29 December 2021

Much Ado about Nothing

Die Triage-Entscheidung des BVerfG ist eine einzige Enttäuschung

Mit zwei zentralen Ergebnissen der Triage-Entscheidung des BVerfG werden die meisten MitbürgerInnen gut leben können: (1) Menschen mit Behinderungen dürfen bei einer Triage nicht pauschal benachteiligt werden, und (2) eine Orientierung an der klinischen Erfolgsaussicht ist im Rahmen der Triage verfassungsrechtlich zulässig. Aber These (1) wendet sich gegen etwas, das niemand vorgehabt hat, und These (2) unterläuft ein zentrales Anliegen der Beschwerdeführer – ohne jede Begründung. Die Entscheidung ist daher – entgegen der freundlichen Aufnahme in der Politik und der wohlwollenden Besprechung von Hans-Georg Dederer (Keine Triage ohne gesetzliche Grundlage – Verfassungsblog) – eine einzige Enttäuschung und hilft auch in der Sache nicht weiter.

Der Auftrag zur Verhinderung der Benachteiligung von Menschen mit Behinderung

Dass das BVerfG aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG einen Auftrag des Gesetzgebers ableitet, Vorkehrungen gegen eine Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen bei Triageentscheidungen zu treffen, ist zunächst nachvollziehbar. Da das Gericht selbst der Meinung ist, dass sich dieser Schutzauftrag nur zu einer Handlungspflicht verdichtet, wenn das „Risiko (besteht), dass Menschen in einer Triage-Situation bei der Zuteilung intensivmedizinischer Behandlungsressourcen wegen einer Behinderung benachteiligt werden“ (Rn. 109), stellt sich die Frage, worin das Gericht denn nun „Anhaltspunkte“ (Rn. 110) erkennt, dass dieses Risiko hier besteht. Die Beschwerdeführer hatten insoweit auf die Empfehlungen und Stellungnahmen der medizinischen Fachgesellschaften und der Bundesärztekammer verwiesen, weil diese Dokumente auf die klinische Erfolgsaussicht der intensivmedizinischen Behandlung abstellen und relevante Vorerkrankungen und Einschränkungen in diesem Rahmen berücksichtigen wollten.((Die Antragsschrift ist zugänglich hier.)) Und tatsächlich: Das Abstellen auf die klinische Erfolgsaussicht kann nachteilig für diejenigen Patienten sein, deren Überlebenschancen bei der intensivmedizinischen Behandlung aufgrund einer einschlägigen Vorerkrankung geringer sind. Will man mit den knappen Behandlungsressourcen möglichst viele Patienten retten, müssen sie tendenziell zurücktreten.

Das BVerfG macht aber nun eine mehr als überraschende Wendung. Es muss selbst einräumen, dass in den kritisierten Empfehlungen und Stellungnahmen der Mediziner eine offene Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen nicht nur nicht vorgesehen ist, sondern ausdrücklich abgelehnt wird. Gleichzeitig betont das Gericht mehrfach, dass die klinische Erfolgsaussicht – „die Aussicht, die akute Erkrankung zu überleben“ – ein verfassungsrechtlich zulässiges Triagekriterium sei (Rn. 116, 118: „verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit“). Wo aber liegt dann noch ein Problem? Eine pauschale und ausdrückliche Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen will niemand, eine mittelbare Benachteiligung durch das Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht gerät in der Entscheidung gar nicht in den Blick. Das BVerfG sieht dieses Problem nun an einem ganz anderen Ort, nämlich bei den Ungewissheiten und Grauzonen der Anwendung der – in der Sache gar nicht zu kritisierenden – Kriterien (Rn. 110 ff.): Es gebe bei komplexen Entscheidungen immer auch „subjektive Momente“; die Lebenssituation und -qualität von Menschen mit Behinderungen werde oft falsch beurteilt; und möglicherweise werde eine Behinderung hier und da pauschal mit einer geringeren Überlebenswahrscheinlichkeit in Verbindung gebracht. Diese Unklarheiten und Ungewissheiten auf der Anwendungsebene, die von den Betroffenenvertretungen im Verfahren vorgetragen worden sind und die das BVerfG ausführlich zitiert, sind der Stein des Anstoßes, auf den der Gesetzgeber nun reagieren muss.

Das lässt den Leser doch recht ratlos zurück: Die von den Beschwerdeführern und vielen anderen mit guten Argumenten vorgetragene Position, der Gesetzgeber müsse schon nach den Grundsätzen des Vorbehalts des Gesetzes und der Wesentlichkeitstheorie die Triagekriterien regeln((Vgl. etwa Bockholdt, in: Schlegel/Meßling/Bockholdt, COVID-19 – Corona-Gesetzgebung – Gesundheit und Soziales, 2020, § 9 Rn. 138; Engländer/Zimmermann, NJW 2020, 1398, 1402; Fateh-Moghadam/Gutmann, https://staging.verfassungsblog.de/gleichheit-vor-der-triage/; Gärditz, ZfL 2020, 381, 384 ff.; Gelinsky, Brauchen wir ein Triage-Gesetz?, 2020; Kersten/Rixen, Der Verfassungsstaat in der Corona-Krise, 2020, 83; Lindner/Schlögl-Flierl, Triage bei COVID-19, 2020, 10 f.; Taupitz, MedR 2020, 440, 441 ff.)) – sie kommt beim BVerfG gar nicht vor! Auch die zentrale materielle Frage, ob das Abstellen auf die Erfolgsaussicht nicht immer diskriminierend, weil tendenziell nachteilig für Menschen im schlechteren Gesundheitszustand ist und deshalb nur ein zufallsgesteuertes Entscheidungsverfahren bei der Triage dem verfassungsrechtlichen Gleichheitsgebot entsprechen kann,((Vgl. Fateh-Moghadam/Gutmann, https://staging.verfassungsblog.de/gleichheit-vor-der-triage/; dies., in: Hörnle/Huster/Poscher (Hrsg.), Triage in der Pandemie, 2021, 291 ff.)) wird nicht einmal diskutiert, obwohl das Gericht ausdrücklich auch die hier einschlägige mittelbare Diskriminierung als von Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG erfasst sieht (Rn. 93)! Stattdessen geht das Gericht ohne jede Erläuterung oder gar Begründung davon aus, dass die klinische Erfolgsaussicht als Triagekriterium „verfassungsrechtlich unbedenklich“ sei. Es weicht dann auf die Beobachtung aus, dass überall Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderungen und mangelnde Sensibilität gegenüber ihrer Lebenssituation bestehen und deshalb auch eine sie benachteiligende Anwendung der Triagekriterien nicht ausgeschlossen werden könne. Das mag ja sein, aber ist das wirklich das verfassungsrechtliche Triage-Problem? Anstatt die verfassungsrechtlichen Grundfragen zu klären, verirrt sich das Gericht hier auf einen Nebenkriegsschauplatz.

Die Regelungsverpflichtung des Gesetzgebers

Dieser Missgriff wirkt sich dann auch auf die Regelungsverpflichtung des Gesetzgebers aus. Einige der Beschwerdeführer haben nach der Entscheidung in Presseinterviews frohlockt, nach dieser Entscheidung sei nur noch eine Zufallsentscheidung in der Triage zulässig. Nichts könnte falscher sein, denn das Gericht hat ja das umstrittene Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht – wenn auch ohne jede Begründung – mehrfach ausdrücklich bestätigt. Gewinner der Entscheidung sind daher in der Sache die medizinischen Fachgesellschaften, deren Empfehlungen genau dieses Kriterium verwenden – und deshalb in die Kritik der Behindertenverbände geraten waren. Verkehrte Welt: Eigentlich sind die Verfahrensgewinner die Verlierer, sie haben es nur noch nicht gemerkt.

Ebenso falsch ist die hier und da zu lesende Behauptung, der Gesetzgeber müsse nun die Triage gesetzlich regeln. Das BVerfG hält eine gesetzliche Regelung der Verteilungskriterien für möglich – ohne übrigens auf die Vorbehalte des Ethikrats und in der juristischen Literatur gegen eine inhaltliche gesetzliche Regelung einzugehen((Vgl. Deutscher Ethikrat, Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise, 2020, 4. So insbesondere auch Merkel/Augsberg, JZ 2020, 704 ff. Nur Letztere kommen beim BVerfG in Rn. 128 wenigstens noch als „kritisch“ vor.)) –, erwähnt sie aber eher kurz und verschämt (Rn. 128 am Anfang). Das ist wenigstens in sich konsequent: Denn gegen die inhaltlichen Kriterien, an denen sich die Ärzte orientieren wollen („klinische Erfolgsaussicht“), bestehen ja angeblich von vornherein keine verfassungsrechtlichen Bedenken, nur gegen ihre möglicherweise nicht hinreichend für die Belange von Menschen mit Behinderungen sensible Anwendung. Folgerichtig konzentrieren sich die Ausführungen des BVerfG zu den Regelungsoptionen auf Verfahrensfragen: Einführung des Mehraugen-Prinzips, Vorgaben für die Dokumentation, spezifische Vorgaben für die Aus- und Weiterbildung des intensivmedizinischen Personals (Rn. 128). Das haben die medizinischen Fachgesellschaften aber auch alles bereits vorgeschlagen und in unzähligen Fortbildungsveranstaltungen auch schon realisiert. Wo ist der verfassungsrechtliche Mehrwert, wenn das nun auch in einem Bundesgesetz stände? Rechtfertigt das die Herleitung einer verfassungsrechtlichen Handlungspflicht? Hätte es hier nicht viel näher gelegen, dem Gesetzgeber lediglich eine Beobachtungspflicht aufzugeben, ob die Intensivmediziner das vernünftig organisieren?

Fazit

Die Entscheidung spricht die zentralen verfassungsrechtlichen Fragen (Gesetzesvorbehalt, diskriminierender Gehalt des Kriteriums der klinischen Erfolgsaussicht) nicht einmal an und weicht stattdessen auf Anwendungsprobleme aus, die der Gesetzgeber nun auch nicht lösen kann. Dafür der ganze Aufwand? Weder verfassungsdogmatisch noch rechtspolitisch führt die Entscheidung daher weiter. Man darf nur hoffen, dass sie nicht viel kaputt macht, denn mit dem Ergebnis (Vermeidung einer pauschalen Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen bei gleichzeitiger Geltung des Kriteriums der klinischen Erfolgsaussicht) wird man irgendwie leben können. Das wirkt aber eher wie ein glücklicher Zufall, denn intellektuell gehört die Entscheidung zum Deprimierendsten, was man seit langer Zeit aus Karlsruhe lesen musste.


4 Comments

  1. Isabella Wed 29 Dec 2021 at 21:33 - Reply

    Sehr geehrter Prof. Huster,

    Wirklich Danke für diesen Kommentar. Ich als juristischer Laie hatte denselben Eindruck. Aber hätte mich natürlich nie getraut meine Kritik und Einschätzung zu äußern. Nun habe ich eine profunde Quelle, auf die ich verweisen kann, und über die ich nachdenken und andere Entscheidungsträger darauf aufmerksam machen kann.

  2. Heinz Müller-Heuwinkel Wed 29 Dec 2021 at 23:30 - Reply

    Das Gericht soll in erster Linie Rechtsschutz im Einzelfall gewähren. Das hat es getan. Es muss ja nicht jedes Mal ein verfassungsrechtliches Grundsatztraktat dabei herauskommen. Und was “Grundfrage” bzw. “Nebenkriegsschauplatz” ist, mag ein konkret betroffener Mensch mit Behinderung womöglich anders beurteilen als ein Rechtswissenschaftler, der allgemeinere Fragen geklärt sehen will. In diesem Sinne: Kopf hoch! :)

  3. Wilfried Robert Fuß Thu 30 Dec 2021 at 17:39 - Reply

    Zustimmung!
    Das BVerfG hatte über einen konkreten Fall (keineswegs „Nebenschauplatz“) zu entscheiden, hätte die Gelegenheit zur Aussage über die Kriterien natürlich dennoch nutzen können.

    Bitte erklären Sie mir, wie die von Ihnen geförderte „Beobachtungspflicht“ des Gesetzgebers aussehen soll? Wie soll diese als ausreichender Regelungsakt im Sinne des Wesentlichkeitstheorie ausgestaltet werden?

  4. Gerhard Pauli Thu 30 Dec 2021 at 17:49 - Reply

    Ich stimme dem Verf. zu. Der Gesetzgeber sollte nicht verpflichtet werden, theoretische Probleme zu lösen. Bislang ist kein Fall bekannt geworden, in welchem eine evidente Benachteiligung vorgelegen hat. Die medizinische Praxis hat offenbar bis jetzt vertretbare Lösungen gefunden. Eine gesetzliche Regelung wird Medizinerinnen und Mediziner absehbar verunsichern und im Endeffekt Steine statt Brot liefern.

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