Tausche Britannien gegen Schottland, oder: Volkssouveränität mal ganz anders
Angesichts eines möglichen EU-Austritts des Vereinigten Königreichs sollte eine Frage in den Fokus rücken, die sowohl im politischen als auch im rechtswissenschaftlichen Diskurs bislang keine große Rolle spielt: Was wird eigentlich aus den (Unions-) Bürgern? Mit Vollzug des Austritts leben Unionsbürger aus fremden Staaten, die sich in dem austretenden Staat niedergelassen haben, plötzlich außerhalb des Unionsgebiets, womit ihre Unionsbürgerrechte hier keine Geltung mehr finden. Umgekehrt mutieren die Bürger des Austrittsstaates im Verhältnis zu Rest-Union eo ipso zu Drittstaatsangehörigen, was zum Verlust des Unionsbürgerstatus überhaupt führt. Infolge der in Art. 20 Abs. 1 Abs. 2 AEUV angelegten Akzessorietät der Unionsbürgerschaft wäre die Loslösung eines Mitgliedstaats stets eine „bürgerschaftsvernichtende Loslösung“ (Lehner in: Niedobitek, Grundlagen der Union, 2014, § 2, Rn. 74). Diese ungeheuerliche Konsequenz ist weder theoretisch noch dogmatisch hinreichend reflektiert. Im Fall eines „Brexits“ wird sie sich aber unmittelbar stellen. Dies könnte Anlass sein, das Verhältnis zwischen nationaler (Volks-) Souveränität und den Rechten der Unionsbürger zu neu zu denken. Ist der Unionsbürger nicht am Ende (auch) ein Souverän?
Das neue europäische Gespenst: der „Brexit“
Nach seinem Sieg bei den Unterhauswahlen steht dem britischen Premierminister Cameron eine politisch hochriskante Abstimmung ins Haus. Das Referendum über den Verbleib in der EU, das 2016 oder 2017 stattfinden soll, schlägt in Großbritannien wie im übrigen Europa seine Wellen. Während britische Ökonomen debattieren (oder rätseln?), ob ein „Brexit“ eher Vor- oder Nachteile mit sich brächte, beeilte sich die deutsche Bundeskanzlerin kürzlich, eine grundsätzliche Offenheit gegenüber – auch Vertragsänderungen umfassenden – Reformen zum Ausdruck zu bringen. Werden die Briten aus Furcht vor ökonomischer Isolation am Ende ohnehin zugunsten eines Unionsverbleibs votieren? Dann wäre das Manöver Camerons aufgegangen; den Europaskeptikern könnte der Wille des Souveräns entgegengehalten werden, der UKIP wäre der Wind aus den Segeln genommen. Und womöglich wären die 27 übrigen Mitgliedstaaten auch bereit, den Briten Zugeständnisse in Richtung einer Bindungslockerung zu machen, etwa in Form einer alle Mitglieder betreffenden „Repatriierung“ unionaler Kompetenzen oder durch die Ermöglichung einer britischen Sonderlösung etwa in Hinblick auf Migration und Freizügigkeit (nichts scheint Britannien derzeit mehr zu bewegen). Roman Herzog meint schon, „dass da ‚etwas in der Luft liegt“ und sinnt auf „Großputz in manchen Hirnen“. Und anders als es zur Zeit den Anschein haben mag, könnte die Union zu radikalen Einschnitten bereit sein, zumal mit der Schweiz infolge der drohenden „Guillotinierung“ diverser bilateraler Abkommen ein weiterer (quasi)-mitgliedschaftlicher Aderlass droht. Möglicherweise wird die Union sich künftig verstärkt auf maßgeschneiderte Rechte-und-Pflichten-Modelle jenseits des Standardmodells der Vollmitgliedschaft einstellen müssen.
Art. 50 EUV: Die Völker sind (endlich) frei! Und die Bürger?
Komplex sind auch die rechtlichen Implikationen. Die Dogmatik der durch den Lissabonner Reformvertrag eingefügten Austrittsklausel (Art. 50 EUV) ist wenig erschlossen. Besondere Probleme ergeben sich aus Sicht der nationalen Souveränität einerseits, im Verhältnis zu den betroffenen Unionsbürgern andererseits. Einige der folgenden Gedanken habe ich bereits in einem Beitrag zur „Mitgliedschaft in der Union“ entwickelt (in: Niedobitek, a.a.O., Rn. 72 ff., 43 ff., 25 ff.). Sie scheinen zunehmend an Aktualität und Brisanz zu gewinnen. So ist fraglich, ob die im Fall des Nichtzustandekommens eines Austrittsabkommens als sog. „sunset clause“ vorgesehene automatische Loslösung vom Unionsverband (Art. 50 Abs. 3 Hs. 1 Var. 2 EUV: zwei Jahre nach förmlicher Mitteilung der Austrittsabsicht gem. Abs. 2), die den austrittswilligen Staat immerhin zwei Jahre gegen seinen erklärten Willen noch in der Union hält, mit der so hoch gepriesenen Souveränität der Mitgliedstaaten vereinbar ist. Die Schreckvorstellung vom „Völkergefängnis“, die die Union niemals sein wollte, wird nur halbherzig vertrieben. Andererseits – und deswegen ist der „zwangsweise“ Verbleib bis zum Sonnenuntergang zu rechtfertigen – brächte ein abrupter „Exit“ unlösbare Probleme in Hinblick auf die subjektiven Rechte und Positionen von Unionsbürgern mit sich. Die freien Völker können die Union verlassen. Ihre Unionsbürger sitzen aber im nationalen Bürgergefängnis fest, sie müssen mitgehen, ob sie wollen oder nicht. Als Folge der bisherigen Integration haben sie ja nicht selten ungeheuerliche Dinge getan: ihre Wohnsitze in andere Mitgliedstaaten verlegt, dort Beschäftigungen aufgenommen, binationale Ehen geschlossen, Familien gegründet. Vielleicht bleiben sie für immer (Man rief Marktbürger und es kamen Menschen). Unternehmen haben Investitionsentscheidungen getroffen, Kapital und Wissen in andere Mitgliedstaaten transferiert, all dies im Vertrauen darauf, dass Herkunfts- und Residenzstaaten dauerhaft in der Union bleiben, was sicher nicht damit abgetan werden kann, dass die Verträge ‚nur’ von einer Vertragsgeltung „auf unbegrenzte Zeit“ (Art. 53 EUV, 356 AEUV) sprechen und nicht, wie etwa im Fall des Deutschen Kaiserreichs (welches seiner Unauflöslichkeit zum Trotz vom „bayerischen Kronjuristen“ Max von Seydel zeitlebens konsequent als Staatenbund bezeichnet wurde), von einem „ewigen Bund“ (Präambel RV 1871, S. 1). Im Fall jahrzehntelanger Zugehörigkeit zur Union/Gemeinschaft dürfte es kaum angängig sein, einem rechtsstaatlich relevanten Vertrauenstatbestand den Einwand entgegenzuhalten, die Mitgliedschaft sei doch bekanntermaßen jederzeit frei widerruflich gewesen (so als handelte es sich um eine dem Fall des § 49 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwVfG vergleichbare Situation).
Der Fluch der Akzessorietät
Die mit diesen Rechtsverlusten einhergehenden gewaltigen Friktionen auszugleichen und abzufedern, ist im Übrigen die vorrangige Funktion eines Austrittsabkommens (Art. 50 Abs. 2 S. 2, 3 EUV). Falls ein Austrittsabkommen nicht zustande kommt, schafft die Zweijahresfrist für alle Beteiligten zumindest einen zeitlichen Puffer zur Umstellung. Konkret: Gesetzt den Fall, das Vereinigte Königreich tritt aus. Welche europarechtlichen Folgen ergäben sich für einen britischen Unionsbürger, der seit vielen Jahren in Deutschland lebt? Der Verlust seiner Unionsbürgerrechte hätte Auswirkungen auf seine Möglichkeiten, im Unionsgebiet grenzüberschreitenden Aktivitäten nachzugehen. Müsste dann der EuGH nicht so konsequent sein, die in der Rs. Zambrano aufgeworfene „Kernbestands“-Doktrin fortführen und sich zum Garanten der Statusrechte aufschwingen? In der Rs. Rottmann, in der es um die Entziehung der die Unionsbürgerschaft vermittelnden deutschen Staatsangehörigkeit ging, deren Erwerb im konkreten Fall auf Täuschung beruht hatte, mahnte der EuGH eine – wohlgemerkt unionsrechtliche –Verhältnismäßigkeitsprüfung an. Denn da der zwischenzeitliche Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit mit dem automatischen Verlust der früheren, österreichischen Staatsangehörigkeit einhergegangen war, drohte Herrn Rottmann der gänzliche Verlust exakt jenes ‚Mehr’ an Statusrechten, das nach der hübschen Formulierung des damaligen Generalanwalts Poiares Maduro das „Wunder der Unionsbürgerschaft“ ausmacht. Wahrt vor diesem Hintergrund nun aber die Loslösung eines Staates vom Unionsverband „hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die unionsrechtliche Stellung des Betroffenen [hier: der Verbleibwilligen] den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“ im Sinne der Rottmann-Entscheidung (Rn. 55)? Müsste man nicht am Ende gar zum Schutze der grenzüberschreitend aktiven Briten über eine Kappung der Akzessorietät der Unionsbürgerschaft nachdenken? Müsste die Unionsrechtsordnung den Bürgern, denen schlicht der die akzessorischen Rechte vermittelnde Staat abhanden gekommen ist, den Bürgerstatus belassen? Und ließe sich dies mit der Souveränität Großbritanniens vereinbaren?
Unionsbürgerschaft und politische Selbstbestimmung
Schließlich: Wie stünde es mit den politischen Rechten, die die Union gewährt? Die Gesamtheit aller Unionsbürger bildet die demokratische Basis für den unionalen Legitimationsstrang (Art. 10 Abs. 2 EUV), den einige Autoren sogar für prioritär halten. Es dürfte jedenfalls kaum noch ernsthaft zu bestreiten sein, dass die Gesamtheit aller Unionsbürger ebenso Legitimationssubjekt unionaler Herrschaftsgewalt ist, wie es die einzelnen Völker sind. Vorzüglich hat Winfried Kluth bereits 1994 in seiner argumentationsstarken Kölner Dissertation „Die demokratische Legitimation der Europäischen Union“ herausgearbeitet, dass die „Verwirklichungsbedingungen der Demokratie“ auf die Unionsbürger durchaus übertragbar sind (S. 30 ff., insb. 42 f.). Utz Schliesky hat in seiner fulminanten Kieler Habilitationsschrift „Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt“ aus dem Jahr 2003 die einzelnen Bürger als „Ausgangspunkt der Pluralität von Legitmationssubjekten“ (S. 682) vorgeschlagen und aus dem zunächst naheliegenden und vom BVerfG in der Lissabon-Entscheidung aufgegriffenen Gedanken der Verankerung politischer Selbstbestimmung in der Menschenwürde den kühnen Schluss gezogen, wonach die Unionsbürgerschaft die „rechtliche Konstituierung […] des Legitimationszusammenschlusses“ (S. 690) leiste, welcher genauso zum demos tauge wie der Legitimationszusammenschluss Volk bezogen auf den Staat. Abgesehen davon, dass diese Sichtweise kumulative Demokratievermittlung in Europa zulässt, mithin der Schichtung der politischen Sphäre in Primär- und Sekundärräume entgegensteht, wirft sie grundlegende Fragen in Bezug auf das Subjekt auf, welches möglicherweise – wenn auch partielle – ‚Volkssouveränität’ besitzt.
Individualisierung und Entstaatlichung des demos führen aber zur Frage der Exkludierbarkeit aus dem Legitimationskörper. Denn der mehrheitliche Wille eines Mitgliedsstaatsvolks brächte unweigerlich das Ausscheiden aller betroffenen Bürger aus dem Legitimationsverband mit sich. Dies mag man als Folge demokratischer Mehrheitsentscheidung für verkraftbar halten. Der Verlust an demokratischer Mitgestaltungsmacht erwiese sich als Ausfluss der (nationalen) Volkssouveränität. Wenn aber etwa die Schotten mehrheitlich in der Union bleiben wollten, wäre dies unter Selbstbestimmungsgesichtspunkten unter Umständen relevant. Hier ist ein ganz heikler Punkt angeschnitten. Womöglich war das Unabhängigkeitsreferendum der Schotten 2014 nur ein Vorgeschmack auf das, was dem Königreich im Fall eines Abstimmungssiegs der austrittswilligen Briten bevorstehen könnte. Die Schotten könnten dies zum Anlass nehmen, neuerlich einen Austritt aus dem Königreich zu erwägen, um in der Union „bleiben“ zu können, was rechtlich freilich einen – möglicherweise verfahrensmäßig beschleunigten – (Neu)-Beitritt über Art. 49 EUV voraussetzte. Im Fall eines vorhergehenden „Brexits“ wäre eine britische Zustimmung keine Beitrittsvoraussetzung mehr. Wäre Klein-Britannien am Ende der Preis für einen britischen Austritt? Die Zustimmung zum Beitritt ist ja auch das einzige Druckmittel, das Spanien hat, um Katalonien zur Erfüllung seiner (gerade erst bestärkten) Verfassungspflicht – Verbleib im spanischen Staatsverband – zu zwingen. Die Kommission hat bereits erkennen lassen, was sie von der kühnen These Barcelonas hält, Katalonien sei bereits in der Union und müsse daher im Unabhängigkeitsfall nicht „erneut“ beitreten: gar nichts. Ein Staat Katalonien wäre grundsätzlich zu behandeln wie jeder andere Beitrittskandidat, denn Katalonien ist nur als Teil Spaniens in der Union, dieses behielte allein die Mitgliedschaftsrechte, wenn Katalonien sich verselbständigte. Eine Befassung mit einem katalanischen Beitrittsgesuch seitens der Union setzte aus europarechtlicher Sicht freilich voraus, dass die damit einhergehende Anerkennung souveräner katalanischer Staatlichkeit durch die Union nicht eine Missachtung der nationalen Identität des Mitglieds Spanien iSd Art. 4 Abs. 2 EUV bedeutete, was bei fehlendem „Einverständnis“ Spaniens wohl kaum zu bestreiten wäre.
Der Unionsbürger: ein Souverän?
Womöglich wäre all dies Anlass über eine eigenständige europarechtliche Souveränitätsdimension nachzudenken. In diese Richtung argumentiert bereits Schliesky unter dem Rubrum „gemeinsamer“ Souveränität von EU und Staaten (aaO, S. 529 ff.). Dieses Konzept lässt indes viele Fragen offen, u.a. ob und unter welchen Bedingungen ein (einseitiges) Ausscheiden aus der Gemeinsamkeit angängig wäre und in welchem Verhältnis die gemeinsamen Souveränitätsträger stehen sollen. So wäre zu fragen, ob angesichts der kaum bestreitbaren Vertragsherrschaft der Mitgliedstaaten nicht von einem – wenn auch nicht unbedingten – Souveränitätsvorrang der Staaten ausgegangen werden muss. Die Souveränität der Unionsbürger kommt jedenfalls darin zum Ausdruck, dass Unionsgewalt nur durch sie legitimiert werden kann und umgekehrt die Unionsrechtsordnung schon heute zu einem weitgehenden Schutz der unionsbürgerlichen Rechte berufen ist. Sollte da nicht die Frage nach der staatlichen Mitgliedschaft irgendwann in den Hintergrund treten? Hinter der staatlichen Souveränität steht bekanntlich die Souveränität des Volkes. Wenn die Souveränität der Mitgliedstaaten der Union infolge des Selbststandes der Unionsbürgerrechte zu relativieren sein sollte, wäre es dann nicht an der Zeit, eine ‚Bürgersouveränität’ anzuerkennen, die – frei nach Art. 20 Abs. 1 S. 3 AEUV – zu den nationalen Souveränitäten hinzutritt, sie aber nicht ersetzt? Kurzum: Wer einmal Bürger der Union ist, sollte dies auch bleiben dürfen. Vielleicht wird Großbritannien gehen und Schottland kommen. Am Ende sollten deren Bürger im Einzelfall Unionsbürger bleiben dürfen, wenn sie dies denn wollen.
Coole Idee. Die Staaten treten aus, die Bürger bleiben in der EU. Unionsrecht bleibt dann also auch nach dem BREXIT in England gültig, mit Vorrang vor dem nationalen Recht? Und was genau ändert sich? Nur, dass die Engländer im Ministerrat nicht mehr stimmberechtigt sind oder habe ich etwas überlesen?