06 February 2019

Questions to the ministers: Der Bundestag berät sich über die Zukunft der Regierungsbefragung

„Das Grundgesetz hat den Deutschen Bundestag als Gesetzgebungsorgan, nicht als umfassendes ,Rechtsaufsichtsorgan‘ über die Bundesregierung eingesetzt.“ Dieser Satz findet sich im Beschluss des Zweiten Senats des BVerfG vom 11. Dezember 2018, mit dem die gegen verschiedene Maßnahmen und Nichtmaßnahmen der Bundesregierung im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise gerichteten Anträge der AfD-Fraktion als unzulässig verworfen wurden. Er verweist das Verhältnis von Parlament und Regierung auf eine Alternative: entweder Gesetzgebung oder Rechtsaufsicht, entweder Normsetzung oder Kontrolle.

Wenn der Bundestag mit dieser Gegenüberstellung richtig beschrieben wäre, hätte er es sich sparen können, seine seit der Bundestagswahl 2017 anhaltenden Bemühungen um eine Reform der Regierungsbefragung am vergangenen Mittwoch mit einer Sachverständigenanhörung im 1. Ausschuss fortzusetzen (hier die Stellungnahmen). Denn dass die Mitglieder der Bundesregierung dem Parlament in öffentlicher Rede Rechenschaft ablegen, auf Fragen antworten, politische Bewertungen abgeben und begründen, auf Vorhaltungen schlagfertig oder ausweichend reagieren, all das hat weder etwas mit dem Gesetzgebungsverfahren des Bundestages zu tun noch dient es der Kontrolle der Rechtmäßigkeit des Regierungshandelns. Es geht um etwas anderes, nämlich um die institutionelle Bedeutung der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Regierung.  

Keine Sternstunden 

Die heutige Praxis der Befragung der Bundesregierung, die in Sitzungswochen mittwochs um 13 Uhr stattfindet, ist ein notorisches Problem. Der ehemalige Bundestagspräsident Norbert Lammert hat dazu in seiner Abschiedsrede vom 5. September 2017 das Nötige gesagt (ab Minute 4.20). Vor allem der Vergleich mit den spektakulären Prime Minister’s Questions (PMQs) im House of Commons, bei denen sich Premierminister und Leader of the Opposition, Ministerriege und Schattenministerriege in dichter Atmosphäre gegenübertreten, ist deprimierend. Nicht mehr als dreißig Minuten nimmt sich der Bundestag in der Regel Zeit für die Regierungsbefragung; manchmal, wenn die Kanzlerin kommt (eine Innovation der 19. Wahlperiode), sind es auch 60. Die Bundesminister glänzen häufig durch Abwesenheit und schicken ihre Parlamentarischen Staatssekretäre. Doch nicht nur das: Das ganze Verfahren der Regierungsbefragung scheint hochgradig von den Interessen der Exekutive her konzipiert. Nicht der Bundestag, sondern das Bundeskanzleramt gibt die Themenstellung vor und entscheidet, welcher Minister sich dem Parlament stellen muss. Dabei kann sich die Bundesregierung regelmäßig am Grundsatz größtmöglicher Schonung ihres Personals orientieren. Die Bundesregierung kann zum Beispiel zusehen, welcher Minister im Augenblick am wenigsten Anstoß in der Öffentlichkeit erregt und ihn dann mit einem möglichst unstreitigen Thema zur Regierungsbefragung schicken. Eine antijournalistische Logik, die das ganze Instrument vorhersehbar torpediert. So musste es sich die Opposition im Deutschen Bundestag etwa bieten lassen, dass die Bundesregierung auf dem Höhepunkt des Konflikts zwischen den Unionsparteien über die Asylpolitik am 13. Juni 2018 als Thema der Regierungsbefragung den „Klimaschutzbericht 2017“ vorgab und die zu diesem Zeitpunkt noch durch keinerlei Initiativen hervorgetretene Bundesumweltministerin Svenja Schulze als zu befragende Ministerin benannte. Letzten Mittwoch, kurz vor besagter Anhörung, ließ sich im Plenum die Bundesbildungsministerin zum Thema „Entwurf eines Sechsundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (26. BAföGÄndG)“) befragen. Andere Beispiele gibt es zuhauf. Die Regierung behandelt das Institut eben häufig noch als das, woraus es sich historisch entwickelt hat: als eine auf die parlamentarische Form geschminkte Kabinettsberichterstattung, bei der sie das Parlament einseitig über ihre Ergebnisse unterrichtet (Christoph Schönberger hat das aufgearbeitet).

Kann man das ändern? Die Regierungsfraktionen im Geschäftsordnungsausschuss haben sich auf eine Beschlussempfehlung geeinigt, die unter anderem vorsieht, dass die Befragung grundsätzlich eine Stunde, ausnahmsweise 1 ¼ Stunden dauern soll. Die Regierung soll die Tagesordnung der Kabinettssitzung dem Bundestag künftig schon montags zur besseren Vorbereitung übermitteln. Die Minister sollen sich reihum in der Regierungsbefragung blicken lassen, immer zumindest einer, dreimal im Jahr die Regierungschefin. Auch künftig gewönne der Bundestag damit freilich keinen Einfluss darauf, welches Ressort in welcher Woche im Fokus der Befragung steht. Insoweit gehen die Vorschläge der Opposition weiter (hier, hier und hier – die selbsterklärte Reanimateurin des Parlamentarismus von der rechten Seite hat keinen Vorschlag erarbeitet). Vor allem die Grünen möchten mittwochs grundsätzlich nicht nur ein, sondern alle Mitglieder der Bundesregierung auf der Regierungsbank sehen und die Themen der Befragung im Parlament festlegen lassen. 

Zu den Grenzen verfassungsrechtlicher Grenzen 

Schon diese zaghaften Reformschritte der Koalition unterliegen nach vorherrschender Auffassung engen verfassungsrechtlichen Grenzen. Dafür gibt es drei konventionelle Begründungen, die auch in der Anhörung wieder aufgeboten wurden. Erstens: die Geschäftsordnung sei als „autonome Satzung“ gar nicht in der Lage, die Bundesregierung rechtlich zu binden. Denn der Bundestag gebe nach Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG „sich“, nicht aber einem anderen Organ eine Geschäftsordnung. Zweitens: um ein konkretes Mitglied der Bundesregierung zur Präsenz in der Befragung zu zwingen, verlange Art. 43 Abs. 1 GG eine parlamentarische Mehrheitsentscheidung, zu der die Regierungsfraktionen aber in der Regel nicht bereit sind. Drittens: solange ein Beschluss des Bundestages nach Art. 43 Abs. 1 GG nicht vorliege, sei die Praxis der Stellvertretung von Bundesministern durch Parlamentarische Staatssekretäre gegenüber dem Bundestag Ausdruck der Ressortautonomie und daher nicht zu beanstanden. Dass freilich gerade diese Praxis verfassungspolitisch völlig verfehlt ist, weil sie die Unterscheidung zwischen parlamentarisch verantwortlichen Regierungsmitgliedern und nicht verantwortlichen „Parlamentarischen“ überspielt, machen die Stellungnahmen von Jelena von Achenbach und Christoph Schönberger deutlich. Trotzdem muss man sehen, dass die Regierung hier in einer schwierigen Lage ist: Die Vertretung des Ressorts in der Befragung ist eine der wenigen Möglichkeiten, das Prestigebedürfnis in einem ansonsten in seinem Aufgabenzuschnitt nicht eindeutigen Amt zu befriedigen. 

Besonders unkonventionell ist die Stellungnahme von Christoph Schönberger: Das Knäuel aus spätkonstitutionellem Geschäftsordnungsbegriff und kaiserzeitlicher Majoritätsinterpellation möchte er mit einer gewagten Auslegung des Art. 43 Abs. 1 GG durchschlagen. Der Beschluss des Bundestages über die Einrichtung einer Regierungsbefragung sei nämlich nichts anderes als eine generelle Ausübung des Zitierrechts; alle Mitglieder der Bundesregierung seien deswegen grundsätzlich immer verpflichtet, in der Regierungsbefragung zu erscheinen. Er möchte den Bundestag also kurz gesagt via interpretationis westminsterisieren. Dieser Vorschlag bleibt auch dann inspirierend und erhellend, wenn man (wie ich) die zugrundeliegende Auslegung des jetzigen § 106 GOBT für zu weitreichend hält. Denn er macht schlaglichtartig den Variantenreichtum klar, der sich auch innerhalb des heutigen Verfassungsrahmens für die institutionelle Weiterentwicklung des Deutschen Bundestages bietet. Die Stichworte der h.M. zur angeblich zwingend auf den Intraorganbereich beschränken Funktion von Geschäftsordnungsrecht beruhen ja auf der Annahme, dass die Wahrnehmung von Interorganrechten keiner Konkretisierung fähig und bedürftig ist. Das halte ich für überholt und würde deswegen meinen, dass auch die Reform der Regierungsbefragung verfassungsrechtliche Bedenken nur auf der Basis einer mit der Stellung des Bundestages in der Verfassungsordnung unvereinbaren Auffassung zur Reichweite des Geschäftsordnungsrechts aufwirft. (NB: Ich habe kürzlich habilitandi causa einiges dazu aufgeschrieben; wer es genauer wissen will, muss auf das Herbstprogramm bei Mohr Siebeck warten). 

Das Selbstverständnis des Bundestages und die Strategie der Opposition

Freilich ist die Frage nach der richtigen Richtung der institutionellen Fortentwicklung des Bundestages gerade das Schlüsselthema, das hinter allen Überlegungen zur Reform der Regierungsbefragung steht. Besteht nicht in den unsachlichen Duellen einer echten agonalen Regierungsbefragung die Gefahr, dass die große Stärke des Deutschen Bundestages Schaden nimmt: die kleinteilige Gesetzgebungsarbeit und Regierungskontrolle in den Ausschüssen? Oder wollen wir Westminster? Wollen wir PMQs? (Michael Koß hat übrigens soeben in einem überaus lesenswerten Buch den historischen Übergang vom Arbeits- zum Redeparlament als Strategie des parlamentarischen Umgangs mit systemfeindlichen Parteien dechiffriert; gerade das macht die Zukunft der Regierungsbefragung in einem Parlament mit erstarkenden Rändern so ungemein grundsätzlich). 

Christoph Möllers hat in seiner Stellungnahme die Gründe aufgezeigt, weshalb der Bundestag dieses vielbewunderte britische Format gerade nicht einfach adaptieren, sondern bestenfalls innerhalb seiner eigenen institutionellen Logik nachempfinden kann. Man kann – kurz gesagt – nicht beides haben: das Verhältniswahlrecht und eine harte vorgegebene parlamentarische Unterscheidung von Regierung und Opposition. Trotzdem ist das demokratische Prinzip natürlich dasselbe: „Die Regierungsbefragung gibt bei richtiger Ausgestaltung Gelegenheit für Spontaneität und agonalen politischen Austausch, in dem sich die Beteiligten in öffentlicher Rede bewähren können.“ Debatten in der Regierungsbefragung dürfen dazu, wie Möllers hervorhebt, nicht zu spezialistisch sein, sondern müssen grundsätzlich die gesamte Regierungspolitik betreffen können, die Opposition muss effektiven Einfluss auf Themen und Gang der Debatte und die zu befragenden Minister haben und die Vertretung der Bundesregierung durch Parlamentarische Staatssekretäre muss beendet werden. 

Trüge man diesen Grundsätzen wirklich Rechnung, so fiele damit allerdings der Regierungskompromiss in sich zusammen. Und zwar schon deswegen, weil die Entsendung der Mitglieder der Bundesregierung in die Befragung nach einer vorab festgelegten Reihenfolge ihn torpediert. Einerseits ist gar nicht absehbar, in welcher Woche der Bundestag bei welchem Ressort den meisten Erklärungsbedarf sieht. Zum anderen: Wie viele Minister wären denn realistisch betrachtet in der Lage, über das gesamte Themenfeld der Regierungspolitik spontan zu sprechen? In der Regel sind das neben dem Bundeskanzler nur ein oder zwei politische Schwergewichte, zu denen in der Regel der Parteivorsitzende des Koalitionspartners gehört, so er denn (derzeit ja nicht) Minister ist. Woraus folgt, dass der verfassungsrechtliche und politische Sinn der Regierungsbefragung nur erreicht werden kann, wenn mehrere Mitglieder der Bundesregierung, jedenfalls aus allen Regierungsparteien und den großen thematischen Gruppen der Ressorts, an ihr teilnehmen. 

Warum das bisher nicht geschieht, hängt aber vielleicht nicht allein mit dem unzufriedenstellenden Geschäftsordnungsrecht zusammen. Überhaupt sollte die Opposition nicht zu laut lamentieren, dass sie mit ihren weitergehenden Vorschlägen an der Geschlossenheit der Koalitionsfraktionen gescheitert ist. Das ungelöste verfassungsrechtliche Problem der Regierungsbefragung verweist nämlich am Ende auf das dahinterstehende, viel grundsätzlichere Problem des Selbstverständnisses des Deutschen Bundestages, und zwar gerade seiner Opposition. Die Praxis der Regierungsbefragung ist nämlich auch die Folge ihrer eigenen Prioritätensetzung. Dass die Oppositionsparteien im deutschen Regierungssystem gute Gründe haben, sich mit der Regierung in den Verhandlungssystemen der Ausschüsse und des Föderalismus zu arrangieren statt sie im Plenum scharf zu konfrontieren, liegt ja, wie Philip Manow vor kurzem eindringlich aufgezeigt hat, an allem möglichen, aber kaum ursächlich an der Regierungsbefragung. Die Opposition spult sie vielmehr – wenn nicht gerade die Kanzlerin kommt – als Pflichtübung ab, indem sie in aller Regel ihre Hinterbänkler vorschickt. Die Schwäche der mündlichen Formen der Regierungskontrolle liegt also auch am häufigen Desinteresse der Opposition an diesem Format. Man kann geradezu von einem disengagement compact zwischen Regierung und Opposition bei der Regierungskontrolle im Plenum sprechen: Die Opposition erwartet bei der Regierungsbefragung keine Anwesenheit der Minister, weil sie das Wohlwollen der Regierung zur Durchsetzung von Interessen in den Verhandlungssystemen der Ausschüsse und der föderalen Koordinierung schätzt, und im Gegenzug muss die Bundesregierung auch nicht die Anwesenheit der politischen Schwergewichte der Opposition fürchten. 

Würde die Opposition die Befragung der Bundesregierung (und die aktuellen Stunden!) nicht mehr vornehmlich von Abgeordneten aus der zweiten, dritten oder vierten Reihe bestreiten lassen, sondern ihr Führungspersonal auffahren, dann könnte die Regierung auf Dauer weder immer nur die Minister ins Parlament abkommandieren, deren Themen gerade wirklich niemanden interessieren, noch allgemeine Fragen ihrer Politik von Parlamentarischen Staatssekretären und dem Staatsminister im Kanzleramt beantworten lassen. Auch die Regierungsfraktionen würden es sich dann andererseits nicht mehr leisten können, das Plenum bei solchen Tagesordnungspunkten mit einer kleinen B-Mannschaft zu bespielen. 

Von Florian Meinel wird in der kommenden Woche das Buch “Vertrauensfrage. Zur Krise des heutigen Parlamentarismus” erscheinen.


One Comment

  1. Hans Mon 6 May 2019 at 11:50 - Reply

    Liegt das Hauptproblem der mangelnden Kontrolle /Kontrollierbarkeit der Regierung durch das Parlament nicht darin, dass die Allierten als Allwissende und Demokratiebringer, für mich nicht nachvollziehbar, NICHT ihr bewährtes “Checks and balancing” in Deutschland eingeführt haben wollten, sondern das was wir haben?

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