14 September 2015

Radikaler Kosmopolitismus an der Grenze: Über Hippies und Flüchtlinge, Asylrecht und Kommunikation im globalen Dorf

Zuletzt ist oft behauptet worden, Deutschland agiere in der Flüchtlingskrise mit viel Herz, aber ohne Verstand – eben ein ausschließlich von Gefühlen geleiteter Hippie-Staat, wie es der britische Politikwissenschaftler Anthony Glees auf den Punkt brachte. Das ist falsch bzw. unzulässig verkürzt. Denn selbstverständlich folgen die deutschen Politiker, Medien und Aktivisten, vereint unter dem Motto „Refugees Welcome“, bestimmten rationalen Grundsätzen.

In der Juliausgabe von 1967 berichtete das Time Magazine seinen Leser über die Philosophie der neuen Jugend-Subkultur der Hippies in den USA. Als frühe Vertreter der Hippy-Bewegung machte die Zeitschrift Diogenes von Sinope und die Kyniker aus. Der Exilant Diogenes gab wenig auf Konventionen. Dazu gehörte, dass er sich zum Weltbürger, Kosmopoliten erklärte, dessen Polis keine bestimmte Stadt, sondern gleich das ganze Universum sei. Das stellte vor dem Hintergrund der antiken Welt der Stadtstaaten eine ungeheuerliche Provokation dar, war aber nicht mit unmittelbaren politischen oder rechtlichen Forderungen verknüpft.

Seit dem Ende des Kalten Krieges erleben wir eine neue Welle des kosmopolitischen Denkens, global betrachtet, aber speziell auch in Deutschland. Letzteres ist kein Zufall, denn der aufklärerische Kosmopolitismus des 18. Jahrhunderts war in den fragmentierten deutschen Ländern besonders ausgeprägt. Der berühmteste deutsche Philosoph der Aufkärung mit weltbürgerlicher Absicht war Immanuel Kant aus Königsberg, dessen Philosophie und insbesondere dessen Konzept des Weltbürgerrechts sich in der Flüchtlingsdebatte einer gewissen Beliebtheit unter Linken erfreut. Doch Kant hatte wenig zu tun mit Diogenes & Co., sondern war vom Kosmopolitismus der Stoiker beeinflusst. Für Letztere war die Vorstellung der ethischen Gleichheit aller Menschen durchaus vereinbar mit dem Leben in einer konkreten politischen Gesellschaft, Kosmopolitismus und Patriotismus kein Widerspruch. Ähnlich sah es Kant: Staatsbürgerschaft und Weltbürgerschaft müssen einander ergänzen.

Viele der Linken und neuen Kosmopoliten hingegen vertreten einen exklusiven, keinen komplementären Kosmopolitismus. Sie wollen nur noch Weltbürger, keine Staatsbürger mehr sein. An der Haltung zur Flüchlingsthematik lässt sich dies besonders gut ablesen. Nicht nur der Flüchtlingsbegriff ist in der öffentlichen Debatte so weit aufgeweicht worden, dass sich das UNHCR dazu genötigt sah, auf die wichtige Unterscheidung zwischen Flüchtling und Migrant hinzuweisen. Nein, auch die Frage der staatlichen Kapazitätsgrenze bei der Aufnahme wurde lange systematisch ausgeblendet oder weggelächelt.

Es ist nicht nur mit der verbreiteten Flüchtlings-Euphorie zu erklären, was die Bundeskanzlerin am 11. September 2015 in einem Interview erklärte. Nach der Anzahl der Flüchtlinge gefragt, die Deutschland pro Jahr vertragen könne, um sie gut aufzunehmen, antwortete Angela Merkel: „Da kann es keine einfache Zahl als Antwort geben. Das Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte kennt keine Obergrenze; das gilt auch für die Flüchtlinge, die aus der Hölle eines Bürgerkriegs zu uns kommen.“ An dieser Bemerkung ist nichts falsch, denn weder das deutsche Recht, noch das Völkerrecht enthalten Bestimmungen zu Obergrenzen. Aber natürlich gibt es Grenzen der Aufnahmefähigkeit der Staaten, was Merkel vergaß zu erwähnen. Mit Äußerungen wie dieser und insbesondere der Öffnung der Grenzen für zehntausende Menschen aus Ungarn war Merkel im nationalen und europäischen Vergleich tatsächlich auf einmal flüchtlingspolitisch links außen gelandet.

Die Bundeskanzlerin dürfte jedoch kaum abgeschätzt haben, welche Wirkung ihre Äußerungen und Handlungen im Zeitalter des Internets haben. Überhaupt hatte wohl kaum jemand daran gedacht, dass auch nationale öffentliche Debatten heute einem weltweiten Publikum zugänglich sind. Wenige wollten wahrhaben, dass die Diskussion der neuen „nationalen Aufgabe“, hunderttausende „potentielle Neubürger“ in kürzester Zeit in Arbeit oder Ausbildung zu bringen und mit Wohnungen zu versorgen, als Einladung verstanden werden könnte. Die deutschen Botschaften und das Auswärtige Amt versuchen nun in den Herkunfts- und Transitländern der Flüchtlinge, eine weitere Massenmigration Richtung Deutschland zu verhindern.

Wie die Aussetzung des Schengen-Abkommens zeigt, war der Flirt Deutschlands mit dem radikalen Kosmopolitismus als politischer Doktrin doch nur ein relativ kurzer. Warum wieder mal wir Deutschen der Sehnsucht nach extremen politischen Lösungen nachgegeben haben, sei hier dahingestellt. In Zukunft sollte unser politischer Kompass in weltbürgerlicher Beziehung besser auf die Stoiker und Kant und nicht die Kyniker und viele der neuen Kosmopoliten ausgerichtet sein. Auch wenn das Recht auf Asyl unbegrenzt ist, so ist es doch kein Staat der Welt. Echte „Willkommenskultur“ geht nur ohne Selbstüberschätzung, Realitätsverlust und Hochmut – insbesondere gegenüber unseren europäischen Nachbarn in Ostmitteleuropa.

Abschließend möchte ich noch einige Beobachtungen zur polnischen Perspektive machen. Die derzeitige Debatte findet nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Wahlkampfes zu den Parlamentswahlen im Oktober statt. Letzten Sonnabend gab es in ganz Polen Demonstrationen, einerseits gegen die Aufnahme von „Immigranten“, andererseits für die Aufnahme von „Flüchtlingen“. Die Wahl der Begriffe macht bereits die fundamental unterschiedliche Sichtweise deutlich. Während man in den letzten Wochen unter den deutschen Politikern und in den deutschen Medien abweichende Meinungen fast mit der Lupe suchen musste, geht es in der polnischen Debatte on- und offline pluraler, aber auch brachialer zu.

Es lässt sich nicht übersehen, dass es in der sich langsam öffnenden, noch homogenen polnischen Bevölkerung eine große Angst vor Fremden allgemein und speziell den Muslimen gibt. Doch die polnische Geschichte und gegenwärtige Gesellschaft hat viele Facetten, die nicht ausgeblendet werden dürfen. Dazu gehört die lange multi-ethnische Erfahrung bis zum Zweiten Weltkrieg. Den meisten Warschauern dürften die Rechtsradikalen, die am Sonnabendnachmittag zu Tausenden durch die Stadt zogen, nicht besonders gefallen haben. Ihre Ansichten jedoch, dass Muslime sich schlechter integrieren, öfter die Sozialkassen belasten oder ein Sicherheitsrisiko darstellen, wird von der überwiegenden Bevölkerung geteilt.

Die Befürworter sind weniger, aber es gibt sie. Unter dem Motto „Uchodźcy mile widziani” (Flüchtlinge willkommen) fanden sich in Warschau und anderswo zur gleichen Zeit ebenfalls einige tausend von ihnen zu Kundgebungen zusammen. Sie verweisen neben den humanitären Verpflichtungen Polens insbesondere darauf, dass ihr Land größter Nettoempfänger der EU ist, Millionen polnischer Staatsbürger seit jeher ihr Glück im Ausland suchen oder Polen als treuer Verbündeter der USA zumindest eine Mitschuld an der Situation im Nahen Osten trifft.


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