06 July 2018

Tertium datur – causa finita? Zum Dritten Geschlecht in Österreich

Nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom Oktober 2017 hat nun auch der österreichische Verfassungsgerichtshof erkannt, dass intergeschlechtliche Menschen das Recht auf eine adäquate, ihrer Geschlechtsidentität entsprechende Bezeichnung im Personenstandsregister haben. Um dieses Recht zu verwirklichen, bedarf es keiner Aufhebung bestehender gesetzlicher Bestimmungen: Das entsprechende Ergebnis kann (und muss) vielmehr bereits durch verfassungskonforme Auslegung des österreichischen Personenstandsgesetzes erreicht werden. Maßgebliche Richtschnur dafür ist das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK. In Österreich gelten die grundrechtlichen Bestimmungen der EMRK als verfassungsgesetzlich gewährleistete subjektive Rechte, deren Verletzung vor dem Verfassungsgerichtshof geltend gemacht werden kann. Mit Blick auf die Rechtsstellung intergeschlechtlicher Personen ergibt sich für den Verfassungsgerichthof aus Art. 8 Abs. 1 EMRK folgendes: Intergeschlechtliche Menschen dürfen erstens nicht gezwungen werden, die Begriffe „männlich“ oder „weiblich“ als personenstandsrechtliche Bezeichnungen für ihre Geschlechtszugehörigkeit zu verwenden. Zweitens hat die Personenstandsbehörde auf Antrag einer intergeschlechtlichen Person einen geeigneten Begriff zur Bezeichnung des Geschlechts einzutragen. Und drittens müssen intergeschlechtliche Personen die Möglichkeit haben, ihr Geschlecht nicht anzugeben oder eine einmal erfolgte Geschlechtsangabe ersatzlos löschen zu lassen.

Prüfung von Amts wegen

Anlass zur Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs gab die Beschwerde einer intergeschlechtlich lebenden Person, die beantragt hatte, ihren auf „männlich“ lautenden Personenstand auf „inter“, „anders“, „X“ oder „unbestimmt“ zu ändern. Sowohl die zuständige Personenstandsbehörde wie auch das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich hatten den Antrag abgewiesen. Bei der Behandlung der Beschwerde gegen das abweisende landesverwaltungsgerichtliche Erkenntnis entstanden im Verfassungsgerichtshof Bedenken hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit des § 2 Abs. 2 Ziffer 3 PStG 2013. Diese Bestimmung zählt zu den allgemeinen, in das Zentrale Personenstandsregister einzutragenden Personenstandsdaten einer Person auch das „Geschlecht“. Der Verfassungsgerichtshof hat § 2 Abs. 2 Ziffer 3 PStG 2013 daher von Amts wegen auf seine Verfassungsmäßigkeit im Hinblick auf das durch Art. 8 Abs. 1 EMRK gewährleistete Recht auf Anerkennung der eigenen Geschlechtsidentität geprüft.

Geschlechtseintrag muss individuelle Geschlechtsidentität reflektieren

In der Rechtsprechung des EGMR spielt das Recht auf Anerkennung der individuellen Geschlechtsidentität nach Art. 8 Abs. 1 EMRK vor allem im Zusammenhang mit der staatlichen Anerkennung von Trans*Personen eine Rolle (grundlegend hier). Rechtsfragen im Zusammenhang mit Intergeschlechtlichkeit haben die Straßburger Instanzen bislang (noch) nicht beschäftigt. Konsequenterweise muss das Recht auf Anerkennung der individuellen Geschlechtsidentität aber ebenso für intergeschlechtliche Personen gelten. Davon geht auch der Verfassungsgerichtshof aus. Er leitet aus Art. 8 Abs. 1 EMRK für intergeschlechtliche Personen das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht ab, nur jene Geschlechtszuschreibungen akzeptieren zu müssen, die ihrer Geschlechtsidentität entsprechen. Für die Gesetzgebung statuiert Art. 8 Abs. 1 EMRK eine Gewährleistungspflicht: Sie muss sicherstellen, dass intergeschlechtlichen Menschen die selbstbestimmte Festlegung der Geschlechtsidentität tatsächlich möglich ist. Die österreichische Verfassungsordnung verlangt keine Aufnahme des Geschlechtseintrags in das Personenstandsregister. Die Gesetzgebung kann daher auf den Eintrag des Geschlechts auch verzichten – verlangt sie einen Geschlechtseintrag, so hat sie zwischen den Interessen der*des Einzelnen und jenen der Gesellschaft (soweit sie in Art. 8 Abs. 2 EMRK verankert sind) einen angemessenen Ausgleich herbeizuführen. Bei der Wahrung des Rechts auf individuelle Geschlechtsidentität spielt das Personenstandsrecht eine besonders wichtige Rolle: Zwar dient das Personenstandsrecht auch als Anknüpfungspunkt für eine Reihe von Rechtsfolgen, die wesentlichste Bedeutung dieses Rechtsgebiets liegt jedoch nach Ansicht des Verfassungsgerichtshofs in seiner identitätsstiftenden Wirkung.

Tertium datur

Daraus schließt der Verfassungsgerichtshof, dass die Beschränkung auf einen binären Geschlechtseintrag den Anforderungen der Verhältnismäßigkeit nicht entspricht. Es besteht kein Grund, das Recht auf individuelle Geschlechtsidentität auf lediglich zwei Varianten zu beschränken. Auch wenn die Anerkennung einer adäquaten Geschlechtsbezeichnung für Intergeschlechtliche (möglicherweise) die Anpassung von Rechtsnormen notwendig macht, können die damit allenfalls verbundenen Schwierigkeiten die Interessen intergeschlechtlicher Menschen auf Anerkennung ihrer geschlechtlichen Identität nicht überwiegen. Tatsächlich knüpfen ohnehin nur mehr wenige Normen der österreichischen Rechtsordnung an eine bestimmte Geschlechtszugehörigkeit je unterschiedliche Rechtsfolgen (dazu auch hier). Die überwiegende Zahl der Normen, die den Begriff „Geschlecht“ verwendet, tut dies in antidiskrimininatorischer Absicht. § 2 Abs. 2 Ziffer 2 PStG 2013 gebraucht den Begriff zwar ohne die Intention, vor geschlechtsbedingter Diskriminierung zu schützen. Allerdings bezieht sich die Norm auch nicht auf bestimmte – vor allem nicht auf rein binäre – Geschlechtsbezeichnungen. An diese Offenheit knüpft der Verfassungsgerichtshof an: Da § 2 Abs. 2 Ziffer 3 PStG 2013 den Begriff Geschlecht ganz allgemein verwendet, kann er problemlos auch alternative Geschlechtsidentitäten einschließen. Eine verfassungskonforme – insbesondere EMRK-konforme – Interpretation der Norm ist also möglich und geboten, eine Aufhebung der gegenständlichen Bestimmung ist damit nicht nötig. Die Pflicht zu einer am Recht auf individuelle Geschlechtsidentität ausgerichteten Interpretation erstreckt der Verfassungsgerichtshof auch auf die verfahrensrechtlichen Vorschriften zur Berichtigung und zur Änderung, zur (vorläufigen) unvollständigen Vornahme und zur (späteren) Ergänzung des Personenstandes. Empfindet sich eine intergeschlechtliche Person als „weiblich“ oder „männlich“, ist diesem Empfinden ebenfalls beim Geschlechtseintrag Rechnung zu tragen. Dadurch soll die Möglichkeit der selbstbestimmten Ausübung des Rechts auf individuelle Geschlechtsidentität garantiert werden.

(Nur) Freiheit oder (auch) Gleichheit?

Der Verfassungsgerichtshof betrachtet die Frage nach der Rechtsstellung intergeschlechtlicher Menschen ausschließlich unter dem Gesichtspunkt des Rechts auf Achtung des Privatlebens. Die Anerkennung der individuellen Geschlechtsidentität wird damit allein als Aspekt des in Art. 8 EMRK gewährleisteten Freiheitsrechts verhandelt. Was dagegen unberücksichtigt bleibt, ist die gleichheitsrechtliche Dimension: Der Verfassungsgerichtshof bezieht weder den Gleichheitsgrundsatz nach Art. 7 Abs. 1 B-VG noch das akzessorische Diskriminierungsverbot nach Art. 14 EMRK in seine Überlegungen mit ein. Damit vergibt sich der Verfassungsgerichtshof – anders als das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss zur dritten Option (eingehend dazu hier) – die Möglichkeit klarzustellen, dass die unrichtige fremdbestimmte Zuschreibung einer Geschlechtskategorie (auch) diskriminierend ist bzw. dass Art. 7 Abs. 1 B-VG selbstverständlich auch intergeschlechtliche Menschen vor einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts schützt.

Alle Macht der Vollziehung?

Einmal mehr zeigt sich: Bestand und Ausgestaltung von LGBTI*-Rechten in Österreich sind weitgehend das Verdienst höchstgerichtlicher Rechtsprechung und nur zu einem sehr geringen Teil auf ein Tätigwerden der Gesetzgebung zurückzuführen. Angesichts der gesetzgeberischen Unwilligkeit, LGBTI*-Rechte entsprechend menschenrechtlicher Vorgaben zu gewährleisten, ist das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs nicht nur als erfreulich, sondern auch als strategisch klug zu bezeichnen. Da die in Prüfung gezogenen Bestimmungen nicht aufgehoben wurden, sondern vielmehr ihre verfassungskonforme Interpretation geboten ist, bedarf es zur Anerkennung des Personenstandes intergeschlechtlicher Menschen keines (unmittelbaren) Tätigwerdens der Gesetzgebung. Dass es die Gesetzgebung vor allem hinsichtlich der Rechte von Trans*Personen und intergeschlechtlichen Menschen bislang vermieden hat, in einen Dialog einzutreten, führt zu Unklarheiten. So hat sich der Verfassungsgerichtshof nicht auf eine bestimmte Geschlechtsbezeichnung für intergeschlechtliche Personen festgelegt. Stattdessen verweist er auf den Sprachgebrauch und insbesondere auf eine Stellungnahme der österreichischen Bioethikkommission. Sie nennt etwa die Begriffe „divers“, „inter“ oder „offen“. Der Gesetzgebung stehe es jedoch frei, eine konkrete Bezeichnung für Intergeschlechtliche festzulegen. Auch wenn sie dies nicht tut, verlangt Art. 8 EMRK nach Ansicht des Verfassungsgerichtshofs keine beliebige Wahl der (eigenen) Geschlechtsbezeichnung: Die Personenstandsbehörden könnten dann die Adäquanz der beantragten Geschlechtsbezeichnung prüfen. Wie sie das tun sollen, bleibt allerdings ebenso offen, wie die Frage, wie die Personenstandsbehörden beurteilen, ob die Voraussetzungen für eine entsprechende Geschlechtsbezeichnung vorliegen. Der Verfassungsgerichtshof räumt die dritte Option „Menschen mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung gegenüber männlich oder weiblich“ ein (kritisch zur deckungsgleichen Einschränkung des Bundesverfassungsgerichts siehe hier). Wie der Nachweis einer solchen Variante der Geschlechtsentwicklung zu erbringen ist, sagt der Verfassungsgerichtshof nicht. Unklar ist etwa, ob die für die Änderung des Geschlechtseintrags bei Trans*Personen entwickelten Kriterien – gegebenenfalls analog – Anwendung finden sollen. Im Zusammenhang mit diesen Kriterien hat sich gezeigt, dass das Fehlen einer gesetzlichen Positivierung zu einer – je nach Bundesland – unterschiedlichen Verwaltungspraxis führen kann. In grundrechtssensiblen Bereichen wirken sich derartige Ambivalenzen stets zu Lasten der Betroffenen aus.

Die Verfassungsgerichtsbarkeit stellt ein wichtiges und unverzichtbares Instrument zum Schutz von Minderheitenrechten dar. Gerade dort, wo besonders schutzbedürftige Personengruppen betroffen sind, darf sie vor allem aus rechtsstaatlichen Erwägungen aber nicht zur „Ausrede“ für gesetzgeberische Untätigkeit werden.


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