18 February 2016

Sind Staaten auch nur Menschen?

Grundrechte sind für Menschen da, nicht für Staaten. Das ist nach deutscher Verfassungsdoktrin so selbstverständlich, dass man sich kaum traut es hinzuschreiben. Der Staat hat keine Grundrechte, kann schon aus denklogischen Gründen keine haben. Grundrechte binden die öffentliche Gewalt: Sie sollen ihr nicht Freiheit geben, sondern welche nehmen. Wenn die Bundesbildungsministerin der AfD auf ihrer Ministeriums-Website die “Rote Karte zeigen” möchte, dann kann sie sich dafür nicht auf ihre Meinungsfreiheit berufen, denn als Ministerin ist sie in punkto Meinungsfreiheit auf der Seite der Verpflichteten, nicht auf der der Berechtigten.

Gilt das auch für europäische Grundrechte? Das könnte zweifelhaft erscheinen, wenn man das heute verkündete Urteil Bank Mellat des Europäischen Gerichtshofs ansieht. Es handelt sich um eine iranische Bank, die verdächtig ist, am iranischen Atomprogramm mitzuwirken, und daher mit UN-Sanktionen belegt wurde. Dagegen klagte sie vor dem EuG und bekam Recht: Der Ratsbeschluss, der die Bank auf die Sanktionsliste gesetzt hatte, war unzureichend begründet und verletzte die Bank in ihrem Recht, sich zu verteidigen und effektiven gerichtlichen Rechtsschutz zu bekommen. Der Rat wiederum ging in Berufung, und über diese hatte der EuGH in dem heute verkündeten Urteil zu entscheiden.

Das wäre alles nicht weiter spektakulär, wäre die Bank Mellat nach Auffassung des Rats nicht ein vom Staat Iran beherrschtes Unternehmen.

Privatrechtlich organisierte Unternehmen, die vom Staat beherrscht werden, sind in Deutschland in punkto Grundrechte als Staat zu behandeln. Das wissen wir seit der epochalen Fraport-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, wonach ein staatlich beherrschter Flughafenbetreiber Demonstrationen in seinem Flughafen genauso dulden muss wie der Staat auf einem öffentlichen Platz. Wenn ein staatlich beherrschtes Unternehmen aber den Grundrechten verpflichtet ist, so die Konsequenz, dann kann es nicht durch sie berechtigt sein. Ergo: wenn hinter der Bank Mellat eigentlich der Staat Iran steht, dann kann sie sich nicht auf Grundrechte wie das Recht auf Verteidigung und auf fairen Prozess berufen.

Das EuG hatte dies vor zwei Jahren entschieden anders gesehen: So sei

der Umstand, dass ein Staat Garant für die Einhaltung der Grundrechte in seinem eigenem Hoheitsgebiet ist, ohne Bedeutung hinsichtlich der Reichweite der Rechte, die juristische Personen, die Emanationen des betreffenden Staates sind, im Hoheitsgebiet von Drittstaaten in Anspruch nehmen können.

Und was sagt der EuGH? Jedenfalls was prozedurale Grundrechte betrifft, so scheint er in der angeblichen Staatsnähe der Bank kein Problem erkennen zu wollen. Das Recht auf Verteidigung, auf effektiven Rechtsschutz und auf angemessene Begründung könne jeder geltend machen, der vor dem EuGH klagt.

Nun muss man sagen, dass bei Verfahrensgrundrechten wie Art. 101 und 103 GG auch das Bundesverfassungsgericht staatliche Hoheitsträger durchaus als grundrechtsfähig angesehen hat. Das gilt aber nicht für das Recht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 IV GG.

In der Tat ist laut BVerfG bei prozeduralen Grundrechten die Situation eine andere: hier geht es nicht um Rechte, die man als staatlicher Hoheitsgewalt unterworfenes Individuum genießt, sondern um solche, die Verfahrensbeteiligte geltend machen können müssen, damit das Verfahren fair genug ist, um seinen Zweck zu erfüllen. Da kann es nicht darauf ankommen, ob ein Verfahrensbeteiligter der privaten oder der staatlichen Sphäre angehört.

Damit scheint mir die Frage, wie es nun aussieht mit Staaten als Träger europäischer Grundrechte, weiterhin offen zu sein; die knappen Worte des EuGH geben dazu nichts her. Die weit interpretierbare Position des EuG, die der Zuordnung staatlich/privat jede Relevanz in Bezug auf die Grundrechtsträgerschaft abzusprechen scheint, bleibt allerdings unwidersprochen stehen.


26 Comments

  1. Aufmerksamer Leser Thu 18 Feb 2016 at 23:30 - Reply
  2. schorsch Fri 19 Feb 2016 at 19:40 - Reply

    Denkt da außer mir noch jemand an die Verhandlungsgliederung aus der PM von heute? Gliederungspunkt C.: “Grundrechtsberechtigung der Bf. im Verfahren 1 BvR 1456/12 (Krümmel/Vattenfall)”.

  3. Chris Fri 19 Feb 2016 at 22:21 - Reply

    Eine spannende Frage, die im EuR ja häufiger aufkommt. Gerade der effektive Rechtsschutz oder das faire Verfahren können bei Nichtigkeitsklagen oder Vertragverletzungsverfahren von und gegen MSen eine Rolle spielen. Dazu gibt es doch schon bestimmt eine Diss, oder?

  4. Aufmerksamer Leser Sat 20 Feb 2016 at 17:04 - Reply

    @Chris: Ja, sehr spannend. Wenn wir das Eigentum nun gar nicht mehr schützen, könnte man die Anteile des norwegischen Staatsfonds, z.B. an Volkswagen, für Umme enteignen. Klingt doch sehr rechtsstaatlich, oder? Und für staatliche Direktinvestitionen, die wir in Deutschland ja eh nicht brauchen (schließlich sind wir ein Agrarstaat, der auf Tauschwirtschaft beruht), hatte ich noch nie etwas übrig.

  5. Aufmerksamer Leser Sat 20 Feb 2016 at 17:05 - Reply

    @chris: Sorry, ich meinte natürlich @schorsch, meine alte Nemesis…

  6. schorsch Sun 21 Feb 2016 at 13:37 - Reply

    Es gibt ja durchaus eine Rechtsstaatlichkeit jenseits der Grundrechte. Und einen Eigentumsschutz jenseits des Art. 14 GG. Die einfachrechtliche Existenz und der einfachrechtliche Schutz von Rechtspositionen ist ja gerade Voraussetzung des Schutzes durch Art. 14 GG. Ich mache mir auch politisch eigentlich keine Sorgen, dass hier staatliches Raubrittertum zulasten Norwegens ausbricht.

  7. Aufmerksamer Leser Sun 21 Feb 2016 at 17:13 - Reply

    @schorsch: Sie meinen den einfachrechtlichen Schutz des Eigentums im AtomG? Also quasi “Schutz durch Ausstieg”? Den “Schutz des Eigentümers vor sich selbst”? Cooles Konzept.

  8. schorsch Sun 21 Feb 2016 at 18:09 - Reply

    Nein, ich hatte mich, von Ihren Ausführungen verlockt, vom Atomgesetz weg bewegt. Aber die Eigentumsverletzung direkt durch ein Gesetz, das nicht – weil generell-abstrakt – gleichermaßen auch (andere) Grundrechtsträger trifft und schon deshalb verfassungswidrig ist, dürfte die Ausnahme sein.

  9. Aufmerksamer Leser Sun 21 Feb 2016 at 20:23 - Reply

    @schorsch: Gerade das VW-Gesetz und das AtomG, das ja sogar die Abschaltedaten für jeden einzelnen Reaktorblock kodifiziert, sind wohl keine guten Beispiele für abstrakt-generelle Normen in Ihrem Sinne :-).

    Vattenfall dürfte es verschmerzen, die bekommen ihre Entschädigung in Washington (und liefern ein schönes Beispiel, weshalb man als Investor immer besser mit ICSID fährt als mit den Ersten Senat).

  10. schorsch Sun 21 Feb 2016 at 20:39 - Reply

    Klar, das AtomG wollte ich oben gerade ausdrücklich als nicht generell-abstrakte Ausnahme bezeichnet haben. Insoweit kein Widerspruch.

  11. schorsch Sun 21 Feb 2016 at 20:43 - Reply

    Im Übrigen dürfte die Entscheidung des Ersten Senats für Vattenfall genauso ausgehen wie für E.on und RWE.

  12. schorsch Sun 21 Feb 2016 at 20:43 - Reply

    Im Ergebnis, meine ich.

  13. Aufmerksamer Leser Mon 22 Feb 2016 at 13:04 - Reply

    @schorsch: Vermute ich auch. Deswegen wird es Wasser auf die Mühlen derjenigen, die Investitionsschutzverträge für notwendig erachten in Rechtsordnungen, deren Eigentumsschutz erodiert.

  14. schorsch Mon 22 Feb 2016 at 14:38 - Reply

    Und mit erodierendem Eigentumsschutz meinen Sie, dass die Laufzeitverlängerungen, die die drei AKW-Betreiber – nach dem zwischenzeitlich bereits beschlossenen Atomausstieg – zwischen Herbst 2010 und Sommer 2011 kurzzeitig in ihren Händen hielten, wieder gestrichen wurden? Laufzeitverlängerungen, von denen jederzeit klar war, dass sie politisch umstritten bleiben würden und dass sie damit unter Änderungsvorbehalt standen?

  15. Aufmerksamer Leser Mon 22 Feb 2016 at 15:00 - Reply

    @schorsch: Mit Erosion von Eigentumsschutz meine ich den Unterschied zwischen den 5-6 Milliarden Euro, die Vattenfall in Washington erstreiten wird vs. 0 Euro, die für E.ON und EN.BW in Deutschland rausspringen werden.
    Das sehen Investoren so: Kaufst Du als deutsches Unternehmen in D ein AKW, ist das im ungünstigsten Fall 0 Euro wert. Kaufst Du als Schwede in D ein AKW, ist das zumindest den Milliardenbetrag wert, den Du Dir in Washington holen kannst, wenn man Dir blöd kommt. Ob Sie den Unterschied als Erosion bezeichnen wollen oder nicht, ist nicht so wichtig. Ich meine damit: Ein Investor interessiert sich nicht so für Art. 14 GG, denn der bringt ihm nicht das, was man sich als Investor unter “Eigentumsschutz” vorstellt, nämlich entweder Nutzung des Eigentums oder Entschädigung.

  16. schorsch Mon 22 Feb 2016 at 15:14 - Reply

    “Erosion” in diesem Sinn hätte also weder eine normative Implikation noch eine zeitliche Dimension (-> keine Verfallsgeschichte)? Wenn Sie Erosion so definieren, hab ich erstmal nichts dagegen. Dann möchte ich Sie aber darauf hinweisen, dass ich in Zukunft Mickey Mouse (MM) statt Grundgesetz (GG) schreiben werde. Aber kein Grund zur Sorge: meint dasselbe.

    Im Übrigen: Jedenfalls für die Höhe der Washingtoner Entschädigung dürfte der von mir geschilderte Ablauf (hoffentlich) auch nicht ganz unerheblich sein (vorherige Vereinbarung zu langfristigem Atomausstieg, dann Laufzeitverlängerung für schon bestehende AKW nach Regierungswechsel, Aussicht der Revision des Ganzen nach nächstem Regierungswechsel). Ich gebe freilich zu, von derartigen Schiedsgerichtsverfahren nicht viel zu wissen.

  17. Aufmerksamer Leser Mon 22 Feb 2016 at 15:32 - Reply

    Mickey Mouse?? Keine Ahnung, was Sie meinen. Erosion heißt, dass Sie als Investor den Eigentumsschutz nicht mehr auf der Ebene des Grundgesetzes suchen können. Da gibt es kein Geld.

  18. Jessica Lourdes Pearson Mon 22 Feb 2016 at 17:52 - Reply

    @schorsch: Wenn ich mich nicht täusche, könnten sich die Atomströmer (auch) an dem folgenden, in der PM des BVerfG genannten Umstand stören:
    “Mit der hier angegriffenen 13. AtG-Novelle hat der Gesetzgeber die Ausstiegsnovelle aus dem Jahr 2002 in der Weise abgeändert, dass er feste Abschaltdaten für die Kernkraftwerke gesetzlich verankert hat, innerhalb derer sie die ihnen 2002 zugewiesenen Reststrommengen verbrauchen mussten.”

  19. schorsch Mon 22 Feb 2016 at 18:36 - Reply

    Wieso “nicht mehr”? Doch Verfallsgeschichte?

  20. schorsch Mon 22 Feb 2016 at 18:37 - Reply

    @JLP: Definitiv.

  21. Jessica Lourdes Pearson Mon 22 Feb 2016 at 19:06 - Reply

    Dann, lieber Schorsch, stimmt aber Ihre Story nicht ganz, dass ja nur die (sowieso umstrittenen) Laufzeitverlängerungen von 2010 gestrichen wurden, und sich die Konzerne deshalb mal nicht so anstellen sollen. Oder?

    Im Übrigen kommt mir gerade ein Verdacht: Ist Aufmerksamer Leser vielleicht ein altgedienter Zivilrichter, der dem Ersten Senat immer noch den Nassauskiesungsbeschluss nachträgt?

  22. Aufmerksamer Leser Mon 22 Feb 2016 at 20:02 - Reply

    @JLP: Verdammt. Ich bin durchschaubar wie Plexiglas.

  23. schorsch Tue 23 Feb 2016 at 08:55 - Reply

    @JLP: Ich würde sagen, wie jede gute Geschichte, ist auch diese *fast* wahr. Zunächst ging man ja auch bei den 2002er Reststrommengen davon aus, dass sie trotz ihrer Flexibilität zu einer Abschaltung aller AKW in einem ähnlichen Zeitrahmen führen würden. Zum anderen müsste man fragen, welche weitere Beschränkung der Zeitrahmen aus wirtschaftlicher Sicht überhaupt bedeutet, wenn er für den Verbrauch der Reststrommengen realistisch oder gar großzügig bemessen ist. Um letzteres zu beantworten, bin ich mit der Materie nicht vertraut genug.

  24. schorsch Tue 23 Feb 2016 at 08:59 - Reply

    @AL: Fettes Brot? Immerhin haben wir jetzt eine ungefähre Ahnung davon, wie alt Sie sind.

  25. Aufmerksamer Leser Tue 23 Feb 2016 at 11:08 - Reply

    Yea, we children of the eighties…

  26. Max Gutbrod Sat 27 Feb 2016 at 16:13 - Reply

    Es sind doch zwei unterschiedliche Fragen: Einmal, inwieweit der Staat sich vor sich selbst durch Grundrechte schützen soll, zum anderen, inwieweit ein fremder Staat vor dem eigenen Staat geschützt wird. Ich finde Grundrechtsschutz des fremden Staates sinvoll, weil er dann umso mehr investieren wir, also umso abhängiger wird.

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