25 November 2020

Regierungs-Twittern zum Schutz der freien Presse

Zum Urteil des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs im Fall Weil (StGH 6/19)

Seit dem Schwesig-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2014 ist das Recht der Politik in Deutschland um einen streitträchtigen Aspekt reicher: die „Äußerungsbefugnisse“ von Regierungsmitgliedern im politischen Meinungskampf, die durch das Neutralitätsgebot begrenzt werden. Manuela Schwesigs kritische Stellungnahme zur NPD im thüringischen Landtagswahlkampf wurde damals für verfassungskonform befunden. Anders erging es 2018 der Wissenschaftsministerin Johanna Wanka, deren Pressemitteilung „Rote Karte für die AfD“ Karlsruhe als neutralitätsverletzend einstufte. Das gleiche Schicksal ereilte Bundesinnenminister Horst Seehofer im Juni dieses Jahres wegen AfD-kritischer Äußerungen in einem Interview, das auf der Ministeriumswebsite veröffentlicht wurde. Die Prozesskonstellationen ähneln sich: Ein Regierungsmitglied äußert sich kritisch über eine – von ihr oder ihm als rechtsextrem oder verfassungsfeindlich angesehene – Partei. Die kritisierte Partei reagiert mit der Einleitung eines Organstreitverfahrens und rügt die Verletzung ihres Rechts auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG.

Der Verfassungstext liefert nur eine dürftige Grundlage für das Recht auf Chancengleichheit. In Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG heißt es schlicht: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ Sowohl die Ableitung der Neutralitätspflicht als auch die Auslotung ihrer Grenzen obliegen der Rechtsprechung. Das Neutralitätsgebot für Regierungsmitglieder ist nur als case law operationalisierbar, zu dem nicht nur das Bundesverfassungsgericht, sondern auch die Verfassungsgerichte der Länder beitragen. Trotz ihrer allgemeinen Tendenz zur Maßstabsbildung formulieren die Gerichte dabei keine subsumtionsfähigen generellen Rechtssätze, sondern beschränken sich darauf, Kriterien für die Beurteilung des Einzelfalles zu benennen. Das ist weitsichtig. Denn so bleibt das Recht der gubernativen Äußerungsbefugnisse offen für neue Fallkonstellationen, die das politische Leben schreibt.

Tweets vom Ministerpräsidenten-Account

Über eine solche neue Konstellation urteilte der Niedersächsische Staatsgerichtshof am 24. November 2020 im Fall Weil. Gegenstand des Organstreitverfahrens zwischen der NPD und dem niedersächsischen Ministerpräsidenten – im Urteilstext wenig kreativ als „A“ und „B“ anonymisiert – waren insgesamt fünf Tweets von Stephan Weils Ministerpräsidenten-Account. Weil kritisierte darin eine von der NPD veranstaltete Versammlung und rief zur Teilnahme an einer Gegendemonstration auf. Hintergrund war eine ARD-Sendung, die über ein 1944 von der Waffen-SS begangenes Massaker berichtete. Teil der Sendung war ein Interview mit „D“, einem hochbetagten SS-Mann, das „C“, ein freier Mitarbeiter des NDR, geführt hatte. Kurz nach der Ausstrahlung wurde D in seinem Haus überfallen und beraubt. Die NPD nahm dies zum Anlass, um unter dem Motto „Schluss mit steuerfinanzierter Hetze – C in die Schranken weisen!“ zu einem Aufzug aufzurufen, der am NDR-Funkhaus in Hannover vorbeiführen sollte. Nachdem in den sozialen Medien auch der Aufruf „Rache für D“ kursierte, verbot die Polizei die Versammlung. Doch die Verwaltungsgerichte gewährten der NPD einstweiligen Rechtsschutz, so dass der Aufzug wie geplant stattfinden konnte. Weil warf der NPD in seinen Tweets unter anderem „[r]echtsextreme Hetze gegen Journalistinnen und Journalisten, gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und gegen die Pressefreiheit“ vor und kritisierte, dass „einzelne #Journalisten an den öffentlichen Pranger“ gestellt würden.

Der Staatsgerichtshof (StGH) referiert in seinem Urteil zunächst die bisherige Rechtsprechung zu den gubernativen Äußerungsbefugnissen, die er auf das niedersächsische Verfassungsrecht überträgt – Art. 21 GG soll auch für Niedersachsen als „unmittelbares Verfassungsrecht“ gelten. Diese Ausführungen mitsamt ihrem überbordenden Nachweisapparat kann man getrost überblättern. Neues gibt es erst auf Seite 23 oben, wo der Staatsgerichtshof im Anschluss an Matthias Friehe (2018 und 2020) klarstellt, dass die Neutralitätspflicht auch bei „Aktivitäten von Regierungsmitgliedern in sozialen Netzwerken oder beim Einsatz von Mikrobloggingdiensten wie etwa Twitter“ gelte, wenn die genutzten Accounts auf das Regierungsamt hinwiesen. Im Fall Weil bestand daran kein Zweifel, da die Tweets vom Account @MpStehanWeil abgesetzt wurden (Weil hat auch noch einen Parteipolitiker- und Privataccount) und außerdem mit Hinweisen auf das Staatsamt garniert waren (Amtsbezeichnung, Landeswappen: „weißes Ross im roten Felde“, Niedersachsen-Motto: „Niedersachsen.Klar“).

Niedrigschwellig, aber differenziert

Um den konkreten Fall geht es dann ab Seite 24. Vorab erläutert der StGH, weshalb sich die NPD auf Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG berufen kann, obwohl das Bundesverfassungsgericht sie für verfassungsfeindlich erklärt hat. Die Verfassungsfeindlichkeit kann eben nur mit dem Ausschluss von staatlicher Finanzierung (Art. 21 Abs. 3 GG), nicht aber auf andere Weise sanktioniert werden. Auch die NPD hat daher ein Recht auf Chancengleichheit, das mit einem Neutralitätsgebot für Regierungsmitglieder einhergeht. Dass der Ministerpräsident mit vier der fünf Tweets in das Recht der NPD „eingegriffen“ hat, begründet der StGH mit der Eignung der Tweets, die Versammlungsteilnehmer zu kritisieren und die Zahl der Gegendemonstranten zu erhöhen. Nur einem Tweet, in dem Weil sein Bedauern über die verwaltungsgerichtliche Eilentscheidung äußerte, wurde diese Eignung abgesprochen. Der StGH weiß also zu differenzieren, setzt die Eingriffsschwelle aber denkbar niedrig an. Das entspricht der Linie des BVerfG, das im Wanka-Fall (Rn. 48) „jegliche negative Bewertung einer politischen Veranstaltung“ genügen ließ, sofern sie „geeignet ist, abschreckende Wirkung zu entfalten und dadurch das Verhalten potentieller Veranstaltungsteilnehmer zu beeinflussen“.

Wanka war 2018 unterlegen, weil sie für ihre Rote-Karte-Pressemitteilung keinen Rechtfertigungsgrund hatte anführen können. Das BVerfG konnte keine „Information über das Regierungshandeln“ erkennen und auch keine Zurückweisung von dagegen erhobenen Vorwürfen, die es der Ministerin „in sachlicher Form“ gestattet hätte. Auch im Seehofer-Fall fehlten solche rechtfertigenden Umstände, zumal der Innenminister in dem inkriminierten Interview nicht nur den Bundespräsidenten vor Angriffen der AfD verteidigt, sondern die Partei allgemein negativ bewertet habe. Der Fall Weil lag anders. Denn Weil ging es nicht um eine allgemeine Kritik an der NPD, sondern um die Kritik der konkreten Versammlung. Mit den Kriterien des BVerfG wäre man hier nicht besonders weit gekommen. Denn Weil hatte nicht über die Arbeit der Landesregierung informiert oder diese gegen Vorwürfe verteidigte. Er setzte sich vielmehr „im Zusammenhang mit einem konkreten Angriff einer als verfassungsfeindlich festgestellten Partei für die Institution ‚Freie Presse‘, die Pressefreiheit und den Schutz von Journalistinnen und Journalisten“ ein.

Dieser Einsatz des Ministerpräsidenten sei „von einer ihm als Teil des Verfassungsorgans ‚Landesregierung‘ zustehenden Befugnis zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit“ gedeckt, urteilte der StGH. Denn der Ministerpräsident sei damit „seiner verfassungsrechtlichen Aufgabe und Pflicht nachgekommen, das freiheitlich-demokratische Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland und des Landes Niedersachsen zu bewahren und die Bevölkerung für demokratiegefährdende Entwicklungen zu sensibilisieren sowie das bürgerschaftliche Engagement zu stärken“. Das wird mit Ausführungen zur Bedeutung eines freien Journalismus als „unverzichtbare[m] Grundpfeiler sowohl der Persönlichkeitsentfaltung als auch der demokratischen Ordnung“ und der objektiv-rechtlichen Dimension des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG untermauert. Die dem Staat abverlangte Schutzpflicht für das Institut der Freien Presse umfasse insbesondere den Schutz gegen Gefährdungen, die von Dritten ausgehen.

Überzeugend im Einzelfall

Die Argumentation bezieht ihre Überzeugungskraft vor allem aus den Umständen des konkreten Falles, die der StGH den Leserinnen und Lesern seines Urteils noch einmal eindrucksvoll vor Augen führt: Der Kontext des NPD-Aufzuges und die Aufrufe im Vorfeld und während der Versammlung hätten den Schluss zugelassen, dass die NPD den Journalisten C „nicht nur ‚in die Schranken weisen‘, sondern auch mundtot machen wollte“. Allein der Umstand, wegen eines journalistischen Beitrags Adressat einer Kundgebung geworden zu sein, werde den Betroffenen regelmäßig verunsichern, sein Durchhaltevermögen auf die Probe stellen und ihn unter Umständen, weil er Nachteile für sich und ihm nahestehende Personen befürchte, zukünftig von thematisch ähnlichen Recherchen und Beiträgen abhalten. Das „paramilitärische Erscheinungsbild“ (!) der Demonstranten habe das noch verstärkt. Weil die NPD durch das Motto des Aufzugs außerdem eine Verbindung zwischen dem Journalisten und der Gebührenfinanzierung des NDR hergestellt und ihm eine „hetzerische Journalistentätigkeit“ vorgeworfen habe, habe dieser auch Sorge um künftige Aufträge haben müssen.

„Vor dem Hintergrund, dass von der Antragstellerin ein ‚einfacher‘ freier Journalist an den Pranger gestellt und eingeschüchtert werden sollte und dieses Beispiel, sollte es Schule machen und ohne deutlich wahrnehmbaren öffentlichen Widerspruch bleiben, geeignet war, eine freie Pressearbeit massiv in Frage zu stellen, war der Antragsgegner im Rahmen seiner ihm als Regierungsmitglied zustehenden Kompetenz zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit berechtigt, die streitgegenständlichen Tweets zu posten und sich damit schützend vor die freiheitlich demokratische Grundordnung und ihre Institutionen zu stellen; seine Neutralitätspflicht war insoweit eingeschränkt.“

Sachlich bleiben

Il y a des juges à Bückeburg! – Man fragt sich bei alledem nur, weshalb die Verwaltungsrichter in Hannover und Lüneburg das Verbot einer Versammlung, die einen Journalisten „nicht nur ‚in die Schranken weisen‘, sondern auch mundtot machen wollte“, nicht bestätigt haben – aber das ist eine andere Geschichte. Das case law zu den gubernativen Äußerungsbefugnissen ist mit der Entscheidung des niedersächsischen StGH im Fall Weil um einen interessanten Aspekt reicher geworden: Wenn es um den Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und ihrer Institutionen geht, muss sich ein Regierungsmitglied nicht neutral verhalten. Eine kleine Einschränkung gibt es dann aber am Ende doch noch: Sachlich muss das Ganze bleiben. Stephan Weil bemühte mit „deutlich negative[n] Qualifizierung[en]“ wie „perfide“, „rechte“ und „rechtsextreme Hetze“ aus Sicht des StGH „die äußersten Grenzen des Zulässigen“, überschritt sie aber nicht. Angesichts des „Gesamtkontexts von Anprangerung, Bedrohung und Einschüchterung eines missliebigen Journalisten“ durfte er sich „einer deutlichen, unmissverständlichen Sprache bedienen“. Auch für die Sachlichkeit gilt also: Auf den Einzelfall kommt es an.


Leave A Comment

WRITE A COMMENT

1. We welcome your comments but you do so as our guest. Please note that we will exercise our property rights to make sure that Verfassungsblog remains a safe and attractive place for everyone. Your comment will not appear immediately but will be moderated by us. Just as with posts, we make a choice. That means not all submitted comments will be published.

2. We expect comments to be matter-of-fact, on-topic and free of sarcasm, innuendo and ad personam arguments.

3. Racist, sexist and otherwise discriminatory comments will not be published.

4. Comments under pseudonym are allowed but a valid email address is obligatory. The use of more than one pseudonym is not allowed.




Explore posts related to this:
Freiheitlich-demokratische Grundordnung, NPD, Neutralitätsgebot, Äußerungsbefugnisse


Other posts about this region:
Deutschland