die Bezugsgrößen von hoch und niedrig spätestens in multipolaren Grundrechtsverhältnissen verloren gehen. Die never ending story um Caroline von Monaco zwischen Karlsruhe und Straßburg zeigt dies nur zu deutlich. Rufe nach einer Korridorlösung, wie sie regelmäßig vom BVerfG erhoben werden, sind insoweit verständlich.

Da Art. 53 EMRK aber gerade keine Pflicht, sondern lediglich, wie die französische Sprachfassung am deutlichsten zum Ausdruck bringt, die Möglichkeit zur Anwendung eines höheren Schutzniveaus vorsieht, steht der Anwendung von Art. 53 GRCh einschließlich der Melloni-Grenzen a priori nichts entgegen. Der EuGH legt auch nicht dar, inwieweit Art. 53 EMRK etwas verbiete, was Art. 53 GRCh erlaube. Man kann spekulieren, dass dergleichen allenfalls dann der Fall wäre, wenn der Mindeststandard der EMRK über dem der GRCh läge und die Anwendung des höheren Schutzstandards der EMRK aus Sicht des Unionsrechts wiederum die Melloni-Grenzen verletzen würde. Das aber wäre gerade kein Fall der im Gutachten angesprochenen, durch Art. 53 EMRK eingeräumten „Befugnis“ der Vertragsstaaten, höhere Schutzstandards jenseits der EMRK anzuwenden. Zudem soll der Beitritt gerade verhindern, dass der Grundrechtsstandard der Union unter die Mindeststandards der EMRK sinkt. Dergleichen erscheint freilich schon wegen Art. 52 Abs. 3 GRCh in materieller Hinsicht weitgehend ausgeschlossen. Was also hat der EuGH gemeint? Das Gutachten gibt hier letztlich mehr Fragen auf als es Antworten bereithält. 

Gegenseitiges Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

Noch problematischer wird es, wenn der EuGH mit Blick auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (RFSR) das Fehlen von Vorkehrungen anmahnt, „um der Gefahr einer Beeinträchtigung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten im Unionsrecht zu begegnen“. Dabei geht es keineswegs allein um den Europäischen Haftbefehl. Eine Fallgruppe, die der EuGH hier sogar noch stärker im Blick haben dürfte, wie auch die Zitation zeigt, ist die innereuropäische Überstellung von Asylbewerbern auf Grundlage der „Dublin-II“- bzw. der „Dublin-III“-Verordnung. Unter bestimmten Voraussetzungen sieht der EGMR nämlich die EMRK als verletzt an, wenn ein Vertragsstaat einen Asylbewerber in einen anderen Vertragsstaat abschiebt, sofern dort die reale Gefahr einer erniedrigenden und menschenunwürdigen Behandlung besteht (insbesondere Urteil M.S.S.).

Diese Fallkonstellationen sind schwierig, weil sie aus menschenrechtlicher Perspektive letztlich eine Prognose durch den überstellenden Mitgliedstaates A erfordern, ob der betreffende Mitgliedstaat B die Mindestanforderungen der Konvention auch einhält. Die Mitgliedstaaten werden so gegenseitig zu Watchdogs. Umgekehrt geht das Unionsrecht aber von einer Vermutung aus, dass die EU-Mitgliedstaaten die Menschenrechte grundsätzlich beachten. In seinem bereits erwähnten Urteil N.S. hat der EuGH einen Ausgleich zwischen dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens und der Straßburger Rechtsprechung herzustellen versucht, die er zugleich rezipierte: Die grundsätzliche Vermutung grundrechtskonformen Verhaltens sah er in Fällen systemischer Mängel des Asylsystems als widerlegt an. Diese Rechtsprechung ist mittlerweile auch in der Dublin-III-VO kodifiziert. Während die Luxemburger und Straßburger Rechtsprechungslinien damit weitgehend „koordiniert“ erschienen, hat das jüngst in der Rechtssache Tarakhel von der Großen Kammer des EGMR verkündete Urteil aber für erhebliche Rechtsunsicherheit gesorgt. Denn darin fordert der EGMR für die Überstellung bestimmter Personengruppen nach Italien nunmehr, dass der überstellende Staat A vom Zielstaat B individuelle Garantien über eine angemessene Unterbringung einholt.

Dieses EGMR-Urteil lädt zweifellos in mehreren Punkten zu kritischen Fragen ein. Für den vorliegenden Kontext einzig von Relevanz ist jedoch, dass der hier offen zutage tretende Konflikt mit dem Unionsrecht auf eine materiell-rechtliche Divergenz zwischen EMRK und Unionsrecht zurückgeht. Dies aber lässt sich durch den Abkommensentwurf nicht auflösen. Solche Konflikte sind geradezu die naturgemäße Folge einer (insoweit auch heute schon existierenden) externen Kontrolle. Man mag den Ansatz des EGMR gut oder schlecht finden. Die entscheidende Frage ist eine andere: Wie soll der unionsrechtliche Grundsatz gegenseitigen Vertrauens geschützt werden, ohne den besonders grundrechtssensiblen Bereich des RFSR zumindest partiell einer Menschenrechtskontrolle zu entziehen? Der EuGH gibt hier keine befriedigende Antwort. Dies scheint auch der Sache nach nicht möglich. Denn es kann nicht im Sinne einer effektiven Menschenrechtskontrolle sein, einen wie auch immer gearteten Kontrollausschluss in einem der grundrechtssensibelsten Bereiche des Unionsrechts schlechthin herbeizuführen.

GASP

Die ganze Verfahrenheit des ungezügelten Autonomieschutzes durch den EuGH zeigt sich schließlich im Umgang mit der GASP. Wenn hier überhaupt ein Problem besteht, dann der weitgehende Ausschluss gerichtlicher Kontrolle durch das Unionsrecht. Man kann sich mit der Generalanwältin fragen, ob die Union im Falle eines Beitritts hier die materiellen Mindestanforderungen von Art. 6 und 13 EMRK überhaupt erfüllen würde.

Der EuGH macht diese Not indes zur Tugend, wenn er ausführt, dass der Abkommensentwurf gegen die besonderen Merkmale des Unionsrechts verstoße, soweit er die gerichtliche Kontrolle im Rahmen der GASP ausschließlich einem unionsexternen Organ anvertraue. Anders gesagt, der EuGH schirmt diesen Bereich des Unionsrechts gegenüber der EMRK ab, ohne dass er selbst über ein Kontrollmonopol verfügte. Mit den Worten der Generalanwältin darf der EuGH aber gerade „im Rahmen der GASP nicht sein ansonsten anerkanntes Monopol für die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Tätigkeit der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union beanspruchen“ (Rn. 100). Die Konsequenz aus dem Gutachten wäre ein völliges Fehlen gerichtlicher Kontrolle durch ein europäisches Organ in weiten Teilen der GASP. Genau dort, wo der Beitritt aus Individualperspektive also einen substanziellen Zugewinn richterlicher Kontrolle mit sich brächte, optiert der EuGH für einen gänzlichen Ausschluss. Verkürzt: Lieber gar keiner als nur der EGMR. Das Autonomieargument entpuppt sich hier als eine nunmehr hohle Fassade.

Neuverhandlung oder Vertragsänderung? 

Wer über den geplanten Beitritt urteilt – sei es als Richter, Wissenschaftler oder interessierter Beobachter – vergisst vielleicht allzu schnell, welch bemerkenswerte Pionierleistung hinter einem Text wie dem Entwurf des Beitrittsabkommens steht. Gerade die Wissenschaft sollte sich selbstkritisch vergegenwärtigen, dass sie bis zur Vorlage des ersten Entwurfs im Jahre 2011 zu zahlreichen der darin adressierten Fragen nicht mehr als vornehmes Schweigen beigesteuert hatte.

Wie aber geht es nun weiter? In aller Regel wird auf die Wiederaufnahme der Verhandlungen hingewiesen. Dass die letzten Verhandlungen in einem in der Rückschau noch vergleichsweise günstig erscheinenden historischen Zeitfenster stattfanden, scheint vielerorts in Vergessenheit geraten zu sein. Aber selbst wenn es gelingen kann, Art. 3 des Entwurfs entsprechend der Vorgaben des EuGH anzupassen, darf es als höchst unwahrscheinlich gelten, dass die von Luxemburg darüber hinaus erhobenen Forderungen im Verhandlungswege durchsetzbar wären. Mehr noch, sie erscheinen im Kern auch nicht als wünschenswert.

Insoweit stellt sich die Frage, ob es nicht nunmehr an den Mitgliedstaaten liegt, den Weg für den EMRK-Beitritt durch eine Änderung des EUV freizumachen, – sei es auf Basis des jetzt verhandelten Abkommens, sei es in Kombination mit einem partiell nachverhandelten Entwurf. Das wäre freilich ein Affront gegenüber dem EuGH. Indes: Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es bekanntlich heraus.

Mehr Offenheit wagen!

In der Gesamtschau wirkt das Gutachten des EuGH zutiefst irritierend. Der EuGH opfert aus übertriebener Sorge um die (eigene) Autonomie auf lange Zeit den Beitritt zur EMRK. Er setzt sich damit, trotz aller Strukturverschiedenheit im Einzelnen, einem ähnlichen Vorwurf aus wie so manches Verfassungsgericht auf nationaler Ebene. Dies gilt unabhängig davon, dass der EuGH keinen der im mündlichen Teil des Gutachtenverfahrens diskutierten Identitäts- oder Ultra-vires-Prüfungsvorbehalte gegenüber dem EGMR formuliert hat. Die Verschlossenheit des EuGH gegenüber einer Kooperation von Gerichten werden nationale Verfassungsgerichte sehr genau registrieren, und so manches Argument des EuGH könnte demnächst aus einem nationalen Verfassungsgerichtsurteil gegen den EuGH gerichtet werden. Dem vertrauensvollen Gespräch zwischen den Gerichten im Europäischen Verfassungsverbund hat der EuGH damit einen Bärendienst erwiesen.

Es zeigt sich, dass die autolimitativen Verbundstrukturen im Unionsrecht nach wie vor in den Kinderschuhen stecken. Der EuGH sollte hierbei auf die stabilisierende Kraft des Rechts auch und gerade durch eine externe Kontrolle menschenrechtlicher Mindeststandards vertrauen. Man möchte ihm zurufen: Mehr Offenheit wagen!


6 Comments

  1. Franz Mayer Mon 22 Dec 2014 at 02:13 - Reply

    Mattias Wendel hat recht. Ein verheerendes Signal für den Menschenrechtsschutz in Europa. Aber auch ein Rückschlag für die Rechtsgemeinschaft in der EU, wenn eine Institution so offenkundig die eigene Macht über alles stellt. Für die Entscheidung über die Vorlage des BVerfG in Sachen OMT verheißt das nichts Gutes. Den EMRK-Beitritt der EU wird man nun wohl am zügigsten durch eine klarstellende Änderung des Primärrechts bewirken. Am besten durch Änderungen am Protokoll Nr. 8, was zusammen mit der ohnehin erforderlichen Zustimmung zum EMRK-Beitritt durch die Mitgliedstaaten (Art. 218 AEUV/als Vertragsstaaten der EMRK) ratifiziert werden könnte.
    Vielleicht sollte einstweilen der EGMR die bisher bestehende Privilegierung der EMRK-Bindung der EU nach der Bosphorus-Rechtsprechung überprüfen und betonen, dass es keine konventionsfreien Räume gibt. Auch nicht für den EuGH.

  2. EG Tue 23 Dec 2014 at 18:23 - Reply

    @Franz Mayer – inhaltlich stimme ich voll zu. Allerdings habe ich Zweifel, dass es so kommen wird. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die MSen “nur” [aus ihrer Sicht] wegen des Gutachtens das Primärrecht ändern werden. Das dauerte mindestens so lange, wie eine weitere Verhandlungsrunde. Außerdem ist der EMRK Beitritt für die (meisten) MSen nicht die erste Priorität. Vielmehr erwarte ich mir folgendes: die Verhandlungen werden einstweilen auf Eis gelegt und in ein paar Jahren wird wieder verhandelt.

  3. EG Tue 23 Dec 2014 at 18:30 - Reply

    @ Franz Mayer II – was Bosphorus anbelangt: wenn der EGMR nur ein wenig auf hält, wird er bosphorus mal nicht anwenden und die 28 MSen kollektiv verurteilen. Wünschenswert wäre es nicht im Bereich des RFSR (mss – das war nicht so geschickt, vor allem das Folgeurteil vor einem Monat und hat sicherlich für das Gutachten eine Rolle gespielt), sondern re Art 6 in einer Kernmaterie wie dem Kartellrecht. Wo Senator Lines eingestellt wurde anno 2003. sollte jetzt weitergemacht werden.

  4. […] in the Member States to have other courts before them; for the ECJ is a jealous court. As Mattias Wendel rightly concluded, some judges in Karlsruhe, Brno and elsewhere might be delighted to turn the […]

  5. Wolfgang Paul Sun 11 Jan 2015 at 21:33 - Reply

    Mich interessiert als Nicht-Jurist eigentlich nur der Menschenrechtsaspekt, der erscheint mir so fundamental bedeutend,
    dass mann ihn von anderen (außenpolitischen) Ballast komplett befreien sollte.

  6. […] und in diesem Urteil scheint sich so ziemlich die gesamte Fachwelt einig zu sein – nicht nur hier auf dem Verfassungsblog. Vielleicht gibt es ja jemanden, der mit dieser Entscheidung sympathisiert. […]

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