Noch eine Chance für die Sozialdemokratie?
I. Die vermeintliche Achsenverschiebung
Es gibt eine neue Standarderzählung von der Ontologie des politischen Raums: Von der klassischen, seit dem frühen 19. Jahrhundert verbreiteten Unterscheidung rechts – links, – als direkter Vorläufer kann die Unterscheidung oben – unten zwischen Bergpartei und Gironde in der Großen Französischen Revolution gelten –, die sich spätestens seit dem Aufkommen sozialistischer Parteien primär an der Verteilungspolitik orientierte, hin zur vermeintlich neuen Polarisierung autoritär – liberal, festgemacht an vornehmlich kulturellen Fragen. Die Wahlforschung hält das als Zweiachsenprinzip schon seit Jahrzehnten fest. Oder auch, vorwiegend im neuen Jahrtausend verbreitet, hin zur Leitdifferenz offen – geschlossen, etwa in der Variante eines hegemonialen „apertistischen Liberalismus“ oder eines heranstürmenden Schließungspopulismus wie bei Andreas Reckwitz („Die Gesellschaft der Singularitäten“), mit dem Leitproblem der Globalisierung (Brexit, Trump).
Hierbei handelt es sich aber um einen falschen Gegensatz. Ihn hat schon Norberto Bobbio vor 25 Jahren in seinem maßgeblichen Werk „Rechts und Links“ verworfen: Die Freiheit – also die Essenz des Liberalen – ist eine Frage der politischen Methode (geht man extrem – oder gemäßigt vor?), die Gleichheit hingegen die Schibboleth-Frage des demokratischen Ziels. Das galt etwa für die Arbeiterbewegung, die außer einer Verteilungs- auch eine Anerkennungs- und Identitätsbewegung war. Es gibt nämlich keine Umverteilungspolitik ohne Anerkennungspolitik. Und umgekehrt!
So war denn auch die Neue Linke, der man den hier zu feiernden Ulrich K. Preuß zurechnen kann, ein sowohl soziales als auch kulturelles Projekt. Gleiches gilt für die enorme innere Vielfalt der Frauenbewegung. Oder das Problem des (Inter-)Nationalismus, eine besonders scharfe Variante von Verteilungspolitik. Denn die kulturell-zivilisatorisch stets wünschenswerte Weitung des Blicks erfordert keine Freihandelspolitik (liberal), sondern den Streit darum. Wie soll die Nord-Süd-Politik aussehen? Benötigen wir heute eine Präferenz für den Süden? So hat es auch Quinn Slobodian gerade wieder formuliert: Welche Globalisierung wir wollen, war immer die Frage. Nicht: ob überhaupt eine. Erst recht gilt für die Umweltpolitik als absolut prioritäre Querschnittsfrage unserer Zeit, als Frage des menschlichen Überlebens in den nächsten 50-100 Jahren: Sie war, ist und wird immer mehr nicht zuletzt – eine Verteilungsfrage.
II. Die unverminderte Bedeutung der Kategorie „links“
Damit ist noch nicht gesagt, dass gerade die nominelle Sozialdemokratie diese Verteilungsfragen aufwerfen wird. Sehr wohl allerdings eine ideelle Gesamt-Linke, die heute wieder enormen Zulauf hat und um deren Hegemonie es nicht so schlecht bestellt scheint.
Warum ist demgegenüber die SPD so in die Defensive geraten? An ihren Ideen liegt es vielleicht weniger, eher schon an Personal und Strategie.
Eine programmatische Zumutung freilich darf sie sich keinesfalls länger ersparen, und zwar die Umweltfrage als Randbedingung jeglicher tatsachengegründeter demokratischer Politik. Darin liegt nach entsprechender restloser Selbstaufklärung auch eine Chance. Denn gerade die planetarisch erzwungene Ressourcenverknappung bedingt Verteilungsprobleme. Das Wirtschaftswachstum taugt als Abfederung nicht länger, weil es gegenüber der jungen Generation unverantwortlich geworden ist. Bisher sollte Wachstum nicht zuletzt dazu dienen, Verteilungskonflikte abzumildern, weil man dadurch nicht an die „Substanz“ musste. Wie Jason Hickel und Giorgos Kallis kaum widerlegbar in ihrer Metastudie „Is green growth possible?“ gezeigt haben, verträgt sich auch ein „grünes“ Wachstum aber nicht mit nachhaltiger Ressourcenbewirtschaftung und dem Klimaschutz. Grünes Wachstum ist physikalisch unmöglich, wenn man nicht komplett unrealistische Innovationsannahmen zugrunde legt, die durch keinerlei Erfahrungswissen gestützt sind. Die Gleichheitsfrage stellt sich daher verschärft.
Ein Beispiel: die Mietenproblematik und Wohneigentumsverhältnisse. Nicht nachhaltiges, „normales“ Bauen ist hoch umweltschädlich. Die Folge müsste eigentlich sein: Wohnraum muss vor allem anders verteilt werden. Phantasievolle Verteilung und Umgestaltung des Bestehenden statt Wachstum wäre mithin das Gebot der Stunde.
Damit hängt eine weitere grundlegende Erkenntnis zusammen, die der SPD nicht zu ersparen ist. Die neue, weitenteils ökologisch determinierte Klassenfrage ist eine letztlich nur internationalistisch zu beantwortende (also eigentlich genuin sozialdemokratisch). Ein altes Thema unseres Jubilars. Denn das Klimaproblem ist doppelt global – ein Weltproblem wie auch eine allumfassende Herausforderung. Es geht um ein neues gesellschaftliches Naturverhältnis, den Einbezug der Natur in die Gleichheitspolitik, im gesamten kapitalistischen Weltsystem. Auch das hatte schon besagter Norberto Bobbio thematisiert. Und gerade in den Verfassungsdebatten im Anschluss an die 89er, an denen Ulrich K. Preuß teilnahm, spielte es eine große Rolle. Es gibt wenig Neues unter der Sonne, aber verstehen muss man es irgendwann einmal.
III. Aber: Die SPD-Sozialdemokratie in ihrer derzeitigen geistigen Verfassung hat womöglich keine Zukunft – auch wenn sich gerade eine kleine Chance auftut
Die SPD erweckt als Spiegel der deutschen Gesellschaft insgesamt den Eindruck einer Bewegung der geistig allzu Unbeweglichen. Intellektuelle Energieschübe und die Bereitschaft zum Wagnis tun gerade jedoch dringend not. Zuerst aber ein Bewusstseinssprung. Dafür sind folgende Punkte unabdingbar.
1. Der Klimaschutz als selbst nicht politisierbare Randbedingung muss programmatisch-strategisch vorbehaltlos integriert werden – mit weniger Rücksicht auf Verluste als bisher. Es handelt sich nämlich um eine abstraktere Version simpler Ressourcenbegrenzung. Streit über die Ziele ist hier kaum verantwortbar. Auch nicht über das unverzichtbare Mittel einer Dekarbonisierung der Wirtschaft. Der schnelle Abschied von Kohle und fossilem Individualverkehr ist daher selbstverständlich. Auch das Wachstumsziel als solches ist am Ende. Das ist (leider) keine Sektierermeinung, sondern umweltwissenschaftlicher und -ökonomischer Konsens (s. o.). Unsere Fähigkeit, diesen zu verdrängen, ist umso atemberaubender. Immer noch wird Ökologie künstlich von Wirtschafts- oder Sozialpolitik getrennt, was globale Kräfteverhältnisse widerspiegelt, aber nicht weniger veranwortungslos ist und schon bald angesichts der nahenden „tipping points“ revolutionäre Situationen wahrscheinlicher macht. Die Gilets Jaunes wie auch die Gülle- und Stickstoffkrise in den Niederlanden sind Vorboten des möglichen latenten Bürgerkriegs, um hier einmal allzu drastisch linksschmittianisch zu sprechen.
2. Internationalismus ist eine weitere zumindest „links“ nicht verantwortbar politisierbare Randbedingung. Die notwendige zwischenstaatliche Kooperation – nicht zuletzt bei der Abwendung des Menschheitssuizids – erfordert Vertrauensbildung. Vertrauen steht allerdings im Gegensatz zur neuen globalen Rüstungsspirale. Die NATO ist, wie der französische Präsident zu Recht gesagt hat, hirntot, es brauchte stattdessen eine neue „Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in der Welt“ („KSZW“) (!). Das wäre auch das Modell „Palme/Brandt/Kreisky 2.0“ für die europäische Zusammenarbeit. International muss es eine ressourcenpolitische Präferenz für den Süden geben (wie einst von Brandt vorgedacht) und auch Einreisequoten.
Beide Bedingungen zusammen sind dringend zu verarbeiten. Denn sonst droht irgendwann ein klimatisch bedingter Rückfall in die Barbarei. Wir haben bedauerlicherweise nicht allzu viel Zeit. Sie rennt uns im Gegenteil soeben davon. Das ist neu und an sich die natürliche Stunde der ideellen Gesamt-Linken, die fortschrittlich handelt, also in erster Linie: schneller voran geht. Die nächste Wahl wird deshalb die erste Schicksalswahl der Bundesrepublik im Wortsinne. Über das reaktionäre Rechtsaußen brauchen wir erst gar nicht zu reden.
3. Worum muss man sich dann – als gute Demokrat*innen – streiten? Kurz gesagt: Um „nicht-kulturelle“, moralisch abgedimmte Fragen, die mithin nicht gerade zwischen Grünen und AfD fundamental umstritten sind. Die AfD muss man rechts liegen lassen, von ihr kommen keine Impulse – sie verhindert nur den Bewusstseinssprung. Sie zeigt aber immerhin ein Problem an. Die Grünen dagegen formulieren klarer als andere, wenn auch in Anbetracht der Fakten noch außerordentlich zurückhaltend, den selbstverständlichen Ausgangspunkt, der nicht ihnen allein gehört, sondern allen demokratischen Parteien. Wenn man das verstanden hat, beginnen die interessanten Fragen.
Ich will hier nur eine, recht abstrakt formulierte – aber doch vielleicht die Schlüsselfrage benennen.
4. Wie viele Lasten für die nötigen grünen Investitionen und Abwicklungen, ja auch Kürzungen sollen bei Arbeitnehmer*innen, wie viele bei Unternehmen liegen? Wie viele bei Armen, wie viele bei Reichen?
Das ist die Schlüsselfrage der Lastenverteilung. Wenn man Konkurrenz abmildert und umverteilt, löst man gesellschaftliche Spannungen und kehrt zugleich von der fatalen Wachstumslogik ab. Sozialdemokratisches Grün mag das erkannt haben. Ebenso der Jubilar, der in dem bemerkenswerten Buch „Die Internalisierung des Subjekts“ schon früh die besitzindividualistische Logik der Rechte dekonstruiert hat. Das müssen wir uns heute wieder anschauen!
5. Kurz: Wir sind an einem Punkt, an dem wir unter dem unsanften Zwang der naturwissenschaftlichen Tatsachen buchstäblich alles neu machen müssen. Wenig kann so bleiben, wie es ist. Auch Leoparden-Konservative verstehen das: Vieles muss sich ändern, damit das Wesentliche so bleiben kann, wie es ist. Das gilt im Übrigen sogar dann, wenn man den tiefen, aber nicht unrealistischen Pessimismus Jonathan Franzens in seinem unterdes berühmten Artikel „What if we stopped pretending?“ teilen wollte. Selbst wenn wir keine Chance hätten, den Klimawandel zu stoppen, müssten wir sie ergreifen – aber stets auf demokratischem Wege, weil zivilisatorische Standards des antiautoritären Bewusstseins gerade unter Bedingungen des Kollapses von höchster Bedeutung wären. Wie sollten die sich stellenden Verteilungsfragen sonst ohne Faschismus und Bürgerkrieg lösbar sein? Im besonderen gilt das für uns reiche Nordstaatler*innen mit unserem großen Ressourcenverbrauch.
In früheren Zeiten wäre die SPD die Kraft gewesen, die sich an die Spitze der Bewegung stellt. Es besteht zwar viel Anlass für linke Fortschrittshoffnung, weil die große, transformative Wende in kulturellen Gewohnheiten und Eigentumsverhältnissen geistig unabdingbar scheint. Kommt die Wende nicht, tritt möglicherweise Barbarei an die Stelle. Grunderneuerte Sozialdemokratie oder Barbarei, kann man zuspitzen. Aber wird der unabdingbare sozialdemokratische Fortschritt wirklich von der SPD mit ihren Intellektualitäts-, Organisations-, Personal- und Professionalitätsproblemen organisiert werden? Rien n´est moins sûr. Aber zu verlieren hat die Partei nur noch wenig.