11 May 2020

Sonderopfer für die Volksgesundheit

Freiheitsbeschränkungen zum Lebensschutz in der Coronakrise

Selbst wer den Tod nicht scheut, fürchtet die Leiden des Sterbens und bangt um den Verlust geliebter Menschen, die niemand ersetzen kann. Wir wären gerne bereit, unser Leben und das unserer Angehörigen und Freunde teuer zu erkaufen. Doch der Bedrohung durch die Epidemie müssen wir zum Glück nicht als Einzelne begegnen; wir alle stehen gemeinsam vor ähnlichen Fragen, und die Gemeinschaft bemüht sich um Leben und Gesundheit aller. Dass der Staat zu diesem Zweck viele Rechte und Freiheiten einschränkt, wird meist einfach damit gerechtfertigt, dass Leben und Gesundheit schwerer wiegen als die eingeschränkten Rechte und Freiheiten. Der größte Fehler dieses Arguments besteht nicht darin, dass man dem Leben unbedingtes Übergewicht gegenüber anderen Rechtsgütern zuspricht, sondern darin, dass man überhaupt vorschnell mit der Waage bei der Hand ist, anstatt die Freiheiten der Bürger einfach zu respektieren. Der Staat darf Leben und Gesundheit der einen nicht ohne weiteres gegen Rechte und Freiheiten der anderen in die Waage werfen. Auch zu Gunsten überwiegender Interessen anderer ist jedenfalls dann niemand verpflichtet, seine Rechte und Freiheiten aufzuopfern, wenn er dafür nicht angemessen entschädigt wird.

Aber geht es nicht um unser aller Gesundheit? In der öffentlichen Diskussion wird gerne unterschlagen, dass wir nicht um unserer selbst, sondern um unserer Mitbürger Willen beschränkt werden. Doch nicht anders kann es sein: Wenn der Staat einem mündigen Bürger etwas verbietet, darf er das nie mit dessen eigenen Interesse begründen. Jeder hat das Recht, den Freitod zu wählen. Man darf sein Leben an Alkohol und Zigaretten verbrauchen, und man darf es beim Motorradfahren oder Fallschirmspringen aufs Spiel setzen. Es gibt ängstliche und tollkühne Menschen, und alle dürfen selbst entscheiden, welche Gefahren für sie zu einem lebenswerten Leben dazugehören. Auch die Anschnallpflicht im Straßenverkehr ist nicht etwa deswegen gerechtfertigt, weil sie den Angeschnallten schützt, sondern damit er das Auto noch nach einem Zusammenprall steuern kann und andere nicht dadurch verletzt, dass er durch die Luft fliegt (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 24.7.1986, Az. 1 BvR 331/85 u.a., NJW 1987, 180). Ginge es um unsere eigenen Interessen, so dürfte der Staat uns lediglich über Risiken informieren, uns auch zuraten oder abraten, nicht aber uns irgendetwas verbieten. Das gilt für das Risiko, an Corona zu sterben, ebenso wie für das Risiko, an einem Herzinfarkt deswegen zu sterben, weil die Krankenhäuser mit Coronapatienten überlastet sind.

Wenn man uns vorschreibt, dass wir Gewerbe, Beruf, Wissenschaft nicht betreiben, Religion nicht ausüben, das Haus nicht verlassen, uns nicht frei bewegen dürfen oder eine Maske tragen müssen, kann dies also richtigerweise nur dadurch gerechtfertigt werden, dass es anderen zugutekommt. Unter welchen Umständen aber darf der Staat dem einen zum Vorteil des anderen etwas befehlen? Mit einer Abwägung von Kosten und Nutzen ist es nicht getan: Auch wenn ich meine zweite Niere wahrscheinlich nicht brauche, darf man sie nicht gegen meinen Willen einem anderen einsetzen, der sie nötiger hat. Das Beispiel zeigt gut, wann es in die Irre führt, von einem Verteilungskonflikt zu sprechen: Es geht nicht darum, dass zwei Nieren zwischen mir und dem anderen gerecht zu verteilen wären, sondern ich habe zwei Nieren und der andere hat keine Niere. Wer nur auf die Maximierung des Gesamtnutzens schaut, verkennt, dass manche Positionen dem Einzelnen a priori zugewiesen sind. Wer nicht unterscheidet, ob der Staat in Grundrechte eingreift oder es ihm lediglich nicht gelingt, Grundrechtsgüter gegen widrige Umstände zu schützen, der denkt sich den Staat als Quell alles Guten und aller Übel. Aber der Staat hat uns unsere Nieren nicht gegeben, und auch unsere Freiheiten nicht. Darum ist der Anspruch des Einen, vom Staat in Ruhe gelassen zu werden, grundsätzlich stärker als der Anspruch des Anderen, dass der Staat ihm hilft. Die „kantianischen Fesseln der Aufrechnungsaversion“ (Christoph Winter) gilt es anzuerkennen, nicht sich von ihnen zu befreien.

Steht eine Polizistin vor der Entscheidung, einen lebensgefährlich verletzten Passanten zu versorgen oder ein menschenleeres Restaurant vor der Zerstörung durch einen randalierenden Mob zu bewahren, so muss sie natürlich den Verletzten retten, nicht das Restaurant. Denn Leben und Gesundheit des einen überwiegen Berufsfreiheit und Eigentum des anderen. Eine ganz andere Frage ist, ob man dem einen verbieten darf, sein Restaurant zu betreiben, um Leben und Gesundheit von anderen zu schützen. Dafür kann man nach dem oben Gesagten jedenfalls nicht mit den Interessen derjenigen Kunden argumentieren, die mündig sind und das Lokal wohlinformiert auf eigenes Risiko betreten. Zugegebenermaßen geht das Bundesverfassungsgericht in eine andere Richtung, wenn es das Rauchverbot in Gaststätten mit den Interessen der nichtrauchenden Gäste rechtfertigt. Damit spricht es denen letztlich ab, dass sie über den Besuch frei entscheiden konnten (Urteil vom 30.7.2008, Az. 1 BvR 3262/07 u. a., BVerfGE 121, 317, Rn. 127: „Nichtraucher sollen in diesem Bereich des gesellschaftlichen Lebens nicht nur um den Preis der Gefährdung ihrer Gesundheit teilnehmen können“).

Wann muss ich nun aber eine Begrenzung meiner Freiheit um der Gesundheit anderer Willen hinnehmen? Richtig ist natürlich, dass eines jeden Freiheit durch die Freiheit anderer beschränkt ist. Alterum non laedere, also keinem anderen zu schaden, formulierte als eines der obersten Gebote des Rechts schon der römische Jurist Ulpian (Digesten 1,1,10,1). Gibt es demnach „keine Freiheit, Teil einer Infektionskette zu sein“ (Christoph Bublitz)? Absichtlich darf man andere mit einer ansteckenden Krankheit ebensowenig infizieren, wie man mit einem Messer auf sie einstechen darf. Wieviel Rücksicht man hingegen nehmen muss, um andere nicht unabsichtlich zu schädigen, lässt sich schwierig a priori bestimmen. Manchmal gibt es Unfälle zwischen Hunden und Radfahrern. Darf man deswegen keinen Hund frei laufen lassen, oder darf man nicht radfahren? Hat der Radfahrer an seiner Kopfverletzung selbst schuld, weil er keinen Helm trug? Mein Nachbar fürchtet, sich bei mir anzustecken; muss ich zu Hause bleiben, oder muss er sich hüten? Wo die Grenzen zwischen den Freiheiten verlaufen, ist eine Frage des Herkommens, der gesellschaftlichen Norm, in den Worten des Bürgerlichen Gesetzbuchs: der „im Verkehr erforderliche[n] Sorgfalt“ (§ 276 Abs. 2). Der Staat ist befugt, diese Grenze zu präzisieren und auch an veränderte Bedingungen anzupassen. Hier kann sich in der Epidemie der persönliche Raum erweitern, dessen Achtung der eine vom anderen verlangen darf: So wie ein Radfahrer fordern kann, dass ein Autofahrer beim Überholen einen Sicherheitsabstand einhält, so darf man heute wohl generell verlangen, dass sich einem niemand ohne Mundschutz auf unter zwei Meter nähert. So wie man aber einem anderen sogar die intime Berührung oder die Tätowierung der eigenen Haut erlauben kann, so kann man ihm nach wie vor natürlich auch die Annäherung erlauben.

Besonderes gilt, wenn jemand Gefahren schafft, die als anormal gelten. Für den Fall, dass jemand durch mein Haustier oder Kraftfahrzeug zu Schaden kommt, hafte ich verschuldensunabhängig; wenn ich auf meinem Grundstück ein Loch buddele, muss ich verhindern, dass Kinder hineinfallen; für andere gefahrgeneigte Tätigkeiten brauche ich eine Genehmigung (Jagd) oder sie sind mir schlechthin verboten (Verwendung gewisser Chemikalien). Statt des privaten Ersatz- oder Abwehranspruchs kommt das öffentliche Verbot in Betracht, wenn der Kreis der Gefährdeten nicht so übersichtlich feststeht, dass sie sich im Voraus mit dem Gefährder über Schutzmaßnahmen verständigen könnten. Nach diesem Grundsatz wird der Staat einen Infizierten anweisen dürfen, andere Menschen zu meiden, sofern diese einer Annäherung nicht ausdrücklich zustimmen, und sich dazu jedenfalls in Städten regelmäßig in häusliche Quarantäne zu begeben. Auch gegen jemanden, der einer Infektion lediglich dringend verdächtig ist, wird man eine solche Weisung für den Zeitraum aussprechen dürfen, der notwendig ist, um einen Test durchzuführen. Solange ich aber nicht davon ausgehen muss, infiziert zu sein, verursache ich keine besondere Gefahr, sondern stelle für andere nur das dar, was man allgemeines Lebensrisiko nennt, wenn ich das Haus verlasse, zur Arbeit fahre, einkaufe, Freunde treffe, zum Sport, ins Restaurant oder ins Kino und am Sonntag in die Kirche gehe. Es ist eben die gleiche Gefahr, die von jedem anderen auch ausgeht. Erwarten können meine Mitmenschen von mir in den gegenwärtigen Zeiten allerdings, dass ich dabei Abstand halte oder eine Maske trage.

Dass die Freiheiten gegeneinander abgegrenzt werden müssen, genügt zur Rechtfertigung nicht, wenn der Staat diese Grenzen abrupt und drastisch verschieben oder so ziehen will, dass bestimmte Freiheiten in ihrem Kern verletzt werden. Denn dann negiert der Staat ein bestehendes Recht des einzelnen. Das gilt etwa für die Freiheit, ein Restaurant zu betreiben. Kann nun aber nicht auch diese dem Restaurantbetreiber eigentlich zustehende Freiheit aufgrund demokratischer Prozesse um des gemeinen Wohls willen wenigstens für gewisse Zeit aufgehoben werden? Kann man von ihm verlangen, seinen Betrieb aufzuopfern, damit die Krankenhäuser nicht überlastet werden? Bei der Antwort hilft ein Blick auf §§ 74, 75 der Einleitung zum Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten aus dem Jahr 1794:

§. 74. Einzelne Rechte und Vortheile der Mitglieder des Staats müssen den Rechten und Pflichten zur Beförderung des gemeinschaftlichen Wohls, wenn zwischen beyden ein wirklicher Widerspruch (Collision) eintritt, nachstehn.

§. 75. Dagegen ist der Staat denjenigen, welcher seine besondern Rechte und Vortheile dem Wohle des gemeinen Wesens aufzuopfern genöthigt wird, zu entschädigen gehalten.

Jedenfalls hinter diesen Standard sollten wir nicht zurückfallen. Dieselbe Wertung ergibt sich heute im Verhältnis zwischen Privaten aus § 904 des Bürgerlichen Gesetzbuchs, für den staatlichen Entzug von Rechtspositionen aus Art. 14 Abs. 3 des Grundgesetzes und im Bereich der Gefahrenabwehr aus Normen wie dem § 51 Abs. 1 Nr. 1 des Bundespolizeigesetzes: Zieht der Staat zur Gefahrenabwehr jemanden heran, der die Gefahr nicht selbst verursacht, so mag dies „zur Beförderung des gemeinschaftlichen Wohls“ ausnahmsweise rechtmäßig sein. Immerhin werden noch heute ganze Dörfer für den Braunkohletagebau enteignet. Anders als mit dem auch vom Ehtikrat herangezogenen Konzept der Solidarität in einer Gemeinschaft lässt sich das wirklich nicht erklären. Selbst ausnahmsweise können solche Maßnahmen jedenfalls nur unter der Bedingung rechtmäßig sein, dass den Betroffenen dafür eine angemessene Entschädigung gezahlt wird.

Eine solche Entschädigung steht auch Selbständigen zu, die ihren Betrieb zur Eindämmung der Pandemie auf öffentliche Anordnung hin schließen. Im Vergleich mit anderen Berufstätigen, deren Erwerb nicht von ähnlichen Verboten betroffen ist – allen voran den Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes –, erbringen sie ein Sonderopfer. Dass so viele gleichzeitig betroffen sind, kann daran nichts ändern. Denn das Unrecht wird nicht besser, wenn es größer wird. Dass es die Staatsfinanzen besonders belastet, den durch so weitreichende Maßnahmen angerichteten Schaden zu ersetzen, kann ebenfalls kein Argument dagegen sein. Die öffentlichen Kassen sind ein Problem der Allgemeinheit, das nicht dadurch zum Problem einzelner Gruppen wird, dass der Staat gerade sie zum Adressaten seiner Maßnahmen macht. Der Staat kann die Kosten jedenfalls eher vertragen als die Betroffenen, und er ist als Verursacher dazu verpflichtet. Es kann also keine Rede davon sein, dass solche Unternehmen „Staatshilfe“ beantragen dürfen; sie haben mindestens Anspruch auf Entschädigung. Noch bedenklicher ist der Freiheitsentzug in den Fällen, in denen er durch Geld nicht angemessen entschädigt werden kann.

Die Coronakrise stellt den Staat vor das Problem, wie er unter den Bedingungen des Gesundheitsschutzes seinen Aufgaben nachkommen und seinen Bürgern die Leistungen erbringen kann, die sie von ihm erwarten. Wie sind Kindergarten und Schule, wie die Pflege von Kranken und Alten, wie ein Behördenbetrieb in der Epidemie möglich? Auf die Frage hingegen, wie die Menschen leben sollen, braucht der Staat in der Krise ebensowenig eine Antwort zu wissen wie zu normalen Zeiten; geschweige denn eine bestimmte Lebensweise vorschreiben. Wenn gegenwärtig die meisten Einschränkungen aufgehoben werden, so wird das vor allem damit begründet, dass eine Fortsetzung des Verschlusses die wirtschaftlichen Schäden ins Untragbare steigerte. Doch solange nur mit Nützlichkeiten argumentiert wird, bleiben unsere Freiheiten prinzipiell irrelevant und praktisch prekär. Nachdem der erste Schock über die unerwartete Bedrohung abgeklungen ist, bleibt zu hoffen, dass Zweifel an dieser Denkweise ins allgemeine Bewusstsein dringen.


9 Comments

  1. Jessica Lourdes Pearson Mon 11 May 2020 at 18:07 - Reply

    Sofern dieser Beitrag als genuin juristischer gemeint ist, würde er ungemein durch Angabe einer aktuellen rechtlichen Anspruchsgrundlage für den postulierten Entschädigungsanspruch (und durch Subsumtion unter dessen Voraussetzungen) gewinnen.

    • Gregor Albers Tue 12 May 2020 at 12:00 - Reply

      Das Anliegen verstehe ich; winde mich aber und verweise auf meine Antwort auf den Kommentar von Heiko Sauer. Vielen Dank für’s Lesen!

  2. Heiko Sauer Tue 12 May 2020 at 11:22 - Reply

    Lieber Herr Albers,
    passt der Aufopferungsgedanke hier wirklich? Er trägt unter dem Grundgesetz (unabhängig von einer tradierten, aber auch viel kritisierten Rechtsprechung der Zivilgerichte) ohnehin kaum mehr, weil der Grund der Entschädigung des Sonderopfers ursprünglich v.a. darin bestand, dass die Aufnötigung eines Sonderopfers nicht auf der Grundlage eines Individualrechts so abgewehrt werden kann, wie das heute der Fall ist. Wenn ich mich aber nicht wehren kann, ist der Gedanke, zumindest entschädigt zu werden (allerdings nach tradierter Lesart gerade nicht im Anwendungsbereich der Berufsfreiheit), viel plausibler als dann, wenn ich mich wehren kann und schon hierbei zwischen Individualrecht und kollidierendem öffentlichem Interesse abgewogen wird.

    Heute fehlt uns deshalb ein belastbares und einigermaßen klar anwendbares Kriterium für das Sonderopfer: Denn die Rechtmäßigkeit des Handelns darf ich nur dann annehmen, wenn das Individualrecht dem öffentlichen Interesse weichen muss. Warum dann noch entschädigen? Man könnte allenfalls sagen, dass die Entschädigung zur Rechtmäßigkeitsbedingung wird (nach dem Vorbild der Enteignung). Da kommen wir aber schnell auf Abwege, weil der Staat dann Geld in die Hand nehmen darf, um mir meine Grundrechte abzukaufen. Macht man das nicht mit, bleibt die Sonderopferentschädigung bei Rechtmäßigkeit heute allenfalls noch dann tragbar, wenn es um ganz besondere Fälle geht, in denen die “besondere” Belastung des Einzelnen handgreiflich wird. In der gegenwärtigen Lage scheint mir nun aber gerade das Gegenteil der Fall zu sein.

    Sie kommen m.E. deshalb nur dann zur Entschädigung, wenn Sie die von Ihnen angesprochenen Maßnahmen für rechtswidrig halten (wohl nicht über Amtshaftung, aber immerhin über den enteignungsgleichen Eingriff, das dann aber auch wieder nicht für die Berufsfreiheit).

    • Gregor Albers Tue 12 May 2020 at 11:57 - Reply

      Lieber Herr Professor Sauer,

      ganz herzlichen Dank für Ihr Feedback!

      Es kommt mir letztlich nicht darauf an, ob man die Verbote als rechtswidrig ansieht, sofern sie keine Entschädigung vorsehen, oder ob man sie als rechtmäßig ansieht, aber auch ohne explizite Grundlage einen Entschädigungsanspruch gewährt (was man ja wohl seit der Nassauskiesung eher ablehnt, wenn ich das richtig sehe). Ich wage mich hier schon genug auf fremdes Terrain; das sollen die Staatshaftungsrechtler unter sich ausmachen. Aber eins von beidem muss es meines Erachtens sein; also: “Entschädigung als Rechtmäßigkeitsbedingung”, wie Sie schreiben.

      Die “Abwege” würde ich als Gegenargument nicht gelten lassen: Man kann doch den Bürgern nicht eine Entschädigung in den Fällen, in denen der Staat ihnen das Grundrecht “abkaufen” darf (also eine Aufopferung verlangen), mit dem Argument vorenthalten, dass er es ihnen nicht in allen Fällen “abkaufen” darf. Da gäbe man Steine statt Brot.

      Vielen Dank nochmal und herzliche Grüße!
      Gregor Albers

  3. Clemens Weidemann Tue 12 May 2020 at 17:10 - Reply

    Lieber Herr Albers,

    vielen Dank für diesen überaus instruktiven Beitrag. Es bleibt die Frage, ob die von Ihnen (m.E. richtigerweise) geforderte Entschädigung jedenfalls für berufliche Tätigkeitsverbote de lege lata schon geregelt ist. Die verordnete Schließung von Einrichtungen führt dazu, dass “Dienstleister” (“Anbieter von Freizeitaktivitäten z.B.) ihrem Beruf wegen der verordneten nicht mehr nachgehen konnten (vgl. nur § 4 Abs. Nr. 11 i.V.m. Abs.4 der BW-Coronaverordnung v. 17.03.2020). Die Verordnungsgeber stützen den Eingriff in die Berufsausübung auf § 31 IfSG). Allerdings rechtfertigt diese Ermächtigungsgrundlage nicht die flächendeckende Inanspruchnahme von Nichtstörern, bei denen nicht einmal ein Ansteckungsverdacht festgestellt ist. Rechtmäßig wäre der Eingriff also nur dann, wenn die Voraussetzungen für “Maßnahmen gegenüber unbeteiligten Personen” vorliegen (§ 9 PolG BW). Dass diese strengen Voraussetzungen vorlagen, hat meines Wissens bisher niemand geltend gemacht, geschweige denn nachvollziehbar dargelegt. Geht man trotzdem davon aus, dass sie vorlagen, wären die landesrechtlichen Vorschriften über die Nichtstörer-Entschädigung einschlägig. Andernfalls stellt sich die Frage, ob und nach welchen Vorschriften die Länder auch für gesetzwidrige Polizeiverordnungen haften.

    • Gregor Albers Wed 13 May 2020 at 08:13 - Reply

      Lieber Herr Weidemann, vielen Dank für die freundlichen Worte! Was Sie über die Anspruchsgrundlagen schreiben, klingt für mich sehr plausibel. Wo dann eine Lücke bleibt, stellt sich die Frage für mich so, ob man für die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen verlangt, dass der Staat darin eine Entschädigung bereits ausdrücklich vorsieht (und den Bürger andernfalls darauf verweist, die Maßnahmen selbst abzuwehren), oder ob man die Maßnahmen auch ohne besondere Entschädigungsregel gelten lässt und aus allgemeinen Grundsätzen einen Aufopferungsanspruch gewährt. Siehe dazu auch meine Antwort auf die Frage von Heiko Sauer.

  4. Hubert Kohle Sat 3 Apr 2021 at 19:54 - Reply

    Sehr geehrter Herr Albers,
    das Ordnungsamt der Stadt Stuttgart hat für heute eine sog. Querdenkerdemo genehmigt. Wie zu erwarten, wurden von mehreren tausend Personen die während der Corona-Pandemie geltenden Bestimmungen nicht eingehalten.
    Meine Frage: Kann das Ordnungsamt (per Anzeige?) zur Rechenschaft gezogen werden, da es wissentlich der Gefährdung der Volksgesundheit Vorschub geleistet hat?
    Vielen Dank

    • Gregor Albers Wed 28 Apr 2021 at 15:34 - Reply

      Sehr geehrter Herr Kohle, wenn Sie es versuchen, schreiben Sie uns, wie es ausgegangen ist! Herzliche Grüße!

  5. Gregor Albers Wed 28 Apr 2021 at 15:50 - Reply

    Eine geringfügig erweiterte englische Fassung des Beitrags ist erschienen unter dem Titel: „Personal Sacrifices for Public Health? Doubts on Interfering with Liberty to Protect Life“, in: Werner Gephart (Hg.), „In the Realm of Corona Normativities. A Momentary Snapshot of a Dynamic Discourse“ (Recht als Kultur, Band 23), Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2020, 479–485.

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