Menschenwürde im Gefängnis
Haftbedingungen, Verfahrensgrundrechte und das Bundesverfassungsgericht
Wer über Freiheitsentzug spricht oder entscheidet, kann über die Menschenwürde nicht schweigen. Letzte Woche hat das Bundesverfassungsgericht allerdings zwei Entscheidungen veröffentlicht, die nahelegen, dass deutsche Fachgerichte nicht immer sorgfältig mit der Menschenwürde von Gefangenen umgehen.
Rechtsschutz gegen menschenunwürdige Unterbringung
Anfang Dezember 2020 hat das Bundesverfassungsgericht innerhalb einer Woche gleich drei Entscheidungen im Zusammenhang mit Haftbedingungen getroffen. In dem ersten Beschluss ging es um die Haftbedingungen in rumänischen Haftanstalten, genauer um die Frage nach der Größe einer menschenwürdigen Unterbringung (dazu bereits Gärditz und Wendel). In den zwei aktuell veröffentlichten Entscheidungen waren zwar die Verfahrensgrundrechte Prüfungsgegenstand, die räumlichen Haftbedingungen deutscher Gefängnisse spielten aber zumindest mittelbar eine Rolle.
Erster Beschluss – Verstoß gegen Recht auf rechtliches Gehör und Willkürverbot
Im ersten Beschluss vom 8. Dezember 2020 (1 BvR 117/16) ging es um einen Haftraum mit doppelter Belegung und einer Größe von insgesamt 7,41 m² (nach behördlichen Angaben 8,98 m²). Die Toilette war mit einem Schamvorhang abgetrennt, eine Ablüftungsvorrichtung gab es nicht. Der Beschwerdeführer verbrachte ca. 1,5 Monate in diesem Haftraum, den er zwischen zwei und höchstens 4,5 Stunden am Tag verlassen durfte. In den letzten zwei Wochen konnte er im Rahmen einer anstaltseigenen Arbeit die Räume für täglich neun Stunden verlassen. Während der Doppelbelegung stellte der Beschwerdeführer zwei Anträge auf Unterbringung in einer Einzelzelle, nach seinem zweiten Antrag wurde sein Mitgefangener aus der Zelle hinausverlegt.
Der Beschwerdeführer stellte später einen Antrag auf Prozesskostenhilfe für eine Amtshaftungsklage wegen menschenunwürdiger Haftbedingungen. Das Landgericht Augsburg lehnte den Antrag ab und wies darauf hin, dass die Haftbedingungen nicht menschenunwürdig gewesen seien. Da nach obergerichtlich gefestigter Rechtsprechung bei einem Haftraum von weniger als 6-7 m² pro Gefangenem von einer Verletzung der Menschenwürde auszugehen sei, hob das Oberlandesgericht München den Beschluss auf und bewilligte Prozesskostenhilfe für eine Amtshaftungsklage auf 600 Euro als Entschädigungssumme. In seinem folgenden Endurteil wies das Landgericht jedoch die Geltendmachung der vom OLG bewilligten Summe zurück – und zwar wortlautgleich mit seinem vorher ergangenen Urteil in der Sache. Auch die Anhörungsrüge des Beschwerdeführers wurde zurückgewiesen.
Das Bundesverfassungsgericht sah in den Entscheidungen des Landgerichts Augsburg einen Verstoß gegen das Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG). Ein wortlautidentisches Endurteil wollte es nicht hinnehmen, die vorgelegten Beweise zu den Haftraummaßen seien zu Unrecht nicht berücksichtigt worden. Zur höchst bedenklichen Toilettensituation sei kein einziges Wort in den Urteilen des Landesgerichts zu finden. Das Landgericht habe die ständige Rechtsprechung des BVerfG, des EGMR sowie weiterer Obergerichte nicht ernsthaft herangezogen. Spätestens bei einer anteilig zur Verfügung stehenden Fläche von unter 4 m2 sollte die besonders intensive Prüfung nach Art. 3 EMRK (EGMR [GK], Nr. 7334/13, Rn 113 (2016)) aktiviert werden, so das Zwischenfazit aus Karlsruhe. Abschließend stellte das Bundesverfassungsgericht einen Verstoß gegen das Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) fest. Warum das Landgericht die von dem Beschwerdeführer vorgebrachte Rechtsprechung nicht berücksichtigt habe, sei schlichtweg nicht verständlich, in den Entscheidungen des Landesgerichts seien krass fehlerhafte Rechtsanwendungen vorzufinden.
Zweiter Beschluss – Verstoß gegen Rechtsschutzgleichheit
Für einen detaillierten Einblick in die Haftbedingungen lohnt es, sich auch den zweiten Beschluss vom 8. Dezember 2020 (1 BvR 149/16) genauer anzuschauen. Der Beschwerdeführer verbrachte etwa elf Monate mit einer zweimaligen Unterbrechung von insgesamt weniger als 20 Tagen in zwei identischen und jeweils doppelt belegten Hafträumen in Untersuchungshaft. Bei Haftantritt hatte er sich mit der Gemeinschaftsunterbringung schriftlich einverstanden erklärt. Die Hafträume waren je knapp 7,8 m² groß und in ihnen befand sich jeweils eine Toilette ohne separate Abluftvorrichtung. Die Hafträume wurden täglich eine Stunde und jeden zweiten Tag weitere drei Stunden aufgeschlossen. Drei Jahre nach der Untersuchungshaft stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf Prozesskostenhilfe und machte eine menschenunwürdige Unterbringung geltend. Er habe jegliche Privatsphäre verloren und der lange Einschluss in einem alternativen, kleinen Einzelhaftraum wäre jedenfalls unzumutbar gewesen. Das Landgericht Augsburg verweigerte die Prozesskostenhilfe mit dem Verweis auf mangelnde Erfolgsaussichten, zumal er der Unterbringung in die Gemeinschaftszelle zugestimmt und keinen Antrag auf Verlegung in einen – nach Auffassung des Landgerichts menschenwürdigen – Einzelhaftraum (mit einer Höchsttemperatur von 18 Grad Celsius und eingeschränktem Lichteinfall) gestellt habe. Diesmal stimmte das OLG München dem Landgericht zu: Der Amtshaftungsanspruch scheide aus, weil kein Verlegungsantrag auf einen zumutbaren Alternativraum gestellt worden sei.
Das Bundesverfassungsgericht gab sich damit nicht zufrieden und stellte einen Verstoß gegen die Rechtsschutzgleichheit (Art. 3 Abs. 1 iVm mit Art. 20 Abs. 3 GG) fest. Die Rechtsschutzgleichheit erfordere eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes. Bislang ungeklärte Rechts- und Tatfragen dürften nicht im Prozesskostenhilfeverfahren entschieden werden. Ob die Haftbedingungen menschenwürdig waren, ist im Einklang mit der bereits existierenden Rechtsprechung von einer „Gesamtschau der tatsächlichen, die Haftsituation bestimmenden Umstände abhängig“. Ob oder unter welchen Umständen auch eine anteilige Grundfläche von weniger als 6 m² pro Gefangenem den Anforderungen an die Menschenwürdegarantie genügen könne und welche Anforderungen an Auf- und Umschlusszeiten zu stellen seien, ist nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts judikativ noch nicht geklärt. Es gebe immerhin gefestigte Rechtsprechung zu der Mindestgröße unter Berücksichtigung der baulichen Ausstattung und Beschaffenheit einer mehrfach belegten Zelle, auch wenn sich die festgelegte Quadratmeterzahl unterscheide. Dennoch, bei der „Unterbringung des Beschwerdeführers […] in einer knapp 7,8 m2 großen doppelt belegten Zelle ohne baulich abgetrennte Toilette liegt nach den Maßstäben aller dieser obergerichtlichen Entscheidungen die Annahme einer menschenunwürdigen Unterbringung jedenfalls nicht fern“ (Rn. 20). Die Fachgerichte hätten außerdem keine rechtliche Würdigung der tatsächlichen Gesamtumstände vorgenommen, sondern direkt auf die Zustimmung des Beschwerdeführers abgestellt. Ob eine Einwilligung in eine menschenunwürdige Unterbringung wirksam sein kann, sei ebenfalls ungeklärt (Rn. 26).
Konsolidierung der Rechtsprechung zu menschenwürdigen Haftbedingungen
Mit diesen sorgfältigen Prüfungen bleibt das Bundesverfassungsgericht seiner strengen Rechtsprechungslinie zu menschenwürdigen Haftbedingungen treu. Auch Gefangenen kann die Menschenwürde nicht abgesprochen werden, egal wie schwer und unerträglich die (angelasteten) Straftaten gewesen sein mögen (2 BvR 539/80, 2BvR 612/80 (1983); 2 BvR 1146/85 (1986)). Deutlich wurde noch einmal die zentrale Bedeutung der Gesamtschau der Einzelheiten und Umstände in der Haft für eine Prüfung der Menschenwürdeverletzung.
Diese Detailfragen erinnern an das Urteil zum Asylbewerberleistungsgesetz, mit dem das Bundesverfassungsgericht ebenso die fehlende detaillierte Auseinandersetzung mit einem menschenwürdigen Dasein (hier das Existenzminimum durch den Gesetzgeber) rügte. Der programmatische Satz aus diesem Urteil „Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren“ genießt inzwischen den Status eines Lichtpunktes im Migrationsverfassungsrecht. Mutatis mutandis sollte für das Strafverfassungsrecht gelten: „Die Menschenwürde ist kriminalpolitisch nicht zu relativieren.“ Das Bundesverfassungsgericht fordert für die Beurteilung von menschenwürdigen Haftbedingungen eine Gesamtwürdigung zahlreicher Einzelheiten, die sich auch mit den European Prison Rules des Europarates decken (vgl. § 17 ff.).
Verzicht auf Menschenwürde?
Die Leichtigkeit, mit der das OLG München die Frage der Wirksamkeit einer Einwilligung zu menschenwürdiger Unterbringung vom Tisch wischt, ist besorgniserregend und erweckt den Eindruck, dass die bayerische Justiz gerne mal eine Menschenwürdeverletzung durchwinkt. Dem OLG München scheint jeglicher Bezug zum Wesen und der Realität des Strafens und des Strafvollzugs abzugehen, wenn es im Gefängnis eine Wahl zwischen mehreren „Zimmeroptionen“ mit unterschiedlichen Größen (und Ausblicken) fingiert. In der Kriminologie gelten Gefängnisse als „totale Institutionen“ (Goffman 1961, Asylums), in denen Grundrechtseinschränkungen, Entbehrungen und Härten den Alltag rigide strukturieren. Es ist in Erinnerung zu rufen, dass auch die Einschränkung der Grundrechte von Gefangenen einer Rechtsgrundlage bedarf (BVerfG, Beschl. 14.3.1972 – 2 BvR 41/71). Die Rechtsgrundlage für Bayern bildet § 207 BayStVollzG: „[D]ie Grundrechte auf Leben, körperliche Unversehrtheit und Freiheit der Person sowie das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis“ können eingeschränkt werden. Statt die Frage nach der Einwilligung in eine menschenunwürdige Unterbringung als „ungeklärt“ zurückzuverweisen (vermutlich weil hier nicht die Menschenwürde, sondern die Verletzung der Verfahrensgrundrechte geprüft wurden), hätte das Bundesverfassungsgericht per obiter dictum festhalten können, dass eine menschenwürdige Unterbringung im Strafvollzug nicht abwägbar ist, weshalb der Verzicht auf die Menschenwürde ausscheide (zum Verzicht auf die Menschenwürde BVerwG, Urt. v. 17.10.2000 – BverwG 2 WD 12/00, 13/00). Auch in Gefängnissen ist die Menschenwürde gemäß Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG zu achten und zu schützen.
Judikative Dissonanz zwischen München und Karlsruhe
Menschenunwürdige Haftbedingungen sind kein singulär bayerisches Phänomen. Die Entscheidungspraxis des Bundesverfassungsgerichts zeigt, dass deutschlandweit Gefangene immer wieder große Barrieren überwinden müssen, um menschenwürdige Haftbedingungen vor Gerichten durchzusetzen (z.B. BVerfG, Beschl. v. 22.03.2016 – 1 BvR 566/15; Beschl. v. 14.7.2015, 1 BvR 1332/14). Ebenso wenig sind menschenunwürdige Haftbedingungen nur ein deutsches Problem. Die Fülle der Rechtsprechung des EGMR und EuGH zeigt, dass in Europa nach wie vor Gefängnisse existieren, in denen schockierende, menschenunwürdige Unterbringungsbedingungen alles andere als eine Ausnahme sind. Besonders Rumänien steht in letzter Zeit dabei im Rampenlicht.
Dennoch fällt auf: Zwischen Karlsruhe und München herrscht seit einiger Zeit eine unübersehbare judikative Dissonanz. Im Zeitraum von 2016 bis 2020 hat das Bundesverfassungsgericht (2. und 3. Kammer des Ersten Senats) in insgesamt 12 Verfahren immer wieder die Entscheidungen bayerischer Gerichte mit einem Bezug zu menschenunwürdigen Haftbedingungen gerügt.
Außer in einem der beiden aktuellen Beschlüsse, in dem eine Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör und des Willkürverbots festgestellt wurde, stellte Karlsruhe bei den übrigen Entscheidungen jeweils eine Verletzung der Rechtsschutzgleichheit fest. Warum die bayerische Justiz die Verletzung der Menschenwürde so häufig nicht mit der notwendigen Sorgfalt prüft und diese faktisch in die Prüfung von der Gewährung von Prozesskostenhilfe vorverlagert und welche biases in den Entscheidungsfindungsprozess eingeflossen sein könnten, lässt sich mangels empirischer Erkenntnisse nicht sagen. Eine ausführliche rechtsempirische Fallforschung zu den Hintergründen der Fälle wäre hier sicher gewinnbringend. Nicht zuletzt wäre es auch rechtspolitisch nützlich, der Frage nachzugehen, ob sich in diesem „bayerischen Sonderweg“ die kritischen Vorhersagen aus der Strafrechtswissenschaft bei der Föderalismusreform bewahrheitet haben: 2006 warnten Dünkel und Schüler-Springorum vor einem „Wettbewerb der Schäbigkeit“ (ZfStrVo 2006, 145 ff.) bei einer Kompetenzübertragung des Strafvollzugsrechts an die Länder. Der Freistaat muss sich in diesem Wettbewerb offensichtlich nicht verstecken.
Recht und Ordnung
Nach § 2 BayStVollzG soll der Strafvollzug die „Gefangenen befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen“. Will der Freistaat seine rechtsstaatliche Glaubwürdigkeit nicht verlieren, muss er selbst die Grundrechte achten und schützen, insbesondere wenn er von seinen Gefangenen und Bürger:innen die Einhaltung von Recht und Ordnung einfordert. Einerseits regelmäßig Verfahrensgrundrechte zu verneinen und andererseits Resozialisierung einzufordern stellt kein glaubwürdiges Erziehungskonzept dar. Die Attestierung einer willkürlichen Rechtsanwendung wie im letzten bayerischen Verfahren sollte der Freistaat nutzen, um über die eigene Strafvollzugspolitik nachzudenken. Dienlich wäre sicherlich eine Orientierung an dem unausgesprochenen Grundsatz des Bundesverfassungsgerichts „Die Menschenwürde ist im Strafvollzug nicht zu relativieren“. Daraus folgt, dass mögliche Menschenwürdeverletzungen mit äußerster Sorgfalt zu prüfen sind und nicht in Prozesskostenhilfeverfahren vorverlagert werden.