07 December 2017

Nur noch auf einem Ohr taub

Das Bundesverfassungsgericht hat in einer aktuellen Entscheidung seine Rechtsprechung zur gerichtlichen Sachaufklärungspflicht im Rahmen des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG) bestätigt und ihre Konturen geschärft. Zugleich hat es – zum wiederholten Male – die eigenständige Bedeutung des Asylgrundrechts (Art. 16a GG) im Auslieferungsverfahren hervorgehoben und dessen „Grundgedanken“ sogar für solche Fälle Geltung verschafft, in denen der Schutzbereich des Asylgrundrechts (infolge der Einreise nach Deutschland über den Landweg) gar nicht eröffnet ist. Zu wenig Beachtung fand leider die notorisch mangelhafte Ausgestaltung der Anhörungspflichten im deutschen Auslieferungsverfahren – immerhin einer in höchstem Maße grund- und menschenrechtssensiblen Materie. Dies gilt in besonderer Weise für Fälle, in denen ein Staat um Auslieferung ersucht, der sich massiver Vorwürfe hinsichtlich der Menschenrechtsachtung auf seinem Territorium ausgesetzt sieht.

Der Sachverhalt

Das Bundesverfassungsgericht hatte in dem hier diskutierten Fall über die Verfassungsmäßigkeit der Auslieferung eines Tschetschenen nach Russland zu entscheiden, dem dort ein versuchtes Tötungsdelikt vorgeworfen wird. Für den Fall der Überstellung erteilten die russischen Behörden dem Bundesamt für Justiz dabei die in solchen Verfahren üblichen Zusicherungen: dem Beschwerdeführer würden alle Möglichkeiten anwaltlicher Verteidigung zustehen, er habe keine Folter zu befürchten und er würde in einer Haftanstalt untergebracht, die den Anforderungen der EMRK genüge. Als der Beschwerdeführer in dem Auslieferungsverfahren von dem Ermittlungsrichter bei dem zuständigen Amtsgericht angehört wurde, wandte er gegen das Auslieferungsersuchen u.a. ein, dass er von tschetschenischen Sicherheitskräften gefoltert worden sei. Die Beschuldigungen der tschetschenischen Justiz gegen ihn würden nicht der Wahrheit entsprechen; von ihm sei vielmehr verlangt worden, Aufenthaltsorte von politischen Opponenten preiszugeben. Er betrachte sich daher als politisch verfolgt.

Tatsächlich hatte der Beschwerdeführer zuvor sowohl in Polen als auch in Deutschland Asyl beantragt. Der in Deutschland gestellte Asylantrag wurde nach den Regeln der Dublin III- Verordnung wegen der Zuständigkeit Polens als Ersteinreiseland als unzulässig abgelehnt (allerdings ist die Entscheidung des BAMF noch nicht rechtskräftig) und auch in Polen wurde dem Antragsteller kein Asyl gewährt. Das OLG Dresden, das über die Zulässigkeit der Auslieferung zu entscheiden hatte, forderte die zuständige Generalstaatsanwaltschaft Dresden auf, die Umstände der Asylverfahren in Polen und Deutschland und die dort gemachten Angaben aufzuklären, um diese mit den Angaben im Auslieferungsverfahren abzugleichen. Jedoch legte die Generalstaatsanwaltschaft dem OLG lediglich die schlichte Mitteilung eines polnischen Verbindungsbeamten vor, wonach der Asylantrag in Polen vollständig abgelehnt worden sei. Weitere Informationen wurden nicht eingeholt. Das OLG entschied gleichwohl, dem russischen Auslieferungsersuchen stattzugeben. Hiergegen wendete sich der Beschwerdeführer mit der Verfassungsbeschwerde.

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Das Bundesverfassungsgericht gab der Verfassungsbeschwerde statt – und dies sogar als offensichtlich begründet da es die maßgeblichen Fragen bereits als durch seine frühere Judikatur geklärt betrachtete.

Eine erste Hürde bildete allerdings bereits die Zulässigkeit, da sich der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer ausdrücklich nur auf eine Verletzung seines Asylgrundrechts berief – was in dem Fall aufgrund der Erstzuständigkeit Polens für das Asylverfahren nach Art. 16a Abs. 2 S. 1 GG offensichtlich aussichtslos war. Allerdings zeigte sich das Bundesverfassungsgericht hier – wie auch an anderen Stellen des Beschlusses – wenig formalistisch und erachtete das Begründungserfordernis auch hinsichtlich des nicht explizit genannten, aber schließlich durchschlagenden Grundrechts aus Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG als durch den Vortrag erfüllt an.

In der Sache erkannte es in der Auslieferungsentscheidung wegen mangelhafter Sachaufklärung durch das OLG einen Verstoß gegen das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG auf effektiven Rechtsschutz.

Als mögliches Auslieferungshindernis hatte das OLG insbesondere die Gefahr einer politischen Verfolgung zu prüfen. Nach Art. 6 Abs. 2 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) (dem Art. 3 Nr. 2 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens (EuAlÜbK) korrespondiert) ist eine Auslieferung nämlich u.a. dann nicht zulässig, wenn ernstliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Fall seiner Auslieferung politisch verfolgt werden würde.

In Übereinstimmung mit seiner früheren Judikatur (vgl. z.B. BVerfG, Beschluss v. 8.4.2015, 2 BvR 221/15) forderte das Bundesverfassungsgericht im Rahmen des Auslieferungsverfahrens eine umfassende Aufklärung über das Bestehen der Gefahr politischer Verfolgung. Diesem Erfordernis sei das OLG nicht gerecht geworden, indem es sich mit der schlichten Auskunft des polnischen Verbindungsbeamten über den negativen Ausgang des Asylverfahrens in Polen begnügte. Das OLG ist im Rahmen des Auslieferungsverfahrens bei der Prüfung von Asylgründen nicht an die Entscheidung des BAMF oder der ausländischen Asylbehörde gebunden, vielmehr hat es den Sachverhalt eigenständig zu würdigen. Das OLG hätte sich um die Beiziehung der polnischen Asylverfahrensakte daher zumindest „ernsthaft bemühen“ müssen. Falls die Akten nicht erhältlich gewesen wären, hätte das Gericht dies in seiner Entscheidung darlegen müssen und anderweitige Aufklärungsschritte – i.d.R. die persönliche Anhörung des Betroffenen – ergreifen müssen. Allerdings ist dies nicht dahingehend zu verstehen, dass das OLG alternativ entweder nur die Akten beiziehen kann oder eine persönliche Anhörung durchführt. Wenn im Einzelfall auch nach der Beiziehung der Asylakten die Glaubwürdigkeit des Betroffenen weiterhin in Frage steht, dürfte die persönliche Anhörung zur umfassenden Sachaufklären erforderlich sein. Das Bundesverfassungsgericht stellte auch noch einmal klar (vgl. bereits BVerfG, Beschluss v. 8.4.2015, 2 BvR 221/15), dass eine Zusicherung der russischen Behörden über die menschenrechtskonforme Behandlung des Betroffenen wie im vorliegenden Fall das OLG nicht von einer eigenen Gefahrenprognose entbindet.

Verfassungsrechtlich knüpfte das Bundesverfassungsgericht im hier diskutierten Fall – anders als in früheren Entscheidungen, in denen eine solche direkt über das Asylgrundrecht aus Art. 16a S. 1 GG erfolgte – am Recht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG an. Grundrechtsdogmatisch von gewissem Interesse war dabei die doppelte Inzidentprüfung, die das Bundesverfassungsgericht vornahm: Im Rahmen der Frage einer Verletzung präventiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG war zunächst die Gefahr einer potentiellen Verletzung der Grundrechte auf körperliche Unversehrtheit und Freiheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 und 2 GG durch hypothetische Vollziehung einer Auslieferung zu klären. Da eine Verletzung dieser Rechte insbesondere dann in Betracht komme, wenn der Betroffene in seinem Heimatland politischer Verfolgung ausgesetzt sei, müsse im Rahmen dieser Prüfung wiederum – obwohl im konkreten Fall nicht unmittelbar anwendbar – der „Grundgedanke“ des Art. 16a Abs. 1 GG, nämlich „Schutz vor politischer Verfolgung im Zielstaat zu bieten“, berücksichtigt werden.

Zu begrüßen ist damit, dass das Bundesverfassungsgericht neben der neuerlichen Konturierung des Umfangs gerichtlicher Pflichten zur Sachverhaltsaufklärung im Auslieferungsverfahren die bedeutende Rolle, die Art. 16a Abs. 1 GG im Auslieferungsrecht zukommt, weiter stärkt – z.T. wurde bereits zuvor darauf hingewiesen, dass diese die praktische Bedeutung des Grundrechts im eigentlichen Asylrecht inzwischen nahezu übersteige (vgl. die Entscheidungsanmerkung von Huber, NVwZ  2015, 1204 (1206)). Dass nun auch außerhalb des direkten Anwendungsbereichs des Asylgrundrechts dessen Grundgedanke als von Trägern öffentlicher Gewalt stets zu berücksichtigen anerkannt wird, stellt in rechtspolitisch bewegten Zeiten wie den gegenwärtigen nicht zuletzt ein wichtiges Signal dar, dass einer Aushöhlung elementarer Verfassungswerte gewisse Grenzen gesetzt sind.

Sachverhaltsaufklärung ohne unmittelbare Anhörung?

Jenseits dieser zu begrüßenden Bestätigung der Bedeutung der grundrechtlichen Garantien aus Art. 16a Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG hat das Bundesverfassungsgericht einen anderen Aspekt, nämlich den des Rechts auf rechtliches Gehör Betroffener gegenüber dem über das Auslieferungsersuchen entscheidenden Gericht, leider nicht zureichend berücksichtigt, indem es eine persönliche Anhörung durch das OLG nur für den Fall, dass eine Beiziehung der polnischen Asylverfahrensakten nicht möglich gewesen wäre, für zwingend erforderlich erachtete.

Im Auslieferungsverfahren nach dem IRG ist eine zwingende Anhörung der betroffenen Person allein vor dem Ermittlungsrichter beim Amtsgericht vorgesehen. Dieser hat aber keinerlei Entscheidungsbefugnis, sondern nimmt die Angaben lediglich zu Protokoll und leitet sie an das OLG weiter. Nach dem Wortlaut der einschlägigen Normen des ILG kann das OLG den Betroffenen vernehmen (§ 30 Abs. 2 S. 1 IRG) und kann eine mündliche Verhandlung durchführen (§ 30 Abs. 3 IRG). In der Praxis geschieht beides aber nur äußerst selten. Wie aber soll das OLG ohne persönliche Anhörung feststellen, ob ein Fall politischer Verfolgung vorliegt? Die Regelungen des IRG werfen somit Fragen nach ihrer Vereinbarkeit mit dem grundrechtsgleichen Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) und dem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG) auf, die leider von dem Bundesverfassungsgericht in der diskutierten Entscheidung nicht angesprochen wurden. Zwar folgt aus Art. 103 Abs. 1 GG grundsätzlich kein Anspruch auf eine bestimmte Verfahrensart (vgl. bereits BVerfGE 6, 19 (20)), etwas anderes gilt aber (wegen Art. 19 Abs. 4 GG) für das Asylrecht (vgl. BVerfGE 67, 43 (61f.)).

Im Asylverfahren kommt der persönlichen Anhörung überragende Bedeutung zu. Grund dafür ist die dem Asylrecht inhärente Schwierigkeit, Beweis über eine politische (oder sonstige) Verfolgung zu führen. In den seltensten Fällen ergibt sich eine solche aus schriftlichen Beweismitteln, zumeist kommt es ganz maßgeblich auf die Glaubwürdigkeit des Asylantragstellers und die Glaubhaftigkeit seines Vortrags an. Nichts anderes kann für eine inzidente Prüfung von Asylgründen im Rahmen eines Auslieferungsverfahrens gelten. Hier kann der Betroffene nach geltendem Recht aber noch immer ausgeliefert werden, ohne seine Einwendungen jemals persönlich dem entscheidenden Richter vorgetragen zu haben. Diesen Missstand hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung weder ausreichend berücksichtigt, noch behoben. Dabei hätte sich eine einfache und einigermaßen elegante Lösung angeboten: Im Wege verfassungskonformer Auslegung ist § 30 Abs. 2-3 IRG dahingehend auszulegen, dass in Fällen, in denen der Betroffene eine asylrechtlich relevante Verfolgung geltend macht, eine persönliche Anhörung zwingend erforderlich ist.

Desaströse Menschenrechtslage in Tschetschenien

Es ist im Übrigen kein Zufall, dass der Einwand staatlicher Verfolgung gerade in Auslieferungsfällen mit Bezug zu Tschetschenien häufig eine wichtige Rolle spielt. Auslieferungen von Tschetschenen an Russland müssen generell besonders kritisch betrachtet werden. Während der letzten zehn Jahre hat der dortige Machthaber Ramsan Kadyrow mit Unterstützung des Kremls ein hoch repressives Regime in der russischen Teilrepublik errichtet. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch berichten, dass Bürger durch Strafvollzugs- und Sicherheitsbehörden auf offener Straße angegriffen und entführt würden. Es komme zu Folterungen, kollektiven Strafmaßnahmen und sogar außergerichtlichen Hinrichtungen.

Auch der Rechtsstaat scheint in einem bedauernswerten Zustand zu sein. Der England and Wales High Court hat z.B. jüngst in einer Entscheidung die Auslieferung eines Tschetschenen mit der Begründung unterbunden, dass im tschetschenischen Strafverfahren vor dem Einzelrichter faktisch keine Verteidigungsmöglichkeit bestehe, sondern dass die Gerichte – angesichts einer Freispruchrate von unter 1 % – nahezu ausschließlich gemäß der Anklage verurteilten.

Die deutschen Behörden lassen sich bei Auslieferungen von Tschetschenen in die Russische Föderation zwar grundsätzlich die Zusicherung geben, dass das Ermittlungs- bzw. Strafverfahren und die Untersuchungs- und/ oder Strafhaft außerhalb des tschetschenischen Territoriums (teils auch außerhalb des Nordkaukasus) durchgeführt wird. Entgegen dem Bundesverfassungsgericht, das in ständiger Rechtsprechung auf solche Zusicherungen vertraut (vgl. z.B. BVerfG, Beschluss v. 28.7.2016, 2 BvR 1468/16), kann aber die Belastbarkeit solcher Zusagen mit gutem Grund bezweifelt werden.

Aufgrund der eklatanten Mängel der Rechtsstaatlichkeit muss aber auch schon in einem Schritt zuvor Haftbefehlen tschetschenischer Gerichte, auf die die Auslieferungsersuchen gegenüber deutschen Behörden gestützt werden, mit grundsätzlicher Skepsis begegnet werden. Nicht selten werden in tschetschenischen Haftbefehlen Aussagen der Anklage- oder Ermittlungsbehörden ungeprüft abgeschrieben. Dass die tschetschenischen Ermittlungsbehörden unter Missachtung aller rechtsstaatlichen Prinzipien arbeiten, ist nicht erst seit Medienberichten bekannt, denen zufolge Anfang dieses Jahres in Tschetschenien 27 Gefangene, die ohne Anklage festgehalten wurden, hingerichtet wurden und über 100 homosexuelle Männer in Lagern interniert und systematischer Folter ausgesetzt wurden.

Auch in dem der hier diskutierten Entscheidung zugrundeliegenden Verfahren, trug der Betroffene übrigens vor, in Tschetschenien gefoltert worden zu sein. Das OLG Dresden hatte dennoch keine Bedenken bezüglich der Auslieferung, da er „lediglich“ behauptet habe, im Zusammenhang mit einem vorherigen, bereits abgeschlossenen, Strafverfahren gefoltert worden zu sein. Ob es diese Erwägungen für tragfähig hielt, ließ das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung ausdrücklich offen.


One Comment

  1. Dr. Karl F.-S. Thu 7 Dec 2017 at 16:21 - Reply

    Menschenrechtsverletzungen?
    Ich darf in Russland kein Radikaler Islamist sein – ich muss nach West-Europa – dort darf ich das!
    Was sind (verbis legal): Die Menschenrechte?

    Es steht nirgendwo geschrieben das es ein Menschenrecht darauf gibt “ein Hasser und Mörder in nomine Dei” zu sein und “schmerzfrei zu leben”.

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