Corona Constitutional #34: Maulkorb für den Innenminister?
In seinem am 9. Juni 2020 verkündeten Urteil hat sich das Bundesverfassungsgericht einmal mehr mit den Äußerungsbefugnissen von Regierungsmitgliedern befasst. Gelegenheit dazu gab ein Antrag der AfD im Organstreitverfahren. Es ging um ein Interview, das auf der Homepage des BMI veröffentlicht wurde und in dem Innenminister Seehofer die Partei als “staatszersetzend” bezeichnete. Wie das Bundesverfassungsgericht das rechtlich einordnet, was die Richterinnen und Richter dabei für ein Politikverständnis an den Tag legen und warum die AfD eigentlich so gern nach Karlsruhe zieht, bespricht Charlotte Heppner im heutigen Podcast mit MEHRDAD PAYANDEH von der Bucerius Law School und SOPHIE SCHÖNBERGER von der Universität Düsseldorf.
Corona Constitutional #33: Mit Recht gegen Diskriminierung
Auch in Deutschland sind in den letzten Tagen Zehntausende gegen Polizeigewalt und Rassismus auf die Straße gegangen. Fast gleichzeitig hat das Berliner Abgeordnetenhaus das bundesweit erste Landesantidiskriminierungsgesetz verabschiedet. DORIS LIEBSCHER von der Humboldt Law Clinic für Grund- und Menschenrechte hat den Gesetzgebungsprozess des LADG über viele Jahre wissenschaftlich begleitet. Was Deutschland von den USA unterscheidet, was institutioneller Rassismus ist, was das LADG regelt und was alles in der hitzigen Diskussion rund um dessen Verabschiedung durcheinander geraten ist, bespricht sie im heutigen Podcast mit Charlotte Heppner.
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Corona Constitutional #32: Is the Reichstag burning?
Droht in den USA der Bürgerkrieg? Während die Gewalt in den Großstädten eskaliert, ließ sich der Präsident mit erhobener Bibel vor einer ausgebrannten Kirche fotografieren. Den Weg durch die demonstrierende Menschenmenge hat ihm die Polizei zuvor mit Tränengas freigeschossen. Die düsteren Assoziationen, die diese Bilder bei RALF MICHAELS hervorriefen, bespricht der Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht im heutigen Podcast mit Max Steinbeis.
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Corona Constitutional #31: Cop-Kultur
In den USA gehen Zigtausende gegen institutionellen Rassismus auf die Straße. Vielerorts werden sie Opfer eben jener brutalen Polizeigewalt, gegen die sie protestieren. Lässt sich das vergleichen mit Polizeiübergriffen in Deutschland? Darüber spricht Max Steinbeis in der heutigen Podcast-Folge mit RAFAEL BEHR, der zur sogenannten “Cop Culture” an der Akademie der Polizei Hamburg forscht.
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Corona Constitutional #30: One Country, One System
Ein Vierteljahrhundert lang hat sich Hong Kong als liberale, rechtsstaatliche Insel in einem autoritären Staat gehalten. Nun plant die chinesische Regierung ein neues Sicherheitsgesetz, das von Liberalität und Grundrechtsschutz wohl nicht viel übrig lassen wird. Im Podcast-Interview mit Max Steinbeis beleuchtet DAVID LAW von der Universität Hong Kong die verfassungsrechtlichen Hintergründe dieser bedrückenden Entwicklung, und stößt auf die dringende Frage: Welche Möglichkeiten und welche Verantwortung haben Wissenschaftler_innen, wenn es brenzlig wird im Kampf um die Freiheit?
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Corona Constitutional #29: Bundesbank in der Zwickmühle
Über das EZB-Urteil des Bundesverfassungsgerichts haben wir schon viel gestritten. Aber wie genau soll es jetzt weiter gehen? Um das herauszufinden, hat der Bundestag gestern eine Gruppe Sachverständiger eingeladen. Einer von ihnen war CHRISTIAN WALTER, Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Mit ihm spricht Max Steinbeis in der heutigen Podcastfolge über die komplizierten Folgen des umstrittenen Urteils.
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Corona Constitutional #28: EuGH, der vertraute Unbekannte
Das umstrittene EZB-Urteil hat mal wieder ein Schlaglicht auf das komplizierte Verhältnis der Karlsruher Richterinnen und Richter zum EuGH geworfen. Auf der Beziehung lastet unter anderem, dass die beiden Institutionen sehr unterschiedlich arbeiten. Aber wie arbeitet der EuGH überhaupt? Darüber unterhält sich Alexander Melzer im heutigen Podcast mit CHRISTOPH KRENN von der Universität Wien.
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Corona Constitutional #27: Justiz-Iron Man in Polen
Seit Wochen streiten die Richterinnen und Richter des polnischen Obersten Gerichtshofs darüber, wer für den vakanten Präsidentenposten kandidieren soll. Am Freitag könnte die Entscheidung endlich fallen. Was genau dort vor sich geht, und was auf dem Spiel steht, erklärt ANNA WÓJCIK vom Osiatyński Archiv im Gespräch mit Max Steinbeis.
Corona Constitutional #26: Das BND-Urteil
Karlsruhe hat entschieden: Auch im Ausland müssen sich deutsche Behörden an Grundrechte halten, auch ausländische Staatsbürger dürfen nicht uneingeschränkt überwacht werden. Warum die Zivilgesellschaft aufatmen, sich aber auf keinen Fall zurücklehnen darf, bespricht Alexander Melzer im heutigen Podcast mit WOLFGANG KALECK, Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR).
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Corona Constitutional #25: Populistische Autoimmunreaktion
Die rechtsextremen und die weniger rechtsextremen Mitglieder der AfD streiten sich über den Rauswurf ihres Brandenburgischen Landesvorsitzenden. Oder war es doch kein Rauswurf? Kann es sein, das Andreas Kalbitz 7 Jahre lang Parteimitglied war, ohne eines zu sein? Über die parteienrechtlichen Fragen, die der Causa Kalbitz zugrunde liegen, unterhält sich Max Steinbeis im heutigen Podcast mit SVEN JÜRGENSEN, Parteienforscher an der Universität Düsseldorf und Associate Editor des Verfassungsblogs.
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Corona Constitutional #24: Ultra Vires, Runde 3
Ist im kalten Krieg zwischen Luxemburg und Karlsruhe die Atombombe gefallen? Und kann es sein, dass sie ihr Ziel verfehlt hat? Während Karlsruhe den Ultra-Vires-Backlash mit einer PR-Offensive in den großen deutschen Zeitungen einzudämmen versucht, ändert sich an den grundlegenden Problemen nichts. Diese, so ANUSCHEH FARAHAT im Gespräch mit Max Steinbeis, liegen nämlich viel tiefer: In transnationalen Solidaritätskonflikten, unklaren Kompetenzordnungen und fehlendem politischen Willen, die europäischen Probleme wirklich anzugehen.
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Corona Constitutional #23: Ultra Vires, Runde 2
Unser Podcast zum sogenannten „Ultra Vires“-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von vergangener Woche geht in die zweite Runde. Wenn ein nationales Gericht Handlungen der Europäischen Zentralbank sowie des Europäischen Gerichtshofs für offensichtlich unverhältnismäßig und kompetenzwidrig hält, lohnt es, grundlegende Fragen aufzuwerfen. Welches Verständnis von Demokratie, Verfassung und staatlicher Souveränität liegt eigentlich solchen Entscheidungen aus Karlsruhe zu Grunde? Welche möglichen längerfristigen Motive treibt Richterinnen und Richter zu einer derartigen Eskalation eines lange schwellenden Konflikts an? Zu dieser und anderen Fragen unterhält sich Alexander Melzer mit dem Politikwissenschaftler OLIVER LEMBCKE von der Ruhr-Universität Bochum.
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BVerfG und EuGH im Kompetenz-Gerangel
Angesichts der Entscheidung des BVerfG entgegen der des EuGH scheint ein Konflikt unausweichlich. Wie steht es um die Gewaltenteilung hier und dort?
Das Durchsetzungsvermögen der Justiz steht und fällt mit der Effizienz der Gewaltenteilung.
Damit auch Ansehen und Akzeptanz der Gerichte.Am 30. September 2009 hat die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) in einer einstimmig gefassten Resolution (Nr. 1685/2009) Deutschland aufgefordert, ein System der Selbstverwaltung der Justiz einzuführen und die Möglichkeit abzuschaffen, dass Justizminister der Staatsanwaltschaft Anweisungen zu einzelnen Fällen geben.
Hintergrund ist, dass es ohne einen unabhängigen Justizapparat keine effiziente Gewaltenteilung gibt. Auch nach Art.20 Abs.2 GG ist ist die Gewaltenteilung wesentliche Grundlage eines demokratischen Rechtsstaats. Der stützt sich auf die Verteilung der staatlichen Gewalt auf Legislative, Exekutive und Judikative. Letztere sollte das rechtsstaatliche Handeln der beiden anderen Institutionen kontrollieren.
Nach den Erfahrungen unter dem Faschismus hat Italien in seiner Verfassung vom 27. Dezember 1947 die Judikative der Exekutive entzogen (Artikel 101 bis 113). Spanien folgte diesem Beispiel nach dem Ende der Franco-Diktatur im Dezember 1978 (Artikel 117 bis 127). Auch dort unterstehen die Gerichte und Staatsanwaltschaften nicht mehr der Regierung, sie werden von einem eigenständigen dritten Machtträger verwaltet, dem „Generalrat der rechtsprechenden Gewalt“. Die meisten Mitgliedsländer der Europäischen Union haben sich in modifizierter Form dem italienischen und spanischen Vorbild angeschlossen, meist mit der Einrichtung sog. Justizräte zur Auswahl von Richtern und Staatsanwälten. So hatte etwa auch Polen zum 1.April 2010 einen unabhängigen Justizrat eingeführt, macht diesen Schritt aktuell allerdings wieder rückgängig. Und wird dafür zu Recht von der EU sanktioniert. Anderweitig versuchen Regierungen, wenngleich deutlich subtiler, Einfluss auf die Zusammensetzung der Justizräte zu gewinnen.
Weder die schrecklichen Erfahrungen mit einem staatlich gelenkten Justizapparat im „Dritten Reich“ noch dessen Fortsetzung unter anderen Vorzeichen in der DDR haben die Bundesrepublik veranlasst, Gerichte und Staatsanwaltschaften dem Einfluss der Exekutive zu entziehen.
Über die Besetzung aller wesentlichen Positionen im Justizwesen (höchste Richterstellen und Staatsanwälte) entscheiden hierzulande Regierungen, Parlamentsausschüsse und Parteigremien. Sie kontrollieren in Wahrheit die Justiz. Nicht anders herum, wie im Grundgesetz vorgesehen. Die unselige Herrschaft der Parteien in Legislative und Exekutive über die Justiz unterbindet seit Bismarks Zeiten die Entfaltung einer effektiven Gewaltenteilung in Deutschland.In Artikel 97(1) GG heißt es zwar:
„Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen.“Aber die Realität sieht anders aus.
Paulus van Husen (1952-1959 Präsident des Verfassungsgerichtshofes NRW) formulierte 1951:
„Das Grundübel liegt in der Richterernennung durch die Exekutive. Zunächst besteht die häufig verwirklichte Gefahr, dass für das Richteramt ungeeignete Personen aus sachfremden Gründen, die der Exekutive nützlich erscheinen, ernannt werden. Wie soll ein Richter unabhängig sein, der sein ganzes Leben lang hinsichtlich der Beförderung in Aufrückestellen von der Exekutive abhängt. Nicht jeder Mensch ist zum Märtyrer für eine Idee geboren, andererseits hat aber jeder Mensch die Pflicht, für seine Familie und sein eigenes Fortkommen zu sorgen. Die richterliche Unabhängigkeit ist eine verlogene Angelegenheit, so lange dieses System besteht.“
aus „Die Entfesselung der Dritten Gewalt“, Paulus van Husen 1951Der/die Justizminister/in ist für die Auswahl und Ernennung der Staatsanwälte zuständig. Die sind seinen/ihren Weisungen unterworfen. Er/sie bestimmt Art und Weise der Beurteilung von Richtern und Staatsanwälten in Dienstzeugnissen ebenso wie die Art und Weise der periodischen Überwachung der Richter und Staatsanwälte in Geschäftsprüfungen, er/sie entscheidet über die Beförderungen der Richter und Staatsanwälte.
Derselbe Paulus van Husen formulierte deshalb ebenfalls bereits 1951 drastisch:
„Der Weg zur Unabhängigkeit der Gerichte führt über die Leiche des Justizministers“…Der 40. Deutsche Juristentag hat bereits 1953 angemahnt: „Gesetzgeberische Maßnahmen, um die Unabhängigkeit des erkennenden Richters sowohl durch die Art seiner Auswahl und Beförderung als auch durch seine Stellung gegenüber der Verwaltung institutionell zu sichern, sind notwendig zur Durchführung des Grundgesetzes.“
In den Kriterien der Europäischen Union über die Aufnahme neuer Mitgliedsländer heißt es:
„Die für die Auswahl und Laufbahn der Richter zuständige Behörde sollte von der Exekutive unabhängig sein“.
Demnach hätte Deutschland heute größte Probleme, neu in die EU aufgenommen zu werden.Dennoch, selbst nach der o.g. Resolution des Europarates hat sich keine deutsche Regierung ernsthaft bemüht, diesen Rechtsmangel zu beheben.
Im Gegenteil:
Auf eine „Kleine Anfrage“3/2010 mehrerer Bundestagsabgeordneter
„Wie stellt sich die Bundesregierung die Umsetzung der Aufforderung der Parlamentarischen
Versammlung des Europarates vor, zur Sicherung der Unabhängigkeit der Justiz in der Zukunft ein System der gerichtlichen Selbstverwaltung unter Berücksichtigung der föderalen Struktur der deutschen Justiz einzurichten – und zwar nach dem Vorbild der bestehenden Justizräte in der überwiegenden Mehrheit der europäischen Staaten?“antwortete die Bundesregierung:
„Die von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates in ihrer Resolution 1685 (2009) geforderte Einführung eines Systems der Selbstverwaltung der Justiz in Form von Justiz(verwaltungs)räten in Deutschland wäre nach allgemeiner Ansicht nicht ohne entsprechende Änderungen des Grundgesetzes realisierbar. Hierzu bedürfte es breiter Zustimmung in den gesetzgebenden Körperschaften, die schon mit Rücksicht auf die überwiegend ablehnende Haltung der Länder gegenwärtig nicht erkennbar ist.“Gilt Art.20 Abs.2 GG nicht mehr?
Auf der Justizministerkonferenz am 14. November 2013 haben lediglich Sachsen, Brandenburg und Schleswig-Holstein einem Vorstoß in dieser Richtung zugestimmt. Regierungen und die sie tragenden Parteien weigern sich schlichtweg, ihre Macht über die Justiz abzugeben. Aber genau das ist der Sinn der Gewaltenteilung.
Mangelhafte Unabhängigkeit der obersten Gerichte
Die Richter der Bundesgerichte (Bundesgerichtshof, Bundesverwaltungsgericht usw.) werden von einem Richterwahlausschuss gewählt, dem die Justizminister der Länder und 16 vom Bundestag gewählte Mitglieder angehören. Lediglich 9 Bundesländer können auf ein gesetzlich geregeltes Richterwahlverfahren verweisen. Und auch dort behält die jeweilige Landesregierung bei der Wahl und der Ernennung von Richtern das Heft des Handelns fest in der Hand. Von einem unabhängigen, unparteiischen Wahlverfahren ist nirgends die Rede.Mangelhafte Unabhängigkeit des BVerfG
Bundestag und Bundesrat wählen je die Hälfte, also vier Richter, in die Senate
Im Bundesrat werden die Richter durch das Plenum gewählt. Grundlage ist hierbei in der Regel ein durch die Ministerpräsidenten eingebrachter Antrag.
Ein zwölf Mitglieder umfassender Wahlausschuss des Bundestages beschließt mit mindestens acht von zwölf Stimmen, dem Bundestag einen Wahlvorschlag zu unterbreiten, der dann ggf. mit einer Zweidrittelmehrheit im Plenum bestätigt wird. Bis zum Jahr 2016 teilten sich CDU/CSU sowie die SPD das Vorschlagsrecht in Bundesrat und Bundestag. Ein Richter wurde von der FDP, einer von den Grünen vorgeschlagen. Seit 2016 wurden den Grünen wegen deren Sperrminorität im Bundesrat jede fünfte Richter-Benennung eingeräumt. Dafür entfiel das Vorschlagsrecht der FDP.Ergebnis: Zu Zeiten einer großen Koalition beherrschen die von den beiden Regierungsparteien vorgeschlagenen Richter beide Senate mit einer 7:1 Mehrheit.
Sieht so die notwendige kritische Distanz und Unabhängigkeit von Richtern aus, die das rechtsstaatliche Agieren von Legislative und Exekutive überwachen sollen?Mangelhafte Unabhängigkeit des EuGH
Keineswegs besser steht es um die Unabhängigkeit der Richter am EuGH. Von jedem Mitgliedsland der EU wird ein Richter zum EuGH entsandt. Dabei wird bei der Auswahl seitens der jeweiligen Regierung sicherlich sorgsam darauf geachtet, dass „ihr/e Richter/in“ die Interessen des eigenen Landes bei Gericht tatkräftig unterstützt. Auch gegen die Interessen andere Mitgliedsländer.
Wenn nach den Grundsätzen der EU Rechtsstaatlichkeit nur gewährleistet ist mit unabhängigen Richtern und Staatsanwälten, muss sich der EuGH selbst dieser Anforderung stellen. Derzeit erfüllen die Richter des EuGH diesen Anspruch sicher nicht. Richterliche Unabhängigkeit und Objektivität sieht anders aus. In Wahrheit handelt es sich bei den Richtern des EuGH drastisch formuliert um juristische Lobbyisten des jeweiligen Landes.Gibt es einen Ausweg aus dem Dilemma?
Es gibt eine Lösung, den Justizapparat vom Einfluss der Legislativen und der Exekutiven effektiv und nachhaltig zu lösen, bereits erprobt und erfolgreich.Allerdings ist das schon eine Weile her:
„In den Jahren 508/07 bis 322 v. Chr. herrschte in Athen eine direkte Demokratie, mit einer Bürgerbeteiligung, deren Ausmaß von keiner späteren Demokratie wieder erreicht worden ist.
Athens Demokratie erstreckte sich auch auf die Gerichte, die wegen ihres besonderen Charakters als Gerichtsversammlungen bezeichnet werden müssen. … 6000 Bürger bestimmte das Los jährlich zu Richtern. Berufsrichter gab es nicht. Die Richter hatten einen Eid zu leisten, der sie verpflichtete, in Übereinstimmung mit den Gesetzen sowie den Beschlüssen von Volk und Rat zu urteilen…..Die etwa siebenhundert Amtsträger wurden prinzipiell durch das Los bestimmt, ihre Amtszeit war strikt begrenzt, und sie unterlagen lückenloser Kontrolle und Rechenschaftslegung. Nur wenige herausgehobene Ämter, die besondere Kenntnisse erforderten, wie etwa die Finanzverwaltung, der Städtebau, die Wasserversorgung und das Amt der Strategen, der militärischen Befehlshaber, die vor allem für die äußere Sicherheit und die Kriegsführung zuständig waren, wurden durch Wahl vergeben. Ansonsten war das Los das Symbol für bürgerschaftliche Gleichheit, weil es gesellschaftliche Stellungen, Vermögensunterschiede und unterschiedliche Interessen neutralisierte. Das Losverfahren verhinderte Protektionismus und andere Formen der Bevorteilung im Prozess der Ämterbesetzung. Nirgends drückte sich das Ideal der gleichen Chance auf Teilhabe und Teilnahme an der Politik so klar aus wie in der athenischen Demokratie.“
Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung 6.1.2014Interessanterweise wurde in der Schweiz am 26. August 2019 eine Justizinitiative eingereicht, welche die Bestimmung der wählbaren Kandidaten durch eine vom Bundesrat ernannte unabhängige Fachkommission vorsieht und die Besetzung der frei gewordenen Bundesrichterstellen anschließend durch ein Losverfahren vornehmen möchte.
Wie könnte unter den heutigen politischen Rahmenbedingungen eine tatsächlich unabhängige Fachkommission gebildet werden? Und wie sollte das Losverfahren ablaufen?
Ein Vorschlag im Entwurf:
1. Unabhängigkeit
Richter und Staatsanwälte einschl. der zugehörigen Justizverwaltung sind von Legislative und Exekutive unabhängig und nur dem Grundgesetz unterworfen.
2. Voraussetzungen
Per Gesetz ist jeder zum Richter an einem obersten Landes- bzw. Bundesgericht sowie an den jeweiligen Verfassungsgerichten, zu einem Bundesanwalt und zu einem Generalstaatsanwalt geeignet, der mindestens 40 Jahre alt ist und nach dem Deutschen Richtergesetz die Befähigung zum Richteramt besitzt. Er muss zum Deutschen Bundestag wählbar sein, darf aber weder dem Bundestag, dem Bundesrat, der Bundesregierung noch entsprechenden Organen eines Landes angehören. Auch nicht mindestens ein Jahr zuvor.
3. Organisation
Im Sinne einer fachlichen Qualifikation werden von der Exekutive und Parteien unabhängige berufliche Organisationen für Richter, Staatsanwälte und Anwälte gebildet.
4. Losverfahren
zur Besetzung der obersten Richter und Bundesanwälte bzw. Generalstaatsanwälte.
Die drei o.g. Organisationen erstellen Vorschlagslisten für zu besetzende Stellen am Bundesverfassungsgericht, an den Landesverfassungsgerichten und an den Bundesgerichten, sowie bei der Bundesanwaltschaft und für Posten der Generalstaatsanwälte. Die Zahl der Vorgeschlagenen soll pro o.g. Organisation das Dreifache der Zahl der zu besetzenden Stelle pro Gerichtsbarkeit bzw. pro Staatsanwaltschaft betragen. Aus dem Fundus der vorgeschlagenen jeweils neun Kandidaten wird jede neu zu besetzende Stelle verlost. Nach einer Berufung schlägt die Organisation, aus dessen Reihen der Richter/Staatsanwalt gelost wurde, einen Ersatzkandidaten vor.
Weder Parteien oder deren Gremien noch Teile der Exekutive sind an diesem Verfahren beteiligt.
5. Amtszeit
Die Amtszeit aller unter 4 genannten Richter bzw. Staatsanwälte wird in dieser Position auf 6 Jahre begrenzt. Jeder Richter/Staatsanwalt darf auf Vorschlag ein zweites Mal an der Auslosung seiner Position teilnehmen.
6. Beförderung
Über die Beförderung innerhalb der Gerichte/Staatsanwaltschaften entscheidet nicht mehr die Dienstzeit, sondern eine Mehrheit der dort tätigen Richter/Staatsanwälte in geheimer Wahl. Auch die Zeit in dieser Position ist auf 6 Jahre limitiert. Anschließend erfolgt eine neue geheime Wahl.
7. Besoldung
Die Besoldung erfolgt in einer dann inkonstanten Kombination aus Dienstzeit und Position.
8. Berufsrecht
Bei berufsrechtlichen Auseinandersetzungen entscheidet eine Berufsrechtskammer, die ebenfalls von den o.g. Organisationen per Los gebildet wird.Ergänzung: Angesichts der allseits beklagten Überlastung der beiden Senate des BVerfG mit der Folge einer unangemessenen Verfahrensdauer ist eine Erweiterung um zwei weitere Senate sinnvoll. Schon bei der Besetzung dieser beiden Senate könnte das Losverfahren zum Zuge kommen.
Fazit: Das Los schafft Diversität im Justizwesen. Es verhindert Parteienklüngel, Lobbyismus, Protektionismus und andere Formen der Beeinflussung im Prozess der Ämterbesetzung. Das wiederum könnte neues Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit dieser Republik schaffen. Möglicherweise ist es bis zur Besetzung der wichtigsten Posten im Justizwesen durch ein Losverfahren ein längerer Weg. Der beginnt bekanntermaßen aber immer mit dem ersten Schritt.
Andere Vorschläge zur Erlangung der geforderten Unabhängigkeit der Justiz müssten sich an den Vorteilen eines Losverfahrens messen lassen.
Ein vergleichbares Auswahlverfahren wäre auch für die Richter am EuGH möglich, …..wenn man das denn wollte. Da sich der EuGH jedoch aus juristischen Staatslobbyisten zusammensetzt, erscheint eine enge Begrenzung seiner Kompetenzen zwingend.
13.Mai 2020
Bernhard Marquardt
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Corona Constitutional #22: Hat Kaczyński sich verrechnet?
An diesem Sonntag wird in Polen ein neuer Präsident gewählt. Offiziell. Die Sache ist nur, dass an diesem Sonntag in Polen kein neuer Präsident gewählt wird. Die Regierung hat keine Wahl organisiert bekommen, will stattdessen vom Obersten Gerichtshof diese Wahl-Nichtwahl für ungültig erklären lassen, dahinter steckt ein elaboriertes politisches Kalkül, das aber im ganz großen Stil schief gehen könnte. Extrem spannende und riskante Zeiten also in Polen, und darüber spricht Max Steinbeis in der heutigen Folge unseres Krisenpodcasts mit einem Mann, der seit vielen Jahren als eine der letzten von der Regierungspartei PiS unabhängigen Institutionen des Staates gegen den Zerfall der Rechtsstaatlichkeit ankämpft, nämlich mit dem Bürgerrechtsbeauftragten ADAM BODNAR, der obendrein auch noch eine Botschaft an das deutsche Bundesverfassungsgericht mitgebracht hat.
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Corona Constitutional #21: Ultra Vires
Der große Crash ist ausgeblieben, die Eurozone, die EZB und die Finanzmärkte scheinen unbeeindruckt vom jüngsten Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts in Sachen Anleihenkaufprogramm. Um so größer ist das Entsetzen bei denen, die sich um die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft sorgen. Karlsruhe hat dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg zum ersten Mal offen den Gehorsam aufgekündigt, hat dem EuGH bescheinigt, den Kompetenzrahmen der EU gesprengt und ein offensichtlich falsches, nicht nachvollziehbares Urteil gefällt zu haben, und das in Zeiten, wo die Herrschaft des Rechts in der EU ohnehin schon aufs äußerste prekär geworden ist. Was hat das deutsche Bundesverfassungsgericht, das bislang angesehenste und einflussreichste Verfassungsgericht Europas, wenn nicht gar der Welt, da angerichtet? Darüber spricht Max Steinbeis mit unserem Associate Editor, dem Europarechtler ALEXANDER THIELE von der Universität Göttingen.
3 Comments
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This demonstrates that the principle of proportionality makes it possible to do whatever is supposed to be necessary to judges, including the worst… they are making politics but they do not really know the politics they are making…
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Proportionality is a jurisdictional chewing gum principle.
Usually used to limit individual rights for the sake of legitimate public objectives (e.g. in voting rules, individual choice vs. party representation), here it is used to limit the monetary policy instruments.
However, not monetary policy as such is the ultimate target (the borderline between monetary and let’s say fiscal measures is fluid), but the (much ignored) UE democratic foundation, which is an inter-state sovereignty. The BVerfG is the only authority in Europe who fully understands and respects the principles of constitutional democracy: the sovereign people vote, elect representatives who support a government which acts under the scrutiny of the judicial. In particular the people’s representatives approve the taxes needed to finance their security and welfare. There is no European nor Euro-zone “people” who disposes of the instruments of democracy to approve UE or Euro-taxes.The tax payers necessarily rely on their national parliament and trust their government not to pay for expenses they do not control. A too aggressive BCE policy (e.g. unlimited acquisition of state debt of one single country) replaces national fiscal policy and tends to finance (at the cost and risk of the citizen tax payers of the other countries) willfully divergent national economies, possibly governed by anti-European majorities (Italy 2011, 2018, and maybe 2022). Fiscal coordination and discipline should not be abandoned to the BCE acting behind the curtains on the secondary public debt markets, but should be addressed publicly by the Euro-group (inter-state, not federal) authorities and ultimately by the national authorities (government, parliament, public opinion and judiciary). Could that not be the positive message of the sentence? -
Die Ankäufe von Staatsanleihen dienen laut EZB dazu, dass die Inflationsraten mittelfristig von unter, aber nahe bei 2 % liegen. Der EuGH vertritt dazu eine Nutella-Rechtsprechung („Wenn die EZB auf ihre Beschlüsse Geldpolitik draufschreibt, dann ist auch Geldpolitik drin.“). Und in diesem Podcast werden die „Kausalitäten“ der Geldpolitik in Hinblick auf bestimmte wirtschaftspolitische Folgen problematisiert.
Wenn die EZB nicht italienische Staatsanleihen ankaufen würde, würde das vergleichsweise miese Rating Italiens (BBB) weiter herabgestuft werden und der Zinsspread zu Bundesanleihen würden sich weiter erhöhen. Die Begrenzung des Zinsspread tritt unabhängig davon ein, ob die italienischen Staatsanleihen von der EZB am Primärmarkt oder am Sekundärmarkt gekauft werden. Die Auswirkungen der EZB-Politik auf die Finanzierbarkeit des italienischen Staatshaushalts (Vermeidung höherer Zinslasten) und damit für die Existenz der Eurozone sind für mich evident.
Mit Verlaub: Ausführungen der EZB und des EuGH, die die Auswirkungen der Geldpolitik auf den italienischen Staatshaushalt nicht in den Mittelpunkt stellen, sind für mich unseriös. Das ist ungefähr so, als ob ein leibhaftiger Elephant bei der Geburtstagsfeier im Zimmer wäre, die Geburtstagsgäste sich aber nur über irgendeine Nippesfigur im Raum unterhalten.
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Corona Constitutional #20: Die Impfpass-Elite?
Der eine hat die Antikörper. Die andere hat sie nicht. Der eine hat im Impfpass stehen, dass er immun ist. Die andere kann sich nicht ausweisen. Der eine darf alles. Die andere darf nichts. Soll das unsere Wirklichkeit sein in der nächsten Phase der Coronakrise? Gesundheitsminister Spahn will einen Immunitätsausweis im Infektionsschutzgesetz verankern. Spaltet das die Gesellschaft in Privilegierte und Freiheitsbeschränkte? Aber wenn jemand immun und damit weder gefährlich noch gefährdet ist – mit welchem Recht kann man dann von ihm noch verlangen, seine Freiheit zu beschränken? In der heutigen Folge von Corona Constitutional spricht Max Steinbeis über diese Fragen mit der Gesundheitsrechtsspezialistin ANIKA KLAFKI von der Universität Jena.
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Danke für ein paar klare Gedanken zu diesem heißen Thema!
Mich hätte in diesem Zusammenhang noch ein kleiner Schwenker zum Eingriff in die Unverletzlichkeit der Wohnung interessiert. Ist natürlich etwas anders gelagert… -
Damit man dieses Gesetz einsehen kann, empfehle ich die “Democracy” App (google playstore), die alles Gesetzesanträge des Bundestages aufführt.
Das Verhängen von Maßnahmen, die Grundrechte einzuschränken, wenn man keine Antikörper gegen einen Virus nachweisen kann, verstößt in meinen Augen gegen die Charta der Grundrechte der EU, §21, da dies ein genetisches Merkmal ist, ob man immun gegen einen Virus ist oder nicht. Es handelt sich demnach um Diskriminierung.
Artikel 21 – Nichtdiskriminierung
1. Diskriminierungen insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung sind verboten.
2. Unbeschadet besonderer Bestimmungen der Verträge ist in ihrem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten.
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Interessantes Interview! Anuscheh Farahats zweitletzte Antwort ist m.E. der springende Punkt des (mehrschichtigen) Konfliktes (zwischen Gerichten, zwischen EU-Instanzen und zwischen Mitgliedsstaaten). Der eigentliche Konflikt betrifft nicht die Verhältnismäßigkeit der unabhängigen Währungspolitik der EZB (ein komplizierter unendlicher Regress ohne rechtlich überzeugende Lösung), sondern das Zusammenspiel oder Gegeneinanderspiel von EZB, Euro-Gruppe und 19 nationalen Wirtschafts- und Finanzpolitiken. Ich bin jedoch nicht ganz mit der letzten Antwort einverstanden; ich glaube nicht, dass weitere Befugnisse oder weiteres Eingreifen des EU-Parlamentes in eine zukünftige europäische Steuerpolitik (EU-Steuern, EU-Steueramt, zwischenstaatliche Finanztransfers?) den bestehenden Konflikt beheben kann oder soll, sondern glaube, dass es eher im Eurosystem strengeren gemeinsamen Haushaltsregeln und einer strengeren Überwachung der Einhaltung der Regeln in den Mitgliedsstaaten bedarf. Der Unterschied zwischen den zwei Lösungen ist beträchtlich. Strengere Konvergenz der Wirtschafts- und Finanzpolitik im Euro-System, welche weniger auf eine allzu aktive Währungspolitik der EZB angewiesen ist, das ist was das BVerfG eigentlich will, glaube ich. Das würde ein langsames Abdriften schwächerer Wirtschaften und Finanzsystemen verhindern und das Risiko der Steuerzahler und Wähler der stärkeren Wirtschaften in Grenzen halten. Ich wäre mit dieser Schlussfolgerung voll einverstanden.