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24 November 2020

Seismograph der Staatsverfassung

1.

Beschlagnahmeverbote und Zeugnisverweigerungsrechte erschweren auf den ersten Blick das, worum es in einem Strafverfahren eigentlich gehen soll: die Klärung eines strafrechtlich relevanten Sachverhaltes. Doch der Gesetzgeber erlaubt Ausnahmen von der allgemeinen Pflicht von Zeugen zur Kooperation bei der Tataufklärung, wenn ein dieser Pflicht entgegenstehendes Interesse dem staatlichen Aufklärungsinteresse vorgeht.

Wann dies für professionelle Geheimhaltungsinteressen der Fall ist, bestimmt § 53 StPO durch ein Zeugnisverweigerungsrecht für Angehörige bestimmter Berufe. § 97 StPO flankiert diesen Schutz mit einem Beschlagnahmeverbot für berufsbezogene Unterlagen. Die Abschirmung vor einem Zugriff der Strafverfolgungsbehörden ist wenig kontrovers bei klassischen Vertrauensverhältnissen, wie etwa Ärztin-Patient oder Anwalt-Mandantin. Auch das «Presseprivileg» hat sich – im Anschluss an die Spiegel-Affäre der 1960er Jahre – in das öffentliche Bewusstsein geprägt.

Streitig – und mit den Beschlüssen des OLG München ins öffentliche Bewusstsein gerückt – ist aber, ob § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 StPO auch das Vertrauensverhältnis zwischen (sozial)wissenschaftlich Forschenden und ihren privaten Informanten schützt. Durch eine Gesetzesänderung im Jahr 2002 wurde das «Presseprivileg» zum «Publikationsprivileg» erweitert: Das Zeugnisverweigerungsrecht des § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 StPO gilt seither für alle Personen, «die bei der Vorbereitung, Herstellung oder Verbreitung von Druckwerken … berufsmäßig mitwirken …». Der Wortlaut schützt also auch Forschende bei der Vorbereitung von Publikationen. Die vom OLG München entschiedenen Sachverhalte zeigen, dass für ein valides, publikationsfähiges Forschungsergebnis der Aufbau eines geschützten Vertrauensverhältnisses zwischen Forschenden und Probanden notwendig ist: Ohne eine Vertraulichkeitszusage wären Gefangene im Justizvollzug nicht bereit, freimütig über den Prozess ihrer Radikalisierung zu berichten. Im Bereich empirischer Kriminalitätsforschung gilt das nicht nur für Untersuchungen im Strafvollzug, sondern etwa auch für die sog. Dunkelfeldforschung. Wer würde sich für Forschungszwecke selbst belasten, wenn Strafverfolgungsbehörden Durchgriff zu den Angaben haben?

2.

Das OLG München will dennoch den Wortlaut der §§ 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 und 97 Abs. 5 StPO einschränken, so dass empirische Sozialforscher kein Zeugnisverweigerungsrecht in Anspruch nehmen könnten. Für eine solche Einschränkung braucht es – nicht zuletzt mit Blick auf die in der Verfassung verbürgte Wissenschaftsfreiheit – eine gute Begründung, selbst wenn es sich bei Zeugnisverweigerungsrechten und Beschlagnahmeverboten um Ausnahmevorschriften handelt. Doch die fehlt bisher.

Der Verweis des Gerichts auf den Willen des Gesetzgebers von 2002 verfängt nicht. Tatsächlich ist zwar der Gesamtduktus der Gesetzesbegründung auf «Medien» fokussiert und sind Forschende in den Gesetzgebungsmaterialien nicht ausdrücklich als geschützte Personengruppen erwähnt. Aber der Schutzbereich der neu geschaffenen Norm beruht nicht auf einer Aufzählung bestimmter Berufsgruppen, sondern wird funktional bestimmt: «Personen, die bei der Vorbereitung, Herstellung oder Verbreitung von Druckwerken … berufsmäßig mitwirken …». Dass es wie das OLG München meint – auch Forschende gibt, die keines Schutzes bedürfen, besagt demgegenüber wenig; denn auch nicht alle Journalist*innen sind für ihre Arbeit unbedingt auf ein Vertrauensverhältnis zu Informant*innen angewiesen.

3.

Empirische Kriminalitätsforscher können demgegenüber einiges anführen, was dafür spricht, dass auch sie unter ein «Publikationsprivileg» fallen. Das öffentliche Interesse an valider empirischer Sozialforschung – gerade mit Blick auf die Kriminalitätserforschung – bestreitet niemand. Die Öffentlichkeit kann sich über die Validität bestimmter rechtspolitischer Ansätze nur dann eine fundierte Meinung bilden, wenn empirisch arbeitende Sozialforscher*innen ihre Ergebnisse publizieren. Erst dadurch werden die Wähler*innen in die Lage versetzt, die politischen Aussagen an Zahlen zu messen und zu beurteilen, ob Versprechen im Bereich der Rechtspolitik eingehalten werden. Gesetzgeber und Politik erkennen dieses Interesse an, indem sie empirischen Sozialforschern privilegierten Zugang zu Daten verschaffen. Wie beim Journalismus geht es hier um die Sicherung freier schriftlicher öffentlicher Kommunikation ohne staatlichen Durchgriff auf die Quelle, weil dies für einen demokratischen Diskurs notwendig ist.

Empirische Sozialforscher*innen sind für die Informationsbeschaffung oft auch auf Vertraulichkeit angewiesen. Dafür stehen sie primär selbst in der Verantwortung. Ohne den Schutz davor, ihre Quellen und Erkenntnisse im Strafverfahren preisgeben zu müssen, würden sie jedoch in unlösbare ethische Konflikte geraten: Weil Wissenschaftler*innen, die in der Dunkelfeld- oder Radikalisierungsforschung tätig sind, die Informationen für ihre Publikationen nur gewinnen können, wenn sie Probanden Vertraulichkeit zusichern, nehmen Gesetzgeber, Berufsverbände und Forschungseinrichtungen sie unter Umständen in die Pflicht. Müssten sie trotz Vertraulichkeitszusage ihre Daten herausgeben, kämen sie genau in jenen Konflikt, der für Journalist*innen seit den 1970er Jahren durch § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5, § 97 Abs. 5 Satz 1 StPO vermieden werden soll: Publizierende sollen nicht entscheiden müssen, ob sie lieber ins Gefängnis gehen oder ihre Vertraulichkeitszusage brechen [vgl. BT-Dr 7/2539, 8 f. mit Verweis auf Nr. 5 der vom Deutschen Presserat am 19./20. September 1973 verabschiedeten publizistischen Grundsätze, Pressekodex].

Einem vergleichbaren Dilemma sehen sich heute empirische Sozialwissenschaftler*innen gegenüber, die etwa durch den Ethikkodex der Soziologie verpflichtet sind, die Rechte der Proband*innen zu wahren und vertrauliche Informationen nicht herauszugeben. Diese Pflichten sind zwar (noch) nicht im gleichen Maße im öffentlichen Bewusstsein verankert wie die Vertraulichkeitspflichten der Presse. Doch es geht um die gleiche Zwangssituation: Forschende, die empirische Kriminalitätsforschung betreiben, müssen damit rechnen, dass ein Konflikt zwischen berufsrechtlichen Geheimhaltungs- und strafprozessualen Kooperationspflichten zu ihren Lasten geht.

Nicht zuletzt droht eine Beschlagnahme von Unterlagen aus Projekten zur Kriminalitätserforschung strafprozessuale Schutzregelungen auszuhöhlen. Das gilt insbesondere, wenn die Forschungsmethode auf narrative Erzählung abzielt. Dann kann die Befragung von Proband*innen durchaus einer Vernehmung ähneln. Die für Vernehmungen geltenden Schutzmechanismen des Strafprozessrechts, etwa §§ 136, 136a StPO, würden aber nicht eingreifen, da die Regelungen über die strafprozessuale Vernehmung grundsätzlich nicht für die Situation gelten, dass Forschende Zugang zu Häftlingen erhalten, um deren Lebensgeschichte zu analysieren und – wissenschaftlich bearbeitet – zu publizieren. Eine analoge Anwendung käme nur dann in Betracht, wenn die Forscher*innen die Befragungen ausdrücklich im (eventuell gegenüber den Häftlingen geheim gehaltenen) Ermittlungsauftrag der Justizbehörden durchführten. Dafür dürfte jedoch allein die aktive Unterstützung eines Forschungsprojekts durch staatliche Behörden nicht ausreichen. Die staatlichen Instanzen würden sich dann jedoch widersprüchlich verhalten, wenn sie einerseits vertrauliche Quasi-Vernehmungen ohne Einhaltung der prozessualen Schutzvorschriften zulassen und sie dann andererseits durch die Beschlagnahme der Unterlagen doch in das Strafverfahren einführen.

4.

Wie soll es weitergehen? Sollen empirische Sozialwissenschaftler*innen, wenn sie künftig eine Publikation für die «Monatsschrift für Kriminologie» vorbereiten, eher eine Beschlagnahme von Interviewdaten fürchten müssen als wenn sie an einer Veröffentlichung im Verfassungsblog oder in der Bild-Zeitung mitarbeiten?

Zunächst richten sich die Hoffnungen auf eine Klärung durch das Bundesverfassungsgericht. Eine Verfassungsbeschwerde des von dem Beschluss des OLG München betroffenen Projektleiters ist bereits eingereicht. Ob Karlsruhe jedoch eine dauerhaft praktikable Lösung schaffen kann, die für alle betroffenen Forschenden und die Strafverfolgungsbehörden Rechtssicherheit schafft, ist zweifelhaft. Es wäre deshalb vorzuziehen, dass der Gesetzgeber (endlich) eine Klarstellung herbeiführt. Im Koalitionsvertrag hat die Bundesregierung die Bedeutung der sozialwissenschaftlichen und kriminologischen Forschung hervorgehoben (Koalitionsvertrag vom 19.3.2018 zwischen CDU, CSU und SPD für die 19. Legislaturperiode im Bund, Zeile 6283-6287). Doch passiert ist bislang nichts. Wer ernsthaft für evidenzbasierte Kriminalpolitik eintritt, wer möchte, dass Gesetzentwürfe auf validen kriminologischen Erkenntnissen beruhen, der muss den Worten des Koalitionsvertrages Taten folgen lassen. Es genügt nicht, empirischen Sozialforschern*Innen Mittel zur Verfügung zu stellen. Es bedarf auch bestimmter rechtlicher Rahmenbedingungen, damit dieses Geld sinnvoll eingesetzt wird.

Vorschläge zur Etablierung eines spezifischen Zeugnisverweigerungsrechts für empirische Sozialforscher*innen und entsprechende Beschlagnahmeverbote gibt es schon lange, sie sind bisher aber am fehlenden politischen Willen gescheitert. Das steht augenscheinlich im Widerspruch zu dem Wunsch nach belastbaren Ergebnissen empirischer Kriminalitätserforschung als Voraussetzung evidenzbasierter Kriminalpolitik und birgt Konfliktpotential, insbesondere wenn datenschutzrechtliche Hürden für die Forschung ausgebaut werden. Wer eine evidenzbasierte Kriminalitätsforschung wünscht, muss bereit sein, die notwendigen Bedingungen dafür zu schaffen.

Vielleicht ist die Zeit nun reif. Man könnte an die Vorschläge des Alternativ-Entwurfs ‘Zeugnisverweigerungsrechte und Beschlagnahmefreiheit’ (AE-ZVR, München 1996, 47 ff.) oder an das von Thomas Weigend für den 62. Deutschen Juristentag 1998 vorgelegte Gutachten (Teil C, 105 f.) anknüpfen und Personen, die Daten im Rahmen eines bei einer Hochschule oder einer vergleichbaren Forschungseinrichtung angesiedelten Projekts empirischer Sozialforschung sammeln, ein Zeugnisverweigerungsrecht zu gewähren. Dahinter steht der Gedanke, dass das öffentliche Interesse an den Erkenntnissen aus solcher Forschung höher wiegt als das staatliche Aufklärungsinteresse, wenn ein Vertrauensverhältnis zwischen Forschern und Probanden zentral für die Gewinnung belastbarer Ergebnisse ist.

Die Beschlüsse des OLG München bergen die Gefahr tektonischer Verwerfungen im Bereich der Zeugnisverweigerungsrechte von Publizierenden. Der strafverfahrensrechtliche Seismograph hat die ersten Erschütterungen registriert. Nun ist der Gesetzgeber dazu aufgerufen, die Interessen von strafprozessualer Sachaufklärung und evidenzbasierter Kriminalpolitik durch einen klärenden Satz wieder in ein harmonisches Verhältnis zu bringen.


*Verf. dankt dem Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der Wissenschaftlichen Forschung für die Unterstützung im Rahmen des Projektes NFP 75 Big Data: Open data and legal strings, die diesen Beitrag und eine umfassendere Untersuchung (Sabine Gless, Beweisverbote zum Schutz empirischer Sozialforschung – Zur Beschlagnahmefreiheit von Forschungsdaten, Neue Kriminalpolitik 3/2020, 275-292) ermöglicht hat.

 

 


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