„Rasse“ im Parlamentarischen Rat und die Dynamik der Gleichheitsidee seit 1776 (Teil V)
Es gibt keine „Rassen“ im biologischen Sinn. Rasse bleibt aber wichtig, weil und solange sie als gesellschaftliche Zuschreibung weiter die Wirklichkeit prägt. Den Begriff der Rasse im Grundgesetz zu streichen, ist nicht nur entbehrlich, sondern riskiert, den verfassungsrechtlichen Diskriminierungsschutz zu schwächen, statt ihn zu stärken.
Das soll in diesem fünfteiligen Beitrag näher begründet werden (vgl. die vorangehenden Teile: I, II, III und IV) – der mit dem heutigen fünften Teil abgeschlossen wird.
Von Mangoldts rassistische Aussagen im Parlamentarischen Rat – und ihr Widerspruch zu seinem eigenen dynamischen Gleichheitsverständnis
1. Mit seinen rassistischen Äußerungen im Parlamentarischen Rat (s. Teil I) schien Hermann v. Mangoldt zunächst durchaus nahezulegen, dass mit seinem Gleichheitsverständnis eine soziale Trennung der „Rassen“ nach dem Grundsatz „separate but equal“ durchaus vereinbar war. Auf die Nachfrage Bergsträssers, ob danach ein „Kind, das von einem [N-Wort] und einer Deutschen stammt“ als „verschiedenartig“ angesehen werden könne, beteuerte v. Mangoldt allerdings, wie gesehen, dass der Mindeststandard gleicher Rechte eine Benachteiligung wegen der Rasse gerade ausschließe (s. Teil I, unter 9.).
Nun mag sich v. Mangoldt dabei durchaus gedacht haben, dass allein in einer Trennung der Rassen eben noch keine „Benachteiligung“ in diesem Sinne zu sehen sei. So argumentierte schließlich damals auch der U.S. Supreme Court noch, dessen Rechtsprechung zum Separate-but-equal-Grundsatz er ja in seiner Untersuchung von 1938 eingehend aufgearbeitet hatte (s. Teil II, unter 2.). Gesagt hat v. Mangoldt das allerdings nicht. Womöglich beherzigte er damit selbst die Erkenntnis, die er kurz zuvor noch so offen zu Protokoll ausgesprochen hatte: „nur sagen kann man es nicht.“ Indem er stattdessen Thomas Dehler beipflichtete, der Bergsträssers Frage ja ausdrücklich verneint hatte, legte er stattdessen nahe, dass sein Mindeststandard gleicher Freiheit gerade (auch) jeder Bewertung als „verschiedenartig“ wegen der „Rasse“ entgegenstehe.
Was v. Mangoldt aber im Grundsatzausschuss schon nicht sagen – oder jedenfalls: nicht auf eine ausdrücklich gegenläufige Nachfrage hin näher ausführen – mochte, das kann schon deshalb nicht als Wille der verfassungsgebenden Gewalt zu betrachten sein.
2. Was wäre aber, wenn v. Mangoldt deutlicher den verfehlten Standpunkt des Plessy-Urteils vertreten hätte, mit Blick auf die Rassentrennung könne „separate“ zugleich „equal“ sein?
Selbst dann entspräche es sowohl seinem eigenen damaligen Willen als auch dem Willen der verfassungsgebenden Gewalt, diese Frage selbständig und vom heutigen Wissensstand aus zu beurteilen. Denn es ist, wie im ersten Teil erläutert, sorgfältig zwischen den allgemeineren und den konkreteren Anwendungserwartungen der Entstehungszeit zu unterscheiden (s. Teil I, unter 7.).
Die verfassungsgebende Gewalt des Grundgesetzes wollte den Grundrechten eine dynamische Entwicklungsfähigkeit geben, in der ihre historischen Wertungen in „denkendem Gehorsam“ (Heck) auf gewandelte Verhältnisse zur Anwendung zu bringen sind (vgl. dazu nochmals hier, S. 405 f. mit den dortigen w.Nw.). Die subjektiv-historische Auslegung führt deshalb unter dem Grundgesetz, wie schon erläutert, zu einem „Living Originalism“, bei dem schon die entstehungszeitliche Bedeutung der Verfassung gerade keine Versteinerung bedeutet, sondern selbst für eine Weiterentwicklung offen ist (s. Teil I, unter 6.).
Gerade v. Mangoldt lag es denkbar fern, seine eigenen konkreteren Anwendungserwartungen als ein Anwendungsmaximum für den Gleichheitssatz festschreiben zu wollen. Schließlich war er es selbst, der im Parlamentarischen Rat die gewollte Beweglichkeit der Grundrechtssätze in der späteren Auslegung wiederholt betonte (s. Teil I, unter 3., sowie hier, S. 64, 594, 601, 603).
Wie sehr von Mangoldt um die dynamische Entwicklung gerade auch des Gleichheitsgedankens wusste, zeigt seine Untersuchung von 1938. Wie gesehen stellte er dort gerade die Lincoln-Rede von 1857 besonders heraus, die diese Dynamik so betonte (s. Teil III, unter 1.). Lincoln deutete dort das Gleichheitsversprechen der Unabhängigkeitserklärung von 1776 als ein dynamisches, auf eine immer weiter gehende Verwirklichung gerichtetes Ideal, mit dem die Sklaverei von Anfang an unvereinbar gewesen sei. Wie v. Mangoldt zweifelsohne bewusst war, erreichte Lincoln es noch selbst, dass die Sklaverei abgeschafft wurde, indem nach dem Senat im Januar 1865 auch das Abgeordnetenhaus dem 13. Verfassungszusatz zustimmte – wenige Monate, bevor Lincoln im April 1865 erschossen wurde.
„Separate“ kann mit Blick auf „Rassentrennung“ – auch bei subjektiv-historischer Auslegung des Grundgesetzes – nicht „equal“ sein
3. Dem Willen der verfassungsgebenden Gewalt des Grundgesetzes entspricht es deshalb, die Gleichheitsgrundrechte nicht versteinernd auszulegen, sondern dynamisch, so dass die tatsächlichen Auswirkungen von Ungleichbehandlungen danach selbständig und vom heutigen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse aus zu beurteilen sind. Eine solche Bewertung ergibt jedoch, dass „separate“ mit Blick auf eine „Rassentrennung“ nicht „equal“ sein kann.
Vor dem Hintergrund der Geschichte der Rassendiskriminierung war die These, ein System der „Rassentrennung“ könne nach dem Prinzip „getrennt aber gleich“ organisiert werden, ohne dass damit eine Aussage der dominierenden gesellschaftlichen Kräfte über die Minderwertigkeit der einen „Rasse“ gegenüber der anderen verbunden sei, weder heute verteidigungsfähig, noch konnte sie – erst Recht – unter den Verhältnissen von 1949, 1896 (Plessy) oder gar 1776 zutreffen.
Und selbst wenn – in ferner Zukunft – eine Gesellschaft so egalitär gestaltet wäre, dass alle faktischen Machtungleichgewichte verschwunden und alle historischen Ungleichbehandlungen vergessen wären, so würden die Benachteiligungswirkungen einer „rassengetrennt“ strukturierten Rechtsordnung doch jeder sachlichen Rechtfertigung entbehren.
Das Konzept eines Mindeststandards gleicher Rechte, wie es v. Mangoldt im Parlamentarischen Rat entwickelte, trägt daher den gedanklichen Keim der Überwindung der Separate-but-equal-Doktrin schon in sich. Eine getrennte Behandlung von „Rassen“ kann auch bei einer subjektiv-historischen Auslegung des Grundgesetzes deshalb nicht „gleich“ sein.
Der „Bogen des moralischen Universums“ ist lang. Neigt er sich der Gerechtigkeit zu?
4. Man sollte weder die Lernfähigkeit der Gleichheitserklärungen und Grundrechtskataloge unterschätzen, noch die Einsicht der sie Verfassenden in ihr Entwicklungspotential. Das sollte der historische Überblick der letzten Teile zeigen.
Wir können die Verfasser des Grundgesetzes ebenso beim Wort nehmen wie die der Equal Protection Clause des 14th Amendment von 1868 und die der Unabhängigkeitserklärung von 1776. Wenn sie von der Gleichheit aller Menschen sprachen, können wir sie an diesen allgemeinen Grundsätzen festhalten, und zwar gerade auch dann, wenn sie im Widerspruch zu ihrem eigenen Verhalten oder ihren konkreteren Anwendungsvorstellungen standen.
Mit dem Gleichheitsversprechen, das die Verfasser der Unabhängigkeitserklärung 1776 aussprachen, waren schon damals weder Sklaverei noch Rassentrennung vereinbar. Was die Sklaverei betraf, waren sie sich dessen, wie gesehen, teils auch schon selbst bewusst (vgl. Teil IV, 1.-5.). Was die Rassentrennung angeht, werden etliche von ihnen das womöglich anders gesehen und Gleichheit und soziale Trennung noch als miteinander vereinbar angesehen haben – so wie auch Lincoln 1857 und v. Mangoldt noch 1948. Das von ihnen auf allgemeinerer Ebene Gewollte und ihre konkreteren Anwendungsvorstellungen widersprachen sich insoweit. Sie erklärten jedoch gerade nicht ihre konkreten Anwendungserwartungen für maßgeblich, sondern griffen bewusst zu der allgemeinen Formel von der Gleichheit aller Menschen – wohl wissend, dass deren innere Dynamik auf eine weitergehende Entfaltung drängen würde.
5. Der Gleichheitssatz des Grundgesetzes sollte sich nach alledem ebenso zukunftsgerichtet entfalten, wie jener lange „Bogen des moralischen Universums“, von dem Martin Luther King Jr., darin Theodore Parker folgend, hoffte, dass er sich „der Gerechtigkeit zuneigt“:
“[T]he arc of the moral universe is long, but it bends towards justice.”
(vgl. hier, S. 119 [130 f.] und hier; s. Parker, S. 37 [48]).
Justice Ruth Bader Ginsburg knüpfte an diesen Satz in ihrem Sondervotum zum Shelby County-Urteil von 2013 an (hier, S. 24). Sie ergänzte ihn aber um einen für sie charakteristischen Zusatz, der sich auf die andauernden Probleme mit dem Rassismus bezog, aber auch ihre eigenen Erfahrungen in ihrem jahrzehntelangen stetigen Kampf für die Gleichberechtigung der Geschlechter widerspiegelt:
“[…] if there is a steadfast commitment to see the task through to completion.”
(vgl. Shelby County v. Holder, Bench Announcement, June 24, 2013, hier, S. 292 [296]).
Der Zusatz macht deutlich, dass Ginsburg den Satz von dem langen, sich der Gerechtigkeit zuneigenden Bogen des moralischen Universums weder als eine historische Tatsachenbeschreibung versteht noch im Sinne eines naiven Fortschrittsoptimismus, sondern als Ausdruck einer Hoffnung, deren Verwirklichung in unseren eigenen Händen liegt – und auf ein hohes Maß an Einsatz und Durchhaltevermögen angewiesen bleibt.
6. In seiner erwähnten Rede zum Unabhängigkeitstag von 1852 (s. Teil IV, unter 5.) hat Frederick Douglass nicht nur den Widerspruch zwischen Sklaverei und Unabhängigkeitserklärung angeprangert. Er hat die Grundsätze der Unabhängigkeitserklärung – von der Gleichheit aller in unveräußerlichen Rechten, zu denen Leben, Freiheit und Verfolgung der Glückseligkeit gehören – dort auch „rettende Grundsätze“ („saving principles“) genannt. Sie seien, in einem drohenden Sturm, „der Ringbolzen zur Kette“ des künftigen Schicksals der Vereinigten Staaten:
„I have said that the Declaration of Independence is the ring-bolt to the chain of your nation’s destiny; so, indeed, I regard it. The principles contained in that instrument are saving principles. Stand by those principles, be true to them on all occasions, in all places, against all foes, and at whatever cost.
From the round top of your ship of state, dark and threatening clouds may be seen. Heavy billows, like mountains in the distance, disclose to the leeward huge forms of flinty rocks! That bolt drawn, that chain broken, and all is lost. Cling to this day – cling to it, and to its principles, with the grasp of a storm-tossed mariner to a spar at midnight.“
Seine Warnung erwies sich nicht nur für den nachfolgenden Bürgerkrieg als allzu berechtigt. Sie bleibt auch heute bedrohlich aktuell – unter einem Präsidenten, der gezielt rassistische Ressentiments anheizt und Hass gegen Minderheiten anstachelt (vgl. nur die Begnadigung Arpaios, die Aussagen zur rechtsextremen Demonstration in Charlottesville oder die Tatsachendarstellungen in Trump v. Hawaii, von 2018 – Justice Sotomayor, dissenting, joined by Justice Ginsburg – und in der Concurring Opinion von Justice Sotomayor zur DACA-Entscheidung von 2020).
7. Wie an dem Gleichheitsversprechen der Unabhängigkeitserklärung stattdessen festgehalten und wie es weiterentwickelt werden kann, hat Danielle Allen in ihrem bahnbrechenden Werk „Politische Gleichheit“ gezeigt, das aus ihren Frankfurter Adorno-Vorlesungen von 2017 hervorgegangen ist.
Sie betont dort die zentrale Bedeutung der positiven Rechte auf gleiche demokratische Teilhabe, der „Freiheiten der Alten“, für die Gestaltung der gesamten Rechts- und Gesellschaftsordnung. Sie zeigt, wie eine diese politische Gleichheit ins Zentrum rückende Gesellschaftsordnung jenseits von Assimilation und Multikulturalismus aussehen könnte, die die Diversität unserer Identitäten, ihre „Fluidität, Hybridität und Intersektionalität“ in Rechnung stellt, aber gleichwohl soziale Vernetzungen und Brückenschläge systematisch stärkt und fördert. Die „moderne Segregation“ in den Vereinigten Staaten, die sich auch als Folge der rassistischen Vergangenheit in massiven Ungleichheiten etwa in Bildung, Vermögen und Gesundheit niederschlägt, ist aus dieser Perspektive eines der „profundesten Beispiele für Demokratieversagen“ – und damit zugleich auch für eine fortdauernde Verletzung des Rechts auf politische Gleichheit (vgl. bes. S. 105 ff., 113 ff., Zitate: S. 109 und 120).
Eine solche Fortentwicklung der Menschenrechtsidee ist unter dem Grundgesetz auch verfassungsrechtlich anschlussfähig, sieht doch das Bundesverfassungsgericht das Recht auf gleiche demokratische Selbstbestimmung zu Recht als in seinem menschenrechtlichen Kern durch die Menschenwürdegarantie gewährleistet (vgl. BVerfGE 142, 123 [Rn. 142], m.w.Nw.; hier, Rn. 100; sowie näher hier, S. 461-465) .
„Rasse“ aus dem Grundgesetz streichen? – „Race matters“ (Justice Sonia Sotomayor)
8. Was heißt das alles nun aber für die Debatte um den Begriff der „Rasse“ im Grundgesetz?
Auch wenn „Rasse“ im biologischen Sinn sich als Fiktion erwiesen hat, wird die gesellschaftliche Zuschreibung von „Rassen“ anhand äußerlicher phänotypischer Merkmale auf absehbare Zeit weiterhin Bedeutung behalten. Die soziale Konstruktion von Identitäten durch Zuschreibungen von außen erzeugt in solchen Fällen tatsächlich ihre eigene Realität. Als gesellschaftliche Tatsache bleiben Stereotype auch dann hartnäckig wirksam, wenn sie wissenschaftlich unhaltbar sind (vgl. zu Konsequenzen für die juristische Ausbildung Emanuel V. Towfigh).
Aus der sozialen Realität solcher Zuordnungen folgt jedenfalls bis auf weiteres: „Race matters.“, wie Justice Sonia Sotomayor in ihrem Sondervotum zur Schuette-Entscheidung von 2014 zu Recht festgehalten hat (vgl. für die südafrikanische Verfassung auch Pierre de Vos):
“Race matters. […]
Race […] matters because of persistent racial inequality in society […]. […]
And race matters for reasons that really are only skin deep, that cannot be discussed any other way, and that cannot be wished away. […] Race matters to a young woman’s sense of self when she states her hometown, and then is pressed, “No, where are you really from?”, regardless of how many generations her family has been in the country. […] Race matters because of the slights, the snickers, the silent judgments that reinforce that most crippling of thoughts: ‘I do not belong here.’ […]
The way to stop discrimination on the basis of race is to speak openly and candidly on the subject of race, and to apply the Constitution with eyes open to the unfortunate effects of centuries of racial discrimination. […]”
(Schuette v. Coalition to Defend Affirmative Action, Justice Sotomayor, dissenting, joined by Justice Ginsburg, 572 U.S. 291, 380-381 [2014]).
9. Man kann einer Gruppe zuzurechnen sein, die (erst) durch solche Zuschreibungen erzeugt und identifiziert wird – und insofern einer „Rasse“ nicht im biologischen, aber im gesellschaftlich zugeschriebenen Sinn angehören.
Wenn man sich selbst mit einer solchen Gruppe etwa von „Nichtweißen“ identifiziert, weil man mit anderen gemeinsame Diskriminierungserfahrungen teilt, die gerade auf solche Zuschreibungen zurückgehen, um dafür Solidarität zu erfahren und zu mobilisieren – dann muss das gerade keine Essentialisierung einer solchen Identität bedeuten (vgl. etwa die dezidiert anti-essentialistische Konzeption von „blackness as an emancipatory tool“ in Shelbys „We who are dark“; s. mit Nw. auch Silke van Dyk, hier: „Diskriminierung kann kaum „ohne Rückbezug auf die in der Abwertung zugewiesene Differenz sichtbar gemacht werden“; „Wie mit diesem Dilemma umzugehen ist, […] ist – entgegen dem Vorwurf, Identitätspolitik essenzialisiere generell Unterschiede – kontrovers debattiert worden.“; zum „Dilemma der Differenz“ s. auch Susanne Baer/Nora Markard, Art. 3 II und III, Rn. 374, 440 f., 471).
10. So verstanden, also als auf eine biologisch haltlose, aber weiterhin sozial wirksame Zuschreibung bezogen, reproduziert der Begriff der „Rasse“ nicht die rassistischen Vorurteile, die bei seiner Aufnahme in das Grundgesetz wie gesehen durchaus weiterhin wirksam waren, sondern lässt diese gerade hinter sich – so wie die verfassungsgebende Gewalt selbst es wollte.
Gleichzeitig bewahrt der als Zuschreibungsbegriff verstandene Begriff der „Rasse“ aber auch die volle Bedeutung dessen auf, was Diskriminierung „wegen der Rasse“ historisch bedeutet hat. Er transportiert damit, um zum ersten Teil dieses Beitrags zurückzukommen, zugleich den früheren Irrtum, die heutige bessere Einsicht – und die Entwicklung dorthin (vgl. hier, unter 4.). Mit dieser größeren historischen Tiefenschärfe erfasst er genauer, gegen welche fortdauernden Folgewirkungen sich das Verbot der Diskriminierung „wegen der Rasse“ richtet und bleibt insoweit zielgenauer als die Vorschläge für eine Ersetzung, die mir bislang bekannt geworden sind.
Der Begriff der „Rasse“ bleibt freilich ein unheilvoller Begriff, auch in dieser kritischen, gerade gegen die Fortwirkung der Zuschreibung gerichteten Bedeutung: Solange für ihn Verwendung besteht, ist das Gleichheitsversprechen der Unabhängigkeitserklärung nicht erfüllt. Für seine Ersetzung werden auch, das verkenne ich keineswegs, starke Argumente geltend gemacht (etwa von Doris Liebscher, Hendrik Cremer und Tarik Tabbara) – insbesondere, dass er, trotz aller Weiterentwicklung, womöglich doch zu einer sprachlichen Perpetuierung auch des verfehlten biologischen Rassebegriffs mit beitragen könnte. Eine Streichung des Rassebegriffs würde womöglich auch ein „starkes Zeichen“ dafür setzen, dass es Zeit ist, „dass wir Rassismus verlernen“ (so Aminata Touré und Robert Habeck; vgl. den entsprechenden Vorschlag für einen Gesetzentwurf hier).
Was aber, wenn dieses Zeichen dann am Ende dem verfassungsrechtlichen Schutz vor Diskriminierung doch mehr schadet als nützt (vgl. dazu nochmals Katharina Mangold und Cengiz Barskanmaz/Nahed Samour)?
Wie gesagt, man könnte den Zuschreibungscharakter durch Anführungszeichen klarstellen. Wenn zusätzliche Schutzwirkungen gewünscht sind, könnte man das auch mit einem zusätzlichen Verbot rassistischer Benachteiligung verbinden (etwa: „[…] wegen der „Rasse“ oder rassistisch […]“). Eine weitergehende Änderung – etwa eine vollständige Ersetzung durch die Wendung „rassistisch“ oder eine Einfügung von „vermeintlich“, „angeblich“ oder „zugeschrieben“ – riskiert jedoch, soweit ich das bislang sehen kann, eine Schwächung des Diskriminierungsschutzes.
Vor allem könnten solchen Formulierungen dann zusätzliche subjektivierende oder unmittelbare Wirkungen verlangende Anforderungen entnommen werden. Das könnte den unter der bisherigen Formulierung erreichten Stand der Anerkennung des Schutzes auch vor indirekten oder mittelbaren Diskriminierungen gefährden (vgl. zu Art. 3 III 1 GG: BVerfGE 121, 241 [254 f.]; s. hier, Rn. 49; zu Art. 3 III 2 GG: hier, Rn. 35, 41 ff. ). Würden sich die Gerichte zum Beispiel wohl aufgeschlossen dafür zeigen, auch indirekte, strukturelle oder systemische Wirkungen als „rassistisch“ einzustufen? Die öffentlichen Diskussionen gerade der letzten Wochen stimmen mich insoweit skeptisch. Auch deshalb halte ich die Risiken einer Streichung des Begriffs in der Abwägung insgesamt – jedenfalls derzeit – für größer als ihre Chancen.
Schluss: Verfassungsrechtliche Versöhnung?
11. Eine Verfassung kann auf Dauer nur legitim bleiben, wenn sie angesichts bestehender schwerer Ungerechtigkeiten zumindest eine Hoffnung auf rechtliche oder politische Abhilfe verheißt. Wir können die Verfassung nur dann als ein Projekt verstehen, das über Generationen hinweg Anspruch auf unsere fortdauernde Anerkennung erheben kann, wenn wir an die Möglichkeit einer verfassungsrechtlichen Versöhnung, an “Constitutional Redemption”, glauben können.
Das Verbot von Diskriminierungen wegen der „Rasse“ in Art. 3 III 1 GG rechtfertigt solche Hoffnungen trotz der rassistischen Vorurteile, die bei seiner Entstehung im Parlamentarischen Rat zum Ausdruck gekommen sind. Denn die verfassungsgebende Gewalt wollte nicht ihre konkreten Anwendungserwartungen und Irrtümer als geltendes Verfassungsrecht verankern, sondern Gleichheitsgrundrechte, die sich dynamisch weiterentwickeln und so gerade auch dem Fortwirken der Irrtümer der Entstehungszeit entgegenwirken sollten. Die Gleichheitssätze sollten auch nach dem Willen ihrer Verfasser nicht an die konkreten Anwendungsvorstellungen der Zeit gebunden werden, sondern diese hinter sich lassen und darüber hinauswachsen können.
Das Versprechen der Gleichheit aller in ihren Menschenrechten steht schon seit 1776 im Zentrum der Menschenrechtsidee. Es ist für viele und in vielen Hinsichten immer noch uneingelöst – und kann sich deshalb noch für so manche diskriminierende Praxis als „Stolperstein“ erweisen.
Anm. der Redaktion: Diese Fassung wurde am 11.08.2020 auf Wunsch des Autors um einen Hinweis auf den Beitrag von Doris Liebscher ergänzt.
Einige Argumente, warum eine Ersetzung durch “rassistische Zuschreibung”, den Schutzstandard nicht herabsetzt, sondern für von Rassismus betroffene Menschen sogar erhöhen kann, finden sich hier: https://staging.verfassungsblog.de/das-problem-heisst-rassismus/