24 June 2016

Ultra-vires-Kontrolle durch Bundesregierung und Bundestag – Für eine materielle Subsidiarität des Vorgehens gegen das Parlament

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 21. Juni 2016 bewegt sich in einem hoch politischen Raum. Das Bundesverfassungsgericht ist seiner Verantwortung, das (Verfassungs-)Recht in seinem größeren Bezug zu interpretieren (Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG), gerecht geworden. Die Entscheidung stärkt, wie Präsident Voßkuhle anlässlich der Urteilsverkündung betont hat, die Idee der Rechtsbindung supranationalen Handelns. Im Jahr 2012 war keinesfalls klar, in welchem Umfang die EZB – wenn überhaupt – gerichtlich überwachten Kompetenzgrenzen und Rechtsbindungen unterliegt. Dem Bundesverfassungsgericht ist es gelungen, in dieser Frage jedenfalls auf prinzipieller Ebene Klarheit herzustellen – auch wenn nicht zu verkennen ist, dass die Differenz im Verständnis und in der Handhabung der Bindungen zwischen Europäischem Gerichtshof und  Bundesverfassungsgericht weiterhin groß sein dürfte. Die Zielrichtung der Argumentation des EuGH (Darlegung der Unbedenklichkeit des „Programms“) deckt sich nur scheinbar mit dem Anliegen des Bundesverfassungsgerichts, der EZB bindende und durchsetzbare Leitlinien vorzugeben. Vorlage, EuGH-Entscheidung und Endentscheidung des BVerfG haben die Dialogbereitschaft und -fähigkeit der beiden Institutionen eindrücklich belegt. Die Differenzen, die zwischen den Gerichten in der Beurteilung der Rolle des Rechts, der Aufgaben eines Obergerichts in der Fixierung von Grenzen der Währungspolitik und in der konkreten Formulierung von Bindungen bestehen, sind damit aber nicht überwunden. Gegenwärtig sind in Karlsruhe eine Reihe von Verfahren anhängig, in denen diese Differenzen aufbrechen könnten – „könnten“, weil sich in einem insgesamt vierjährigen Verfahren gewisse Ermüdungserscheinungen bemerkbar gemacht haben, die die Bereitschaft dämpfen könnten, auf dem Gebiet der Währungspolitik erneut über die Richtigkeit des konkreten Grenzverlaufs zu kämpfen.

Die wichtigere Bedeutungsschicht der Entscheidung vom 21.6.2016 dürfte in der Weiterentwicklung der Ultra-vires-Kontrolle liegen. Das BVerfG hat nicht nur die Währungspolitik der EZB rechtlich eingebunden, sondern vor allem auch das deutsche Europaverfassungsrecht weiter juridifiziert. Die Entscheidung, jeder Bürgerin und jedem Bürger den Vorwurf einer qualifizierten Ultra-vires-Rüge gegen jeden Akt der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der EU zu ermöglichen, fügt sich in die überkommene Konzeption subjektiven Rechtsschutzes nur mühsam ein. Die argumentative Brücke – vom „Recht auf Demokratie“ über die Annahme, dass Kompetenzüberschreitungen und Rechtsverstöße der EU-Institutionen als „undemokratische Herrschaft“ anzusehen seien, bis zur Annahme, dass sich dies auf die Stellung der Bürgerin und des Bürgers auswirke – ist filigran und kunstvoll, möglicherweise aber nicht wirklich tragfähig. Die Behauptung, nur den „Menschenwürdekern der Demokratie“ schützen zu wollen, lässt sich nur schwer mit den weitgehenden Annahmen darüber in Einklang bringen, welche sehr spezifischen Bindungen ein sehr spezifisches Programm der EZB zu beachten habe.

 Den vielleicht noch wichtigeren Juridifizierungsschub bewirkt das Bundesverfassungsgericht dadurch, dass es auf eine unmittelbare Kontrolle der Akte der EU verzichtet und statt dessen verfassungsrechtliche Handlungspflichten der Verfassungsorgane Bundesregierung und Bundestag konstruiert. Gewiss wäre der erstgenannte Weg von den Organen der EU – insbesondere dem EuGH – als schwerer Angriff auf die Autonomie der EU angesehen worden. Er wäre möglicherweise auch vertragswidrig gewesen. Der Preis des gewählten Ansatzes, die Verfassungsorgane Bundesregierung und Bundestag daraufhin zu überwachen, ob sie ihre „Integrationsverantwortung“ in Form einer Rechtskontrolle hinreichend und in der Sache angemessen wahrnehmen, erscheint aber hoch.

Die Bundesregierung und der Bundestag werden in die Rolle von Rechtshütern gedrängt, die sie funktional und institutionell-gewaltenteilig nur schwer spielen können. Dies gilt vor allem für das Parlament. Im Zuge der Überwachung der Tätigkeit des ESM hat es inzwischen Funktionen eines „Exekutivparlaments“ übernommen, das an der Durchführung von Stützungsmaßnahmen beteiligen muss, diese aber jedenfalls legitimieren soll. Im Zuge der Entscheidung vom 21.6.2016 wird es nunmehr zu einem „Judikativparlament“, das Mechanismen entwickeln soll, mit denen rechtswidriges Handeln in der EU identifiziert werden und Reaktionsmöglichkeiten entwickelt werden sollen.

So richtig das Grundansinnen ist, die parlamentarische Kontrolle der deutschen Europapolitik und des Geschehens auf EU-Ebene zu stärken: Wird man dem Parlamentarismus und der Idee der Demokratie wirklich gerecht, wenn man das Parlament (in der Fußballsprache) zum „Ausputzer“ macht, das seine Rolle vermeintlich umso besser spielt, je umfassender es mitredet? Die Gefahr besteht, dass hier Quantität und Qualität miteinander vermischt werden. Im Plenum über vermeintliche Rechtsverstöße zu reden, über die weder vom EuGH noch vom Bundesverfassungsgericht verbindlich judiziert worden ist, wird möglicherweise mehr zur Erosion des Vertrauens in supranationale und staatliche Herrschaft beitragen, als dass es den Bürgerinnen und Bürgern das Gefühl einer Stärkung ihrer „freien und gleichen Mitspracherechte“ verleiht.

Keine abschließende Antwort gibt die Entscheidung vom 21.6.2016 hinsichtlich des Verhältnisses von Bundesregierung und Bundestag bei der Wahrnehmung des Kontrollauftrags. Aufgrund der Antragstellung hatte sich das BVerfG bei der Prüfung der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerden allein mit der Rüge zu befassen, dass die Bundesregierung Handlungspflichten nicht erfüllt habe (Rdnr. 77, 78, 79, 89, 94). Im Organstreitverfahren ging es nur um die Rüge der Untätigkeit des Bundestages (Rdnr. 105, 107, 109). Den Ausführungen zur Begründetheit lässt sich entnehmen, dass das BVerfG Art. 38 GG als subjektives Recht begreift, mit dem Bundesregierung und Bundestag zum Handeln gezwungen werden können. Bedeutet dies, dass sich künftige Verfassungsbeschwerdeführer aussuchen können, welches Verfassungsorgan sie in Anspruch nehmen? Soll es im subjektiven Belieben des Antragsstellers liegen, zu entscheiden, welches Organ „aktiviert“ werden soll – mit der Folge, dass damit wesentliche Fragen der horizontalen Gewaltenteilung der subjektiven Beurteilung der Bürger übertragen würden? Der Bundesregierung stehen im Verfahren nach Art. 263 AEUV Möglichkeiten zu, über die der Bundestag nicht verfügt. Dies spricht für die Annahme, dass der Gedanke der materiellen Subsidiarität einem unmittelbaren Vorgehen gegen den Bundestag entgegen steht. Dies gilt jedenfalls,  wenn es um Rügen geht, die nicht im Wege einer Subsidiaritätsbeschwerde aufgegriffen werden können. Aber auch in anderen Fällen obliegt die Rechtskontrolle supranationalen Handelns nach der Ordnung des Grundgesetzes (Art. 32 Abs. 1, Art. 59 Abs. 2 GG) der Bundesregierung. Integrationsverantwortung bedeutet nicht, dass die horizontalen Prinzipien der grundgesetzlichen Funktionen- und Aufgabenverteilung beiseite gespült werden; man muss sie optimierend in die grundgesetzliche Ordnung einbauen.

Der Autor war im OMT-Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht Prozessbevollmächtigter des Bundestags.


One Comment

  1. Caroline von Müller Fri 24 Jun 2016 at 14:02 - Reply

    Schöne und präsize Analyse. Hoffentlich nimmt das Bundesverfassungsgericht das zur Kenntnis!

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