Straßburg nimmt den Kampf gegen Überwachungsstaat auf
Die Europäische Menschenrechtskonvention schützt uns davor, dass unser Staat zu einem Überwachungsstaat mutiert. Das zumindest ist der Anspruch, den der Straßburger Menschenrechtsgerichtshof vor wenigen Wochen in seiner epochalen und in der deutschen Öffentlichkeit (einschließlich hier) viel zu wenig wahrgenommenen Entscheidung Sacharow v. Russland aufgestellt hat: Wenn Polizei oder Geheimdienst die Telefon- und Internetkommunikation von buchstäblich jedem überwachen darf, dann darf auch buchstäblich jeder dagegen klagen. Und wenn es an hinreichend robuster Kontrolle dieser Überwachung fehlt, dann verletzt sie buchstäblich jeden von uns in unserem Recht auf Privatsphäre.
Vielleicht hatte die vergleichsweise geringe Resonanz auch damit zu tun, dass es ein russischer Fall war: Russland, ja Russland, dort machen die solche Sachen. Aber heute hat es mit der Kammerentscheidung Szabó v. Ungarn den ersten EU-Staat erwischt. Es wird nicht der letzte bleiben.
Nach ungarischem Polizeirecht brauchen die Anti-Terror-Spezialkräfte keine richterliche Anordnung, wenn die Überwachung erforderlich ist, um einen Terrorakt oder eine Beeinträchtigung der nationalen Sicherheit Ungarns zu verhindern. Dann reicht eine Anordnung des Justizministers. Außer der Erforderlichkeit gibt es insoweit keine materiellen Voraussetzungen, insbesondere nicht, wessen Kommunikation in diesen Fällen überwacht werden kann. Wer immer die Sicherheitsbehörden neugierig macht, dessen Kommunikation kann überwacht werden, auch wenn er/sie sich noch so weit entfernt von jeglicher Terroraktivität wähnt.
Dagegen klagten Mate Szabó und Beatrix Vissy, zwei Mitarbeiter einer Bürgerrechts-NGO. Die ungarische Regierung sprach ihnen schon jede Befugnis dazu ab: Wer gegen ein Gesetz klagt, muss individuell davon betroffen sein, und ob nun Szabó und Vissy mehr als jeder andere auch in Gefahr sind, überwacht zu werden, müssten die beiden erst einmal beweisen.
Müssen sie nicht, so der EGMR kühl. Überwacht wird ja geheim, was notwendig heißt, dass man nicht weiß, dass man überwacht wird. Wenn nur klagen kann, wer es weiß und beweisen kann, dann könnte sich der Staat jeglicher Kontrolle entziehen. Das ist im Kern schon seit 1978 Stand der Technik. Hier kommt dazu, dass die Kläger einer Watchdog-NGO angehören, aber selbst wenn nicht: Jede potenzielle Betroffenheit reicht in dieser Konstellation aus.
Die Möglichkeit, dass ihre Kommunikation überwacht wird, greift in ihr Recht auf Privatsphäre ein. Genügen die polizeirechtlichen Regeln, die sie schaffen, als gesetzliche Grundlage für einen solchen Eingriff? Nur, wenn sie es für die potenziell Betroffenen genügend vorhersehbar machen, was ihnen droht. Wie schon in Sacharow besteht der EGMR darauf,
(that) the law must indicate the scope of any such discretion conferred on the competent authorities and the manner of its exercise with sufficient clarity, having regard to the legitimate aim of the measure in question, to give the individual adequate protection against arbitrary interference…
Ein Gesetz, das aber prinzipiell Überwachungsmaßnahmen gegen jede und jeden möglich macht, könne aber kein solches Gesetz sein. Wenn sich das Gesetz nicht festlegt, wer überwacht werden kann, dann gebe es nichts, wozu man den Eingriff ins Verhältnis setzen kann. Das geht nur, wenn es einen individuellen Verdacht gebe.
Der portugiesische Richter Paulo Pinto de Albuquerque regt sich in seinem Minderheitsvotum über diese Formulierung ziemlich auf. Seiner Meinung nach war der Maßstab, den der EGMR in Sacharow aufgestellt hat, viel strikter und präziser: Verlangt sei, so die Große Kammer in RNr. 260,
(a) reasonable suspicion against the person concerned, in particular, whether there are factual indications for suspecting that person of planning, committing or having committed criminal acts or other acts that may give rise to secret surveillance measures, such as, for example, acts endangering national security.
In der Tat taucht diese Formulierung in Szabó nicht mehr auf. Zwar beruft sich die entsprechende Passage dort ausdrücklich auf Sacharow, zitiert aber nur die RNr. 259 und 261, also diese hier gerade nicht. Ob man so weit gehen kann, daraus ein Abrücken von dem gerade mal vier Wochen alten Grundsatzurteil der Großen Kammer herauszulesen? Pinto de Albuquerque tut es jedenfalls.
Vielleicht ahnt die Kammer schon, was dem EGMR bevorsteht, wenn es zur Konfrontation mit den Briten und anderen im Kampf gegen den Terror zu allem entschlossenen Regierungen kommt. Pinto de Albuquerque ist seinerseits zu allem entschlossen, das ist seinem Sondervotum deutlich anzumerken. Aber unter den anderen gibt es vielleicht manche, die in ihren Stiefeln schlottern.
Am gleichen Tag, als in Straßburg Sacharow verkündet wurde, beschloss das russische Parlament, künftig Urteile aus Straßburg unter bestimmten Bedingungen nicht mehr zu beachten. In UK ist das (noch) keine offizielle Linie, aber teilweise bereits Praxis. Der Europarat kann keine Gerichtsvollzieher schicken, um die Straßburger Urteile durchzusetzen. Er kann nur Naming and Shaming betreiben. Wenn genügend Mitgliedsstaaten finden, es sei überhaupt keine Shame, EGMR-Urteile nicht mehr umzusetzen. Und dann hilft das Ganze nicht mehr viel.
Die Europäische Menschenrechtskonvention schützt uns davor, dass unser Staat zu einem Überwachungsstaat mutiert? Dann nicht mehr…
Interessante Einschätzung, bringt den immer größer werdenden politischen Druck für den EGMR und den Europarat auf den Punkt.
“Ob man so weit gehen kann, daraus ein Abrücken von dem gerade mal vier Wochen alten Grundsatzurteil der Großen Kammer herauszulesen?” – So weit würde ich allerdings nicht gehen, Sacharow war immerhin von der Großen Kammer. Die Kammer kann dies rein dogmatisch jedenfalls nicht stürzen. Aber vielleicht landet Szabó ja auch noch vor der GC, wer weiß? ;-)