Robuster Konstitutionalismus, Bindung des Gesetzgebers, richterliche Normenkontrolle
Der Konstitutionalismus befindet sich in einer Krise. Er ist harscher Kritik bekannter liberaler Theoretiker ausgesetzt (just jenen, die stets seine größten Verteidiger waren) und, wichtiger noch: er wird in Frage gestellt durch Parlamente, Politiker, Aktivisten und manchmal gar durch Richter. Die wesentlichen Zielscheiben des gegenwärtigen Populismus sind die Verfassung und die Richter, die sie zu interpretieren haben. Dennoch gehen Angriffe auf den Konstitutionalismus nicht nur von Populisten aus. Dieser Beitrag verfolgt daher die Absicht, den Konstitutionalismus zu verteidigen und ihn auf ein neues theoretisches Fundament zu stellen.
In meinem Buch “Wozu Recht? Rechte, Staat und Verfassung im Kontext moderner Gesellschaften” (Verlag Karl Alber, 2018)((Die englische Originalfassung trägt den Titel “Why Law Matters” (Oxford University Press, 2014).)) untersuche ich rechtliche und politische Institutionen und Verfahren. Deren Wünschbarkeit, so mein Argument, ist nicht kontingent und hängt nicht davon ab, dass sie bestimmte wünschenswerte Zielvorgaben wie den Schutz von Rechten oder Demokratie erfüllen. Vielmehr bilden diese Institutionen konstitutive Elemente einer gerechten Gesellschaftsordnung. In den Kapiteln 5 und 6 des Buches beschreibe ich Konstitutionalismus aus dieser Perspektive heraus und verteidige einen “robusten Konstitutionalismus”, verstanden als die Überzeugung, dass sich der Wert des Konstitutionalismus nicht darauf beschränkt, dass Verfassungen Bürgerrechte schützen, Demokratie absichern oder Stabilität und Zusammenhalt stiften können.
Bekannte liberale Theoretiker wie Jeremy Waldron argumentieren, dass ein wesentlicher Bestandteil des Konstitutionalismus, nämlich die richterliche Normenkontrolle, demokratisch nicht legitimierbar sei.((Jeremy Waldron, The Core of the Case Against Judicial Review 115 Yale L.J. 1346 (2006).)) Aus staatsbürgerlicher Sicht ruft dies Hegels Diktum auf, dass die „Eule der Minerva … erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug“ beginnt. Die Kritiker des Konstitutionalismus scheinen einflussreiche und verbreitete Überzeugungen von Politikern und Aktivisten aufzunehmen und ihnen ein theoretisches Gerüst zu verleihen. Politiker und Aktivisten gründen ihre Ablehnung des Konstitutionalismus darauf, dass er in Konflikt mit ihrer eigenen Pflicht stehe, auf die tatsächlichen Empfindungen der Bürger zu achten; sie verurteilen Elitismus, und zu den ersten Zielen ihres anti-elitären Impetus gehören Gerichte und andere intermediäre Institutionen.((Siehe die von Donald Trump geübte Kritik an Gerichten.)) Die gegenwärtige Verlockung des Populismus beruht auf der Überzeugung, dass es eine enge Entsprechung zwischen den Gesetzen eines Staates und dem Urteil der diesen Gesetzen unterworfenen Bürger geben soll und dass eine solche Entsprechung mit dem Konstitutionalismus unvereinbar sei.
Als Antwort führen Verteidiger des Konstitutionalismus pragmatische Argumente an, die auf einem Misstrauen gegenüber Bürgern aufbauen. Sie warnen, dass Demokratien nicht nur durch die Hand von Generälen sterben, sondern auch durch die von gewählten Politikern, Präsidenten und Premierministern, die eben die Verfahren, denen sie ihre Macht verdanken, untergraben.((Steven Levitsky & Daniel Ziblatt, How Democracies Die (2018).)) In weniger drastischen Szenarien kann eine an der Gefühlslage der Bevölkerung ausgerichtete Politik den Interessen der Mehrheit den Vorzug gegenüber denjenigen von Minderheiten geben (oder mitunter den Interessen einer gut organisierten und kraftvollen Minderheit gegenüber denen verstreuter und unorganisierter Mehrheiten). Diese Verteidigung des Konstitutionalismus gründet in der Auffassung, die ich als Verfassungs-Instrumentalismus bezeichne, wonach die Attraktivität des Konstitutionalismus ausschließlich von seinen erwarteten Auswirkungen abhängt, insbesondere der Qualität der Entscheidungen durch Gerichte im Gegensatz zu denen des Gesetzgebers.
Die Kritiker des Konstitutionalismus führen also grundsätzliche Argumente an – er verletze demokratische Partizipationsrechte –, während seine Verteidiger instrumentalistisch zu argumentieren scheinen. Sie behaupten nicht einmal, auf prinzipielle oder legitimitätsbasierte Erwägungen zu setzen. Das vorrangige Ziel der Kapitel 5 und 6 meines Buches ist es daher, im Bereich der Verfassungslehre gleiche Verhältnisse zu schaffen und den Konstitutionalismus mittels nichtinstrumentalistischer, legitimitätsbasierter Argumente zu verteidigen. Solche Argumente hängen nicht von der kontingenten Vermutung ab, dass Konstitutionalismus zu unserem Schutz vor der Kurzsichtigkeit der Staatsbürger und ihrer Irrationalität die Demokratie kompromittiere.
Um dieses Argumentation zu entfalten, plädiere ich für einen robusten Konstitutionalismus, also die These, dass Konstitutionalismus mehr als nur ein Mittel ist, um gute, gerechte oder kohärente Entscheidungen zu gewährleisten. Der Verfassungs-Instrumentalismus greift hier in zweifacher Hinsicht zu kurz. Zum einen beruht er auf der unbegründeten Annahme, dass Konstitutionalismus tatsächlich Gerechtigkeit, den Schutz von Rechten und andere wünschenswerte Ergebnisse befördert. Diese Annahme ist krude und gründet sich auf Anekdoten und Spekulationen.((Siehe etwa Wojciech Sadurski, Judicial Review and the Protection of Constitutional Rights, 22 Oxford J. Leg. Studies 275 (2002).))
Zum anderen wäre – selbst wenn sich der instrumentelle Wert des Konstitutionalismus bestimmen ließe – das instrumentalistische Argument ungeeignet, den wahren Grund des leidenschaftlichen Konstitutionalismus zu treffen: In den Begrifflichkeiten meines Buches gesprochen leidet der Verfassungs-Instrumentalismus an mangelnder Aufrichtigkeit oder Glaubwürdigkeit. Er rationalisiert den Konstitutionalismus, aber erklärt nicht seinen öffentlichen Zuspruch. So schafft der Verfassungs-Instrumentalismus ein verzerrtes Bild dessen, was den wirklichen Wert des Konstitutionalimus ausmacht, nämlich die Einsicht, dass Konstitutionalismus ein notwendiges (und nicht instrumentelles) Merkmal einer gerechten Gesellschaft ist. Vertreter des Verfassungs-Instrumentalismus können die Leidenschaft, die die Debatte trägt, nicht erfassen: die Leidenschaft für politische Legitimität. Dem setze ich das Konzept eines „robusten“ Konstitutionalismus entgegen, das ich im Folgenden vorstellen will.
„Robuster Konstitutionalismus“ meint zwei verschiedene Dinge: Verfassungsleitlinien, die die Legislative binden (Kapitel 5), und eine auf Rechten gegründete richterliche Normenkontrolle (Kapitel 6). In beiden Fällen nutze ich Argumente, die den intrinsischen – und nicht einen instrumentellen – Wert des Konstitutionalismus hervorheben.
Bindende Verfassungsleitlinien
Bindende Verfassungsleitlinien sind solche, die für den Gesetzgeber Bindungswirkung besitzen. Ich will dies mit einem berühmten talmudischen Wort verdeutlichen: „Jener, dem geboten wird und der (das Gebotene) tut, ist besser als jener, der es tut, obwohl es ihm nicht geboten war.“((Talmud, Avoda sara, 3a.)) Auf unseren Kontext bezogen lässt sich sagen, dass eine Gesellschaft, in der der Gesetzgeber Rechte wahrt, ohne hierzu verpflichtet, also qua Verfassung gebunden zu sein, einer Gesellschaft unterlegen ist, in der den Gesetzgeber eine solche Verpflichtung trifft, er also von Verfassungs wegen zum Schutz individueller Rechte angehalten ist. Die Verankerung politischer und rechtlicher Rechte in der Verfassung ist selbst bereits eine Art öffentlicher Anerkennung, dass der Schutz von Rechten die Pflicht des Staates ist und nicht nur eine bloße, in seinem Ermessen liegende Geste. Die Bürger der erstgenannten Gesellschaft (jener ohne Verfassung) sind nicht frei, sie leben „nach der Gnade“ der Neigungen und Urteilen des Gesetzgebers; sie sind seinen Launen unterworfen. Im zweitgenannten Szenario, einer Gesellschaft mit Verfassung, hat sich hingegen der Gesetzgeber öffentlich verpflichtet, sich seinen in der Verfassung verankerten Pflichten zu beugen. Mit dieser Beobachtung lässt sich der Nachdruck erklären, mit dem das Bundesverfassungsgerichts darauf besteht, dass Abtreibung eine Straftat bleibt (auch wenn die tatsächliche Strafe entfällt, sofern eine vorangegangene Beratung stattgefunden hat). Der Entscheidung liegt die Ratio zugrunde, dass der Lebensschutz des Fötus nicht der Gnade der Schwangeren und ebenso wenig dem Stimmungsbild im Bundestag überlassen werden darf.((BVerfGE 88, 203. Ich will damit freilich nicht zugleich ausdrücken, dass das Gericht richtig damit liegt, dem Fötus als Träger des Lebensrechts zu begreifen.)) Infolgedessen beruht die Entscheidung nicht auf den gesellschaftlichen Folgen der Ausgestaltung des Abtreibungsrechts, nämlich den tatsächlichen Auswirkungen auf die Zahl von Abtreibungen in der Gesellschaft.
Ich erweitere diese Gedankenführung auf das Feld des globalen Konstitutionalismus und argumentiere, dass die Attraktivität des Völkerrechts nicht nur von seinem instrumentellen Beitrag zur Förderung der Gerechtigkeit herrührt sondern auch von dem Umstand, dass es Staaten Verpflichtungen auferlegt, deren Einhaltung nicht in ihrem Belieben liegt. Verfassungs- und völkerrechtliche Leitlinien hängen nicht davon ab, was die Mehrheit will oder auch nur für wünschenswert hält. Ihre Verbindlichkeit beruht auf einer öffentlich anerkannten Verpflichtung gegenüber den Staatsbürgern.((Eyal Benvenisti & Alon Harel, Embracing the Tension between National and International Human Rights Law: The Case for Discordant Parity 15 International Journal of Constitutional Law 36 (2017).))
Normenkontrolle
Mit gleicher Zielsetzung plädiere ich aus nichtinstrumentalistischen Erwägungen heraus für eine richterliche Normenkontrolle. Ich beginne mit der Beobachtung, dass Individuen ein Recht darauf haben, Gehör zu finden. Hierzu das folgende Beispiel: Nehmen wir an, A verspricht, B zum Mittagessen zu treffen, aber unerwartete Umstände durchkreuzen den Plan von A. Der Versprechende geht davon aus (ob zu Recht oder zu Unrecht), dass diese Umstände seine Verpflichtung zum Mittagessen entfallen lassen. Es scheint, dass der Versprechensempfänger es unter diesen Umständen verdient, gehört zu werden und damit die Gelegenheit zu erhalten, die Entscheidung des Versprechenden anzugreifen.
In ganz ähnlicher Weise ist der Staat verpflichtet, eine Anhörung zu gewähren. Eine solche Verpflichtung verlangt vom Staat, (a) dass er dem Individuum Gelegenheit gibt, Entscheidungen zu hinterfragen, von denen es (zu Recht oder zu Unrecht) glaubt, sie verletzten seine Rechte, (b) dass er seine eigenen Entscheidungen rechtfertigt sowie (c) dass er seine Entscheidungen auf Grundlage der Deliberation überdenkt und in Übereinstimmung mit den Schlussfolgerungen aus dieser Deliberation handelt. Die richterliche Normenkontrolle ist nicht deshalb wertvoll, weil sie wahrscheinlich zu „besseren“ Entscheidungen führt oder Minderheitenrechte besser befördert oder schützt, sondern weil sie nichts anderes als jene Anhörung ist, die dem Einzelnen zusteht.((Dieses Recht kann von einem Recht auf Rechtfertigung abgeleitet werden, vgl. Rainer Forst, The Right to Justification: Elements of a Constructivist Theory of Justice (2011). Siehe ferner Mattias Kumm, The Idea of Socratic Contestation and the Right to Justification: The Point of Rights-Based Proportionality Review 4 L. & Ethics Hum. Rts. 140 (2010).))
Sowohl Kapitel 5 (in dem die Verankerung bindender Verfassungsleitlinien verteidigt wird) als auch Kapitel 6 (in dem die richterliche Normenkontrolle verteidigt wird) wenden sich gegen den geläufigen verfassungstheoretischen Begründungsrahmen – den Instrumentalismus in der Verfassungslehre. Robuster Konstitutionalismus ist gegenüber den zwei zentralen Schwächen des Instrumentalismus in der Verfassungslehre immun. Erstens beruht er nicht auf bloß spekulativen Annahmen in Bezug auf einen instrumentellen Wert des Konstitutionalismus. Und zweitens ist robuster Konstitutionalismus nicht unaufrichtig; er gibt vielmehr den tatsächlichen Empfindungen Ausdruck, die der volkstümlichen Attraktivität des Konstitutionalismus zugrundeliegen.
Mit meiner Verteidigung eines robusten Konstitutionalismus habe ich versucht, so viele wie möglich von den Belangen zu erfassen, die aus staatsbürgerlicher Sicht wertgeschätzt werden. Ich habe dieses Buch nicht nur geschrieben, um den Konstitutionalismus zu verteidigen, sondern zugleich damit versucht, diejenigen Sensibilitäten und Leidenschaften auszumachen und zur Sprache zur bringen, die sich hinter der Kontroverse über Konstitutionalismus verbergen.
Konstitutionalismus kann Probleme, welche kaum voll lösbar sein können, mindern. Zudem kann er andere Probleme selbst bewirken, wie Elitismus, Unaufrichtigkeit usw. Kritik kann soch selbstbewirkte Probleme mitunter mindern. Damit können Vorteile von Konstitutionalismus teils sogar erst bestärkt sein. Eine Krise von Konstitutionalismus etwa wegen harscher Kritik muss nicht zwingend sein Ende sein, eventuell sogar im Gegenteil.