Tarifautonomie als Gerechtigkeit – und warum das TEG trotzdem hätte scheitern müssen
I. Einleitung
Mit seiner Entscheidung zum Tarifeinheitsgesetz hat das Bundesverfassungsgericht zugleich eine kraftvolle Wortmeldung zu den Grundlagen des Tarifrechts geliefert. Das ist neuer Stoff zur immer wieder verhandelten tarifrechtstheoretischen Frage, was eigentlich geschieht, wenn Tarifparteien von ihrer Tarifautonomie Gebrauch machen. Wir gehen deshalb zunächst darauf ein (II). Erst auf dieser Grundlage lassen sich die Auskünfte des Urteils zur Frage erörtern, was das eigentümliche Grundrecht des Art. 9 III GG eigentlich schützt oder gewährt (III). In einem für Verfassungsrechtlerinnen retardierenden Moment folgt anschließend eine kurze rechtspolitische Beurteilung des Tarifeinheitsgesetzes (IV). Dann folgt die Würdigung verfassungsrechtlicher Einzelfragen (V).
 II. Kollektive Privatautonomie vs. verhandelte Normsetzung
Gegenstand der tarifrechtstheoretischen Kontroverse ist das Grundverständnis des Tarifvertrags: Handelt es sich um ein Resultat „kollektiver Privatautonomie“ (plakativ: Tarifvertrag) oder um verhandelte Rechtsnormsetzung (Tarifvertrag)? In der Literatur ist die Idee „kollektiver Privatautonomie“ zwar nicht unbestritten, aber klar vorherrschend. Es handelt sich um eine Adaption der Willenstheorie des zivilrechtlichen Vertrags: Die Tarifvertragsparteien nehmen auf kollektiver Ebene gegenständlich begrenzte („Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“), aber inhaltlich ungebundene Vertragsfreiheit wahr. So behauptet es die Willenstheorie auch für den Austauschvertrag, dort natürlich ohne gegenständliche Begrenzung, wohl aber in den Grenzen zwingenden Vertragsrechts. Zentral ist aus dieser Sicht, dass der Tarifvertrag nach dem Tarifvertragsgesetz (in anderen EU-Mitgliedstaaten ist es anders) im Normalfall nur für die Tarifgebundenen gilt, also auf Arbeitnehmerseite nur für die Gewerkschaftsmitglieder. Da Mitgliedschaft wiederum auf freiwilligem Beitritt beruht, scheint der Tarifvertrag auf keinem anderen Prinzip zu fußen als einer willenstheoretisch zugespitzten Privatautonomie.
Dem steht die Normsetzungstheorie gegenüber. Nach ihr soll der Tarifvertrag unter der Anomalie des Arbeitsmarktes („Konkurrenzparadox“) einen fairen Preis und faire Bedingungen des arbeitsvertraglichen Leistungsaustauschs garantieren. Das ist eine Funktion, die im allgemeinen Vertragsrecht Wucherverbot, Treu und Glaubens-Gebot, AGB-Kontrolle und zwingendes Vertragsrecht erfüllen. Nach der Normsetzungstheorie schließen die Tarifvertragsparteien keinen privatrechtlichen Vertrag. Sie verhandeln vielmehr den Inhalt arbeitsvertragsrechtlicher Normen, die ebenso wie gesetzliches Schutzrecht den Inhalt des Austauschs von Arbeitsleistung gegen Entgelt einseitig zwingend bestimmen. Zum Inhalt gehört insbesondere das Entgelt selbst, aber auch das macht den Tarifvertrag nicht zum Austauschvertrag. Die tariflichen Lohnsätze entsprechen funktional vielmehr gesetzlichen Mindestentgelten.
Die Besonderheit, dass der Tarifvertrag normativ nur für Gewerkschaftsmitglieder gilt, ist beim tarifgebundenen Arbeitgeber ohne praktischen Belang, weil er alle Arbeitnehmer gleichbehandelt. Aber auch für Arbeitsverhältnisse beim nicht-tarifgebundenen Arbeitgeber kann der Tarifvertrag per Allgemeinverbindlicherklärung normative Wirkung erlangen. Und selbst ohne Allgemeinverbindlicherklärung entfaltet jedenfalls der Lohntarifvertrag normative Kraft über § 138 II BGB: Der Tariflohn beziffert das angemessene Verhältnis von Leistung und Gegenleistung, das nicht allzu weit unterschritten werden darf.
Die Willenstheorie des Tarifvertrags kann sich scheinbar auf den Arbeitsrechtler Philipp Lotmar berufen, der den Tarifvertrag tatsächlich als zivilrechtlichen Vertrag rekonstruierte. Das war seinerzeit notwendig, um den Vereinbarungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften überhaupt rechtliche Wirksamkeit zu verschaffen, denn die Normgeltung ist auf gesetzliche Anerkennung angewiesen. Das heutige Kollektivarbeitsrecht hingegen gründet auf Hugo Sinzheimers Theorie des „korporativen Arbeitsnormenvertrags“. Sinzheimer erkannte den Normencharakter des Tarifvertrags. Seine Theorie diente als Grundlage für die Tarifvertragsordnung aus dem Jahr 1918, die weitgehend dem Tarifvertragsgesetz von 1949 entspricht. Auf Sinzheimer kann sich also die Normsetzungstheorie berufen.
Die derzeitige Vorherrschaft der Idee „kollektiver Privatautonomie“ gründet auf dem Einfluss der Willenstheorie im Vertragsrecht – und sicherlich nicht darauf, dass die Willenstheorie das geltende Tarifrecht erhellen könnte. Mit maßgeblichen Zügen hat sie rekonstruktiv große Schwierigkeiten. Das betrifft schon die normative Wirkung, die eine individualvertragliche Abweichung zum Nachteil des Arbeitnehmers hindert. Auch den allgemeinverbindlichen Tarifvertrag muss sie eigentlich ablehnen, hilfsweise als staatliches Gesetz ausgeben, dessen verfassungsrechtliche Legitimation freilich scheitern müsste. Gesetzliche Mindestlöhne, die nicht tarifdispositiv gestellt sind, erscheinen als Verletzung der Tarifvertragsfreiheit. Die Liste ließe sich fortsetzen. Während also Lotmar auf eine rechtliche Anerkennung des Tarifvertrags zielte, setzt die willenstheoretische Konzeption heute das geltende Tarifrecht unter Druck. Wobei festzuhalten ist: Viele Vertreter der Willenstheorie in der Lehre wie auch im Bundesarbeitsgericht vermögen die destruktiven Folgen durch dogmatische Inkohärenz zu vermeiden.
Die willenstheoretische Konzeption streitet nicht zuletzt auch gegen die Tarifeinheit: Wenn es sich bei Tarifverträgen um privatautonome Verträge handelt, ist nicht erkennbar, dass eine Pluralität solcher Verträge irgendein Problem darstellen könnte. Für die Normsetzungstheorie hingegen ist Tarifpluralität eine konzeptionelle Herausforderung. Es ist erläuterungsbedürftig, warum für Arbeitsverhältnisse gleicher Art, anders als etwa für Wohnraummietverhältnisse und für Verbrauchervertragsverhältnisse gleicher Art, unterschiedliche Schutznormen Anwendung finden und damit, zugespitzt, für identische Arbeitsleistungen auf Normebene unterschiedliche Preise gelten können. Insofern drängt die Normsetzungstheorie konzeptionell tatsächlich zur Einheit des Tarifvertragssystems (die natürlich nicht einzig durch die Einheitsgewerkschaft zu erreichen ist).
Für die arbeitsrechtswissenschaftliche Diskussion ist es nun von großer Bewandtnis, dass sich der Senat nicht auf den Boden der Willenstheorie gestellt hat. Zwar werden die üblichen Formeln verwendet, die auch der Willenstheoretiker akzeptieren würde, obwohl ständig von Fairness und Richtigkeit die Rede ist. So heißt es etwa, der Gesetzgeber dürfe darauf hinwirken, „dass Tarifverhandlungen einen fairen Ausgleich ermöglichen und damit – im Sinne der Tarifverträgen zukommenden Richtigkeitsvermutung – angemessene Wirtschafts- und Arbeitsbedingungen hervorbringen können.“ (Rz. 145). Diese Begriffe von Fairness und Richtigkeit deutet der Willenstheoretiker jedoch immer noch im Anschluss an Walter Schmidt-Rimpler „prozedural“. Das geht schon im Vertragsrecht nicht, aber das kann hier nicht vertieft werden.
Die zentrale Absage des Senats an die Willenstheorie liegt indessen darin, dass die Zwecke, die die Bundesregierung für das Tarifeinheitsgesetz angegeben hat, unbeanstandet bleiben (Rz. 152 ff.; Gleiches gilt augenscheinlich für die Senatsminderheit, Sondervotum Rz. 2 a.E.). Die Regierung hatte nämlich die „Verteilungsfunktion“ des Tarifvertrags geltend gemacht (die auch der Gesetzgeber, legistisch grauenvoll, aber in einer Art Notwehrreaktion gegen die Vorherrschaft der Willenstheorie, in § 4a I TVG untergebracht hatte). Die Verteilungsfunktion sei nur einzulösen, wenn sich der Wert der Arbeitsleistung für eine Berufsgruppe nicht nach ihrer Streikstärke bemesse. Vielmehr müsse die Streikstärke der Arbeitnehmerschaft insgesamt gebündelt werden, so dass – so ist zu ergänzen – die Wertrelationen unterschiedlicher Arbeitsleistung zunächst innergewerkschaftlich und anschließend am Verhandlungstisch bestimmt werden können. Der Senat erkennt die Verteilungsfunktion jedoch nicht bloß als legitimen Zweck an, er macht auch die Verdrängungswirkung davon abhängig, ob eine angemessene Verteilung unter den Berufsgruppen angestrebt wurde (Rz. 186). Den fairen Ausgleich innerhalb der Belegschaft erhebt er zur Kernfunktion der Gewährung von Tarifautonomie.
Die tarifrechtstheoretische Pointe dessen ist aber: Die Willenstheorie vermag diese Funktion grundsätzlich nicht einzuholen. Denn eine auf Basis von Privatautonomie agierende Gewerkschaft muss sich für die Verteilung der Lohnsumme innerhalb der Arbeitnehmerschaft wirklich nicht interessieren. Vor dem Verfassungsgericht ist die tarifrechtstheoretische Kontroverse zwischen kollektiver Privatautonomie und Normsetzungstheorie mithin zugunsten letzterer entschieden.
III. Koalitionsfreiheit als klassisches Freiheitsrecht?
Die normsetzungstheoretische Konzeption hat unmittelbare Implikationen für das Verständnis von Art. 9 Abs. 3 GG. Wenn der Sinn der Tarifautonomie nicht die Wahrnehmung einer Art von Vertragsfreiheit ist, sondern die Setzung von Schutznormen, die die Fairness im arbeitsvertraglichen Austausch durch zwingende Normen zu sichern haben, dann kann es sich bei der entsprechenden grundrechtlichen Gewährleistung nicht um ein Freiheitsrecht wie jedes andere handeln. Bei den Freiheitsrechten geht es – von privatrechtstheoretischer Warte aus zugespitzt – schließlich darum, die durch das Privatrecht konstituierte Freiheit der Person im Handeln mithilfe der eigenen Gegenstände (Art. 2, 14 GG) oder auf bestimmten Terrains (Meinung, Versammlung, Religion etc.) vor übermäßigen Einschränkungen im Zuge staatlicher Allgemeinwohlverfolgung zu bewahren. Die Setzung vertragsrechtlicher Schutznormen stellt aber sicherlich keine privatrechtlich konstituierte Freiheit dar.
Hinzu kommt: Es gehört zum Kern der klassischen Freiheitsrechte, dass der Staat gegenüber dem „Ob“ des Freiheitsgebrauchs indifferent ist. Wenn die Gewähr von Versammlungsfreiheit nicht ein gewisses Maß von Versammlungen hervorbringt, beginnt der Staat nicht selbst, Versammlungen zu veranstalten. Bei der Koalitionsfreiheit ist das anders: Kommt es auf der Basis der Tarifautonomie nicht zu einer zureichenden Normierung angemessener Arbeitsbedingungen, hält sich der Staat als subsidiärer Normgeber bereit.
Leider gelingt es dem Senat nicht, seine Absage an die Willenstheorie des Tarifvertrages grundrechtstheoretisch zu reflektieren. Stattdessen heißt es schon im Leitsatz ohne weitere Qualifikation, es handle sich bei Art. 9 III GG um ein Freiheitsrecht (Ls. 1, s.a. Rz. 130). Freilich bleibt dies jedenfalls bei der Senatsmehrheit ohne Folgen, weil immerhin die Rechtfertigungsprüfung durch ein normsetzungstheoretisches Verständnis des Tarifvertrags informiert ist.
Natürlich ist nicht zu bestreiten, dass die Tarifautonomie eine Freiheitsdimension hat, die sie mit den liberalen Freiheiten verbindet: Eine bestimmte Betätigung wird sowohl gegen den Staat und im Modus der Drittwirkung gegen ihre Unterminierung seitens Privater geschützt: Der Staat muss die freie Gründung von Gewerkschaften zulassen, er darf bestehende Gewerkschaften nicht verbieten, vieles mehr ließe sich aufzählen. Die Arbeitgeberseite darf Gewerkschaftszugehörigkeit nicht sanktionieren, Austritte nicht belohnen, und so weiter.
Gerade hinsichtlich der Pluralität zeigt sich aber wieder die grundlegende Differenz zu den echten Freiheitsrechten. Bei den bürgerlichen Freiheiten gehört die Pluralität zum Sinn der jeweiligen Freiheit (Pluralität von Meinungen, Vereinigungen und Religionen). Die Möglichkeit der Pluralität von Gewerkschaften hingegen ist zunächst einmal nur eine zwingende Folge der Freiheitsgarantie gegenüber Staat und Arbeitgeber. Die Garantie der Staats- und Gegnerfreiheit von Gründung und innerer Verfassung der Gewerkschaft eröffnet die Möglichkeit, dass mehrere Gewerkschaften zueinander in Konkurrenz treten. Zum Sinn der Tarifautonomie gehört diese Pluralität nicht.
Pluralität und Konkurrenz von Gewerkschaften ist also tatsächlich verfassungsrechtlich zwingend. Unzutreffend ist erst die Folgerung, dass sich die Konkurrenz der Gewerkschaften in divergierenden Tarifnormen, also in divergierenden Maßgaben eines fairen Austauschs für dieselbe Arbeitsleistung, entfalten und namentlich zu unterschiedlicher Entlohnung gleicher Arbeitsleistung im gleichen Betrieb führen können muss. Ebenso wie die negative Koalitionsfreiheit nur die Freiheit zum Koalitionsbeitritt schützt, aber keine Freiheit von Bindung an Tarifnormen garantiert, schützt auch die positive Koalitionsfreiheit nur die Freiheit zur Betätigung als konkurrierende Gewerkschaft, und garantiert keine Freiheit zur Setzung wirksamer divergierender Normen. Vielmehr ist die Entscheidung darüber, ob divergierende Tarifnormen im gleichen Betrieb möglich sind, eine echte Ausgestaltungsentscheidung des Gesetzgebers.
IV. Rechtspolitische Beurteilung
Sicherlich ist es politisch wünschenswert, dass den Gewerkschaften die Beseitigung der Divergenz von Schutznormen autonom gelingt. Sofern sich wie in der bundesdeutschen Gegenwart nicht sämtliche Gewerkschaften unter einem Dach vereinigen, kommt die Bildung von Tarifgemeinschaften in Betracht, oder auch die konsensuale Abgrenzung von Zuständigkeiten. Das gelingt oft, aber bekanntlich nicht immer.
So stellt sich die Frage nach dem Sinn legislativer Intervention. Sowohl die frühere Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Tarifeinheit, als auch § 4a TVG stellen für die Intervention auf den Betrieb ab und zielen auf die Beseitigung von Kollisionen in dieser im kollektiven Arbeitsrecht kleinsten grundständigen Einheit. Das ist höchst plausibel, insofern sich auch die Tarifzuständigkeit vieler Gewerkschaften gerade nach der Branchenzuordnung von Betrieben richtet, und insofern sich jedenfalls auf betrieblicher Ebene für Abweichungen vom elementaren Grundsatz „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ keine Rechtfertigungen angeben lassen.
Bis 2012 hatte das Bundesarbeitsgericht die Kollision von Tarifverträgen, die für einen Betrieb Regelungsgegenstände divergierend regeln, nach der lex-specialis-Regel aufgelöst. Das war verfehlt. Denn die lex-specialis-Regel löst Normkonkurrenzen auf, die ein- und derselbe Normsetzer erzeugt hat. Aus diesem Grund war die Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit im Ergebnis richtig.
Das Tarifeinheitsgesetz verfolgt demgegenüber einen besseren Ansatz: Es zählt die Zahl der Mitglieder, statuiert also das Mehrheitsprinzip. Dieses gilt bereits bei der Konkurrenz von betrieblichen oder betriebsverfassungsrechtlichen Normen, bei denen allein die Tarifbindung des Arbeitgebers maßgeblich ist und diejenige der Arbeitnehmer keine Rolle spielt. Hier konnte es immer schon zu einer Tarifkonkurrenz durch die Tarifnormen konkurrierender Gewerkschaften kommen. Für die Lösung dieser Konkurrenz ist das Mehrheitsprinzip zwar praktisch nicht erprobt, aber dogmatisch anerkannt.
Dennoch ist zu bezweifeln, ob diese Intervention sinnvoll war. Man kann das letztlich nur verneinen. Die Effekte der Regelung sind unsicher. Die zwischengewerkschaftlichen Gräben werden womöglich vertieft. Es entsteht Rechtsunsicherheit, die gerade die Gewerkschaften noch lange in Tarifauseinandersetzungen belasten könnten. Die Liste ließe sich fortsetzen. Insbesondere die Feststellung von Mehrheitsverhältnissen birgt nach dem Stand der Dinge eigentlich unvertretbare Risiken (dazu auch sogleich noch einmal).
V. Verfassungsrechtliche Beurteilung
Ob die politisch wenig erfreuliche Intervention des Gesetzgebers gegen das Verfassungsrecht verstößt, ist eine davon zu trennende Frage. Hier ist nun auf die wesentlichen Punkte der Entscheidung einzugehen.
1. Kein Eingriff in die Streikfreiheit
Die Senatsmehrheit kommt zu dem Schluss: Das Tarifeinheitsgesetz berührt das Streikrecht nicht (Rz. 139 f.). Der Gesetzgeber hatte in der Gesetzesbegründung angedeutet, dass sich das Gesetz zur mittelbaren Einhegung des Streikrechts von Spartengewerkschaften eignen könnte (BT-Drs. 18/4062, S. 12). Im Anschluss daran hatten gerade auch arbeitnehmernahe Kritiker des Gesetzes mögliche Restriktionen für das Streikrecht ausgemalt, um die Last der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung zu erhöhen. Diese Strategie war nicht ohne Risiko, schließlich hätte der Senat dieser restriktiven Lesart folgen und die Regelung gleichwohl passieren lassen können.
Der Senat hat sich indessen der Beurteilung durch den Bund der Richterinnen und Richter der Arbeitsgerichtsbarkeit (referiert in Rz. 89) angeschlossen. Tatsächlich schließt es das Gesetz aus, dass die Mehrheitsverhältnisse während eines laufenden Arbeitskampfes förmlich überprüft werden. Unverhältnismäßig werden Arbeitskämpfe ebenfalls nicht. Denn gerade im Zuge von Arbeitskämpfen können sich Mehrheitsverhältnisse verändern. Schließlich macht das Recht zur Nachzeichnung, das eben nur einer tariffierenden Gewerkschaft zusteht, einen Streik auch noch der kleinsten Minderheitsgewerkschaft verhältnismäßig.
2. Restriktion der Verdrängungswirkung
Verfassungsrechtlich inakzeptabel, weil gerade auch aus normsetzungstheoretischer Perspektive viel zu weitgehend war die Regelung in § 4 a II TVG, nach der die Überschneidung von Regelungsgegenständen bei gleichem Geltungsbereich konkurrierender Tarifverträge zur Verdrängung sämtlicher Tarifverträge der Minderheitsgewerkschaft führen sollte. So sollte eine Tarifkollision im Betrieb, das heißt das Bestehen inhaltlich abweichender Regelungen für gleiche Arbeitsverhältnisse, letztlich zu einem Verlust der Tarifzuständigkeit von Rechts wegen führen. Erforderlich war diese Regelung sicher nicht.
Leider hat sich der Senat dagegen entschieden, das Gesetz hieran scheitern zu lassen. Zum Ausgleich korrigiert er aber grundlegend (Rz. 180 ff.): Tarifverträge zu anderen Gegenständen als denen, für die abweichende Regelungen bestehen, sind von der Verdrängung nur erfasst, wenn anzunehmen ist, dass die Nichtregelung der anderen Gegenstände im verdrängenden Tarifvertrag zum Verhandlungspaket gehörte. Dies wird wohl immer zu verneinen sein, sofern der Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft nicht explizit entsprechende Verzichte aufnimmt.
Diese grundlegende Korrektur hat der Senat als zwingende verfassungskonforme Lesart vorgestellt. So kann man festhalten: eine Verdrängung anderer Tarifverträge als derjenigen, die inhaltlich abweichende Regelungen enthalten, findet nicht statt. Der zusätzliche Schutz, den der Senat für Tarifverträge etwa zu Altersvorsorge oder Arbeitsplatzgarantie vorsieht (Rz. 187 f.), ist vor diesem Hintergrund wahrscheinlich überflüssig. Keine Mehrheitsgewerkschaft, die bei Sinnen ist, wird explizit einen Verzicht auf solche Ansprüche in ihre Verhandlungspakete einstellen.
3. Offenbarung der Mitgliederstärke
Die gravierendste Festlegung enthält das Mehrheitsvotum mit Blick auf das Verfahren zur Feststellung der Mitgliederzahlen. Tatsächlich hätte das Gesetz hieran scheitern müssen. Denn es ist kein Verfahren geregelt, mit dem die Mehrheitsverhältnisse verlässlich und doch ohne Offenlegung der absoluten Zahlen festgestellt werden könnten. Das Gesetz geht davon aus, dass über die Mitgliederzahlen Beweis durch öffentliche Urkunden geführt werden könnte. Doch es ist völlig unklar, wie das gehen soll: Was soll ein Notar denn beurkunden? Die Anzahl der Namen auf einer Mitgliederliste? Die Notarkammer hat im Verfahren entsprechende Warnungen ausgesprochen, doch die waren dem Senat gleichgültig.
Der Senat meint letztlich: wenn es nicht anders geht, werden die Mitgliederzahlen eben transparent (Rz. 199). Das Sondervotum stellt sich zu Recht auf den entgegengesetzten Standpunkt (Sondervotum, Rz. 20).
Es ist bis heute unverständlich, wie Gewerkschaften dem Gesetz ihre Unterstützung geben konnten, ohne dass diese für ihre Interessen vitale Frage rechtssicher geregelt ist. Sofern es in der Zukunft tatsächlich zu Verfahren zur Feststellung einer Verdrängungswirkung kommt, wird es darauf ankommen, die Arbeitsgerichte davon zu überzeugen, dass jedenfalls im Beschlussverfahren eine zuverlässige Feststellung der Mehrheitsverhältnisse ohne Offenlegung der absoluten Zahlen möglich ist.
4. Verdrängung ipso iure versus konstitutives Beschlussverfahren
Der Gesetzgeber hatte sich dagegen entschieden, die Feststellung einer Verdrängung nach § 4a TVG den gleichen Verfahrensregeln zu unterstellen wie die Feststellung der Tariffähigkeit einer Gewerkschaft (BT-Drs. 18/4062, S. 16). Die Tariffähigkeit wird konstitutiv im Beschlussverfahren festgestellt, die Feststellung von Tarifunfähigkeit wirkt ex tunc und das Verfahren kann aus dem Individualrechtsstreit heraus eingeleitet werden. Hinsichtlich der Verdrängungswirkung hat sich der Gesetzgeber ausdrücklich nur gegen die Einleitung des Beschlussverfahrens durch Individualparteien ausgesprochen. Nicht beantwortet hat er die Frage, ob es gleichwohl bei der konstitutiven Wirkung des Beschlussverfahrens bleiben soll.
Der Senat hat das verneint und eine Wirkung ipso iure angenommen (Rz. 175 f.). So soll die Verdrängung auch im Individualrechtsstreit zum Thema werden können. Das eröffnet die Möglichkeit, dass im einen Rechtsstreit der eine, im anderen der andere Tarifvertrag verdrängt angesehen wird, mit anderen Worten: die Möglichkeit zu divergierenden Entscheidungen über das anzuwendende Recht. Das ist unter dem Rechtsstaatsprinzip eigentlich nicht tragbar. Darum ist die Lesart einer Wirkung ipso iure schlicht falsch. Die Arbeitsgerichte werden ihr hoffentlich nicht folgen.
Die Gefahr divergierender Urteile ist freilich nicht so groß, wie man meinen könnte (und die Minderheit augenscheinlich auch meint, Sondervotum, Rz. 17). Wer die ipso-iure-Verdrängungswirkung im Individualrechtsstreit geltend machen wollte, muss – nach der verfehlten Konzeption des Gesetzgebers – die Mehrheitsverhältnisse beweisen. Jenseits offensichtlicher Fälle, die sich anders als auf der Basis von Mitgliederlisten vergleichen lassen, wird das nicht möglich sein. In der Folge sind beide Tarifverträge als wirksam zu behandeln. Die Wirkung mag also ipso iure eintreten, aber sie wird im Regelfall außerhalb des Beschlussverfahrens nicht festgestellt werden können.
5. Tarifdispositivität
Methodisch eigenwillig behandelt der Senat die Frage der Tarifdispositivität von § 4a TVG. Er hält eine Auslegung der Regelung als tarifdispositiv für möglich. § 4a TVG kann also möglicherweise abbedungen werden durch einen Grundlagentarifvertrag, den sowohl der Arbeitgeber, als auch die konkurrierenden Gewerkschaften unterzeichnen. Entgegen der Auffassung des früheren BAG-Senatsvorsitzenden Bepler soll diese Auslegung verfassungsrechtlich jedoch nicht zwingend sein. Allerdings müssen die Arbeitsgerichte, wenn sie tarifliche Abdingbarkeit verneinen wollen, an anderer Stelle Ausgleich schaffen, um die Zumutbarkeit der Regelung insgesamt zu sichern. Das werden sich die Arbeitsgerichte nicht antun. Freilich ist festzuhalten: Kein Auslegungsaspekt deutet auf Tarifdispositivität. Es gibt insbesondere keinerlei Anhaltspunkte, dass der Gesetzgeber den Anreiz gegen die Störung der Verteilungsfunktion in die Hände der konkurrierenden Gewerkschaften legen wollte. Eine Behauptung, genau hierin läge eine tragende Grundrechtsverletzung, ist vor dem Hintergrund einer normsetzungstheoretischen Erläuterung der Tarifautonomie wenig überzeugend.
6. Neuregelungsauftrag: Sicherstellung von Berufsgruppeninteressen
Den Atem stocken lässt der bis Ende 2018 zu erfüllende Neuregelungsauftrag (Rz. 200 ff.): Wenn es sich bei der Minderheitsgewerkschaft um eine Berufsgruppengewerkschaft handelt, dann kann die Mehrheitsgewerkschaft die Verdrängung nur bewirken, wenn sichergestellt ist, dass die Interessen der fraglichen Berufsgruppe in ihr hinreichend vertreten sind. Die den Arbeitsgerichten aufgegebene Übergangsregelung (Rz. 215) weist den Weg: Die Mehrheitsgewerkschaft muss entweder genug Mitglieder aus dieser Berufsgruppe vorweisen (mutmaßlich wieder mit öffentlicher Urkunde zu beweisen?) oder aber sie muss der Berufsgruppe in der Satzung spezielle Mitspracherechte einräumen. Letztere Anforderung wird wohl keine Minderheitsgewerkschaft erfüllen wollen. Erstere Anforderung wird zu besonders munteren Abwerbekampagnen führen.
Die Maßgabe des Senats ist aber auch in der Sache abwegig. Das Tarifeinheitsgesetz ist kein Gesetz gegen Berufsgruppengewerkschaften, sondern ein Gesetz zur Förderung der Einheit im Tarifvertragssystem. Die gerät nicht nur durch Berufsgruppengewerkschaften, sondern auch durch Richtungsgewerkschaften oder Uneinigkeit von DGB-Gewerkschaften unter Druck. Für den Fall der Berufsgruppengewerkschaften soll es nun nach Meinung des Senats eine Sonderregelung geben, die auf der Vermutung basiert, dass die Existenz dieser Gewerkschaft eine Folge mangelnder Repräsentation legitimer Interessen darstellt. Das ist zunächst eine interessante industriesoziologische Hypothese, wobei der Maßstab der Legitimität erst noch auszubuchstabieren wäre. Es ist nicht im Ansatz nachvollziehbar, aus dieser unfertigen Hypothese rechtliche Anforderungen an Mitgliederbestand oder innere Verfassung einer Mehrheitsgewerkschaft abzuleiten. Zudem steht dieser Strang in diametralem Gegensatz dazu, dass der Senat gerade die gegenteilige Hypothese des Gesetzgebers, der die egoistische Ausnutzung von Schlüsselpositionen befürchtet, nicht nur anerkannt, sondern zum Angelpunkt der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung gemacht hat.
VI. Schluss
Die Bearbeitung des Neuregelungsauftrags wäre freilich eine gute Gelegenheit, das Tarifeinheitsgesetz politisch zu kassieren. Wahrscheinlich ist das nicht. Zu befürchten ist eher, dass im Zuge der Neuregelung wieder diejenigen Stimmen sehr laut werden, die schon lange für eine Begrenzung des Streikrechts in der „Daseinsvorsorge“ werben und dabei eine Stagnation der Löhne von Krankenpflegerinnen, Erziehern und Müllleuten geflissentlich in Kauf nehmen.
Die Normsetzungsthorie, die die Autoren unterstützen, zwingt aber doch am Ende geradezu die Folgerung auf, dass nur eine Einheitsgewerkschaft (und zwar für alle Branchen, um Abgrenzungsschwierigkeiten untereinander zu vermeiden) dies erfüllen kann.
Einheitsgewerkschaften haben sich aber nun in der historischen Realität nicht unbedingt als besonders zuverlässige Wahrer der Arbeitnehmerrechte erwiesen. Insofern scheinen mir verschiedene Kautelen, wie sie das BVerfG eingebaut hat, durchaus sinnvoll.
Achso, fast vergessen:
Ich hatte das Erfordernis des Nachweises der Mehrmitgliederzahl durch öffentliche Urkunden zwanglos so verstanden, dass die konkurrierenden Gewerkschaften A und B demselben Notar jeweils eine Mitgliederliste einreichen, der diese dann nichtöffentlich vergleicht und eine Urkunde erstellt, die sagt: Die Mitgliederzahl von Gewerkschaft A im Betrieb X ist größer als die von Gewerkschaft B.
Scheint mir auch immer noch plausibel. Gibt es da etwas, was dagegen spricht.
@adonis – die Einheitsgewerkschaft wollen die Autoren ja anscheinend selbst nicht. Es sind ja auch konsensuale Verfahren zur Abstimmung denkbar oder halt der Weg, den das TEG verfolgt und den der Beitrag ja nur aus anderen Gründen kritisiert.
Zum Nachweis der Mitgliederzahlen: der Punkt scheint mir zu sein, dass das Gesetz ein solches Verfahren nicht festgelegt hat und so in Kauf nimmt, dass Gerichte die Offenlegung verlangen.
Interessant wäre auch eine Prognose, wie es mit dem Gesetz weitergeht.
Für den Gesetzgeber ist es ja keine besonders attraktive Materie, an die er da in der nächsten Legislatur nochmal ranmüsste; die Versuchung wird groß sein, das so zu kommunizieren, dass man nur die “zwingenden Vorgaben des BVerfG” umsetze. Und dann eine Minimallösung zu wählen, indem man vielleicht die Punkte zur “verfassungskonformen Auslegung” aufgreift (ganz liegenlassen wird man die Sache nicht können, nachdem das BVerfG offensichtlich schon bei dieser Entscheidung so viele Bauchschmerzen hatte).
Weitere Frage: lässt die Arbeitsgerichtsbarkeit sich das bieten? Es ist ja ziemlich offensichtlich, dass man dieser mit dem fehlenden Beschluss-Verfahren die Möglichkeit aus der Hand schlagen möchte, hier im Sinne der Rspr. von 2010 zu Lasten der Mehrheitsgewerkschaften effektiv zu agieren. Wie wird die vom BVerfG geforderte “verfassungskonforme Auslegung” hier aussehen, und führt sie vielleicht auch prozessual zu Möglichkeiten, die wir noch gar nicht kennen?
Aus Sicht der Spartengewerkschaften könnte man schließlich überlegen, ob man nicht zukünftig einfach mit dem Ziel streikt, dass alle Individual-Arbeitsverträge jeweils einzeln vom Arbeitgeber auf das Streikziel hin verändert werden müssen. Eine letztlich nicht völlig illegitime Überlegung.
Denn eigentlich würde die ganze Angelegenheit natürlich in die Regelung des Steikrechts gehören. Dass das politisch prekär ist und der Gesetzgeber es deswegen vermeiden möchte, ist genauso klar.
Soweit man das politische Interesse der Mehrheitsgewerkschaften, zum Beispiel wegen einer stärkeren Einbindung von Spartenberufen in die betriebliche Solidarität, trotzdem für legitim hält, ist der schwierige Umweg über die Tarifeinheit politisch wahrscheinlich tatsächlich realistischer.